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Jimmy Spider – Folge 28

Jimmy Spider und das geheime Schloss

Manchmal frage ich mich wirklich, welche Kriterien die TCA eigentlich anwendet, um neue Mitarbeiter anzuwerben. Von latent inkompetenten Dummschwätzern wie Steven McLaughington (der sich allerdings in letzter Zeit etwas gebessert hat) über chronisch unfreundliche Personalchefs wie Damien Arias bis hin zu sadistischen Killerkommandos wie die Elitetruppe um Commander Rathbone hatte ich schon fast alles erlebt. Eigentlich müsste ich da über die fragwürdigen Qualitäten der TCA-Hubschrauberpiloten nicht überrascht sein. Eigentlich …

Unser freundlicher Flugkapitän hatte es nämlich geschafft, auf einer fast lichten Alpenwiese den einzigen Baum in gut fünfhundert Metern Umkreis frontal zu rammen. Zu unserem Glück war der Absturz aber nicht allzu tief gewesen, dennoch war es dem Piloten immerhin gelungen, den Hubschrauber auf den abgeknickten Rotoren liegend zum Stehen zu bringen.

Ein Wunder, dass wir allesamt unverletzt geblieben waren. Selbst mein Einsatzkoffer hatte es unbeschadet überstanden.

Wir – das waren Tanja Berner, der wiedergenesene Dave Logger und meine Wenigkeit. Und natürlich der Musterpilot, der versprochen hatte, bei seinem waidwunden Vogel zu warten.

Mit etwas wackligen Beinen näherten wir uns dem Feldlager der deutschen Polizei.

Hans Olo, besser gesagt die mehr oder minder geheime BKA-Abteilung, für die er arbeitete, hatte das TCA mal wieder um Hilfe gebeten. Es ging zunächst einmal um das Verschwinden einer vierköpfigen Wandergruppe (dieses Völkchen schien in diesem Land gefährlich zu leben), deren letzter Aufenthaltsort dank einer Handyortung auf dieses Gebiet eingegrenzt werden konnte. Allerdings war die Bergrettungscrew ebenfalls verschwunden. Lediglich ihr verlassener Helikopter konnte gefunden werden. Schließlich hatte sich auch die Polizei in die Sache eingeschaltet – was dazu geführt hatte, dass die Region Oberallgäu ein ganzes Sondereinsatzkommando verloren hatte. Wobei verloren das richtige Wort war, denn diese Leute waren spurlos verschwunden. Oder zumindest fast.

Eine kleine Spur hatte es gegeben: ein Eingang in eine dunkle Höhle. Und da dunkle Höhlen meist ein paar unangenehme Überraschungen beherbergen (oder die örtliche Polizei einfach überfordert war), hatte das BKA die TCA um Unterstützung gebeten. Warum wir allerdings gleich zu dritt nach Deutschland hatten reisen müssen, blieb mir schleierhaft. Der Kommentar meines Chefs zu meiner Frage hatte lediglich aus einem mitleidig auf mich gerichteten Blick bestanden.

Auch meine letzten Fälle hatten mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, wie etwa meine nächtliche Begegnung mit dem Sammler. Mein Chef hatte danach versucht, die von mir gefundene Visitenkarte sofort wieder abzunehmen, was ich allerdings verhindert hatte. Was das Emblem darauf zu bedeuten hatte, wusste ich ebenso wenig wie den Namen meines neuen Freundes. Zuletzt hatte ich im Kampf gegen eine Horde rachsüchtiger Kobolde einen neuen Hinweis auf das geheimnisumwitterte House B der TCA erhalten (und einen Tipp hinsichtlich mexikanischer Spezialitäten).

Doch die vergangenen Fälle waren im Moment unwichtig. Immer näher kamen wir dem Eingang der Höhle. Das obere Ende der Öffnung erinnerte mich an das Überbleibsel eines bogenförmigen Tores. Möglicherweise war die Höhle nicht immer eine Höhle gewesen. Aber ob Höhle oder nicht Höhle, um die Höhle drehte sich hier alles.

Bevor wir den mit rot-weißem Absperrband gekennzeichneten Höhleneingang erreichen konnten, erschien wie aus dem Nichts Hans Olo vor uns. An seiner Körperfülle hatte sich nichts geändert, aber seine übliche Kleidung war einer wetterfesten Wanderjacke mit dazu passender Hose und standfesterem Schuhwerk gewichen. Über seinen Kopf hatte er sich eine braune Strickmütze gezogen.

»Herzlich willkommen in der schönsten Region Deutschlands«, begrüßte er uns ein wenig sarkastisch. »In dieser Landschaft kann man sich wirklich verlieren.«

Danach schüttelte er jedem von uns die Hände. Ich war ihm noch gut in Erinnerung geblieben, deswegen blieb er mir gegenüber gleich beim vertrauten Du.

»Warum hast du eigentlich gleich die ganze Kompanie mitgebracht?«, fragte er mich verwundert.

»Ich dachte, das könntest du mir sagen.«

Olo zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Eigentlich hatte ich nur mit dir gerechnet, aber irgendetwas scheint deine Vorgesetzten in Panik versetzt zu haben.«

»Hast du einen Verdacht, was das gewesen sein könnte?«

»Keinen konkreten. Außer den Verschwundenen und dieser Höhle gibt es eigentlich nichts Besonderes zu berichten. Meine Mitarbeiter haben hier zwar ein Lager eingerichtet, aber etwas herausgefunden haben wir noch nicht. Außer, dass diese Höhle ziemlich groß sein muss. Das haben die Messungen unserer Experten ergeben.«

Nun mischte sich auch Dave Logger in unsere kleine Diskussion ein. Da es bei der TCA Usus war, dass die Agenten mehrere Sprachen fließend sprechen mussten, gab es zwischen uns keinerlei linguistische Barrieren. Bei Tanja Berner schon von Natur aus nicht.

»Müsste die Höhle nicht schon längst jemandem aufgefallen sein?«, fragte mein Freund und Kollege. »Ich meine, so etwas wäre doch sicher auch eine Touristenattraktion.«

Kommissar Olo nickte. »Schon, aber dieses Gebiet hier ist Privatbesitz. Die Wanderer hätten eigentlich gar nicht hier sein dürfen.«

»Wem gehört das Gebiet denn?« Diesmal hatte Tanja Berner die Frage gestellt.

»Der Familie von Borgh. Ich habe ehrlich gesagt noch nie etwas von denen gehört.«

»Ich schon …«, hörte ich Dave Logger hinter mir flüstern.

Ich auch. Und wie. Von einer Sekunde zur nächsten verdüsterten sich meine Mimik und meine Stimmung. Hasserfüllte Erinnerungen wallten in mir hoch und trieben meine Gedanken zu einem Ereignis, das sehr lange zurücklag. Beinahe wäre mir noch der Einsatzkoffer aus der linken Hand gefallen.

»Jimmy, was ist …?«, hörte ich wie aus weiter Ferne die Stimme der Schweizerin Tanja Berner.

Dave Logger unterbrach sie. »Lass ihn, bitte.«

Er wusste als einer der wenigen von dem, was mich mit dem Namen von Borgh verband, und die Erinnerungen (die ich immer so gut es ging versuchte zu unterdrücken) an die Ereignisse, die ich mit ihm verknüpfte, schafften es beinahe, mein geordnetes Denken zu überlagern. Nur mit Mühe konnte ich meine angestaute Wut unterdrücken.

»Sagt dir der Name etwas?«, fragte Hans Olo, der nichts von meiner Vorgeschichte mit der Familie von Borgh wusste.

Ich überlegte, ob ich ihn einweihen sollte. Wir kannten uns zwar ganz gut, aber mit meinen Familiengeheimnissen wollte ich nicht unbedingt hausieren gehen. Ganz zu schweigen davon, dass ihn das auch kaum etwas anging. Im Prinzip wussten nur sehr wenige Menschen davon. Mein Chef zum Beispiel, auch mein leiblicher Vater, Sir Gerald Spider, ebenso wie Dave Logger, mein bester Freund. Daneben gab es noch einige andere, die davon wussten, aber die konnte man an einer Hand abzählen (falls man denn schon ein paar Finger verloren hatte).

Letztendlich entschied ich mich für eine diplomatische Antwort. »Sagen wir es mal so: Ich habe mit diesem Namen schon meine Erfahrungen sammeln können. Aber ob das etwas mit diesem Fall zu tun hat, kann ich nicht bestätigen.«

Dave Logger merkte, dass mir dieses Gespräch unangenehm war, und wechselte das Thema. »Haben Sie oder ihre Männer die Höhle denn schon einmal betreten?«, fragte er Olo.

»Nein. Aber dafür haben wir Sie ja geholt«, antwortete er lächelnd.

Wie schön – wenn die deutsche Polizei nicht weiterkommt, schickt sie lieber ein paar auswärtige Agenten als Kanonenfutter an die Front. Als Opferlämmer waren die TCA-Agenten ja gerade gut genug. Das erlebte ich in meiner langen Karriere immer wieder. Aber gut, auch ein Lammrücken kann entzücken. Oder besser ausgedrückt: Was blieb uns anderes übrig, als die uns zugedachte Rolle anzunehmen?

Meine Kollegin Tanja Berner riss mich aus meinen Gedankengängen. »Was denkst du, steckt dahinter? Ich meine, hinter dem Verschwinden der vielen Menschen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das kann alles Mögliche sein. Vielleicht sind die Menschen alle nach dem Betreten der Höhle in ein großes Loch gefallen …«

Die Schweizerin warf mir einen schiefen Blick zu.

»… oder es handelt sich dabei um ein Tor in eine fremde Dimension.«

»Du siehst zu viel fern!«, hielt Tanja Berner entgegen.

»Eigentlich sehe ich fast nie fern.«

»Oder aber …«, mischte sich Dave Logger ein, »es lauert dort drin irgendein Monster. Wer weiß das schon, immerhin ist das eine ziemliche einsame Gegend, die sich dazu noch in Privatbesitz befindet. Und dazu noch in dem der Familie von Borgh.«

Tanja Berner schien auf diese Bemerkung regelrecht anzuspringen. »Hättet ihr beiden vielleicht einmal die Güte, mir zu erklären, was es mit diesen Borghs eigentlich auf sich hat?«

Ich versuchte es mit einer diplomatischen Antwort. »Sagen wir so, ich habe mit einem von Borgh gewisse unschöne Erfahrungen gemacht.«

»Die hab ich mit dir auch gemacht und trotzdem arbeiten wir noch zusammen«, sagte Tanja Berner kühl lächelnd.

Und ich dachte, sie hatte unser missglücktes Rendezvous mittlerweile überwunden. Wie hatte ich schon voraussehen können, dass ausgerechnet das Starlight Inn an jenem Abend Opfer einer Bande theatraliksüchtiger Großstadtgangster werden würde?

Ich sah, dass sich Dave Logger nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen konnte.

»Das muss an meinem unverwechselbaren Charme liegen«, gab ich zwinkernd zurück.

Damit war die Sache vorerst geklärt. Aber der wichtigste Teil unserer Aufgabe lag noch vor uns: Die Höhle zu erkunden und die Verschwundenen zu finden. Stellte sich nur die Frage, wie wir damit anfangen sollten?

Ich tippte Hans Olo an. »Ihr habt nicht zufällig so einen kleinen Roboter parat, den man mal in die Höhle schicken könnte?«

Olo hob mitleidig die Schultern. »Sorry, Budgetkürzungen. Nicht mal die Kaffeemaschine hat man uns gelassen.«

Das war natürlich ein schwerer Verlust für die Menschheit.

Da diese Option also auch ausfiel, blieb uns nur ein Plan, der an atemberaubender Komplexität und unverwechselbarer Brillanz kaum noch zu überbieten war – wir mussten in die Höhle gehen und nachsehen.

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als einfach mal reinzumarschieren«, fasste ich meine Gedanken in Worte.

»Na toll«, antwortete Tanja Berner. Dave Logger enthielt sich gleich eines Kommentars.

Zur Vorbereitung wollte ich mich erst mal mit allem ausrüsten, was mein Einsatzkoffer diesmal so bereithielt. Neben der obligatorischen Wodkaflasche gab es da eine Machete samt Anhängegürtel, drei Taschenlampen ein paar Blendgranaten (besonders intelligent, wenn man diese in einer dunklen Höhle einsetzt), Ersatzmunition und einen runden Stein namens Ankho, mit dem man laut unserer Dämonenjäger-Abteilung angeblich Geister vertreiben kann. Ich steckte mir alles ein (die Wodkaflasche ausgenommen) beziehungsweise befestigte die Machete samt Gürtel an meiner Hüfte. Die zwei für mich überflüssigen Taschenlampen übergab ich an meine beiden Kollegen.

»So, es kann losgehen«, sagte ich abschließend.

»Und du bist dir wirklich sicher, dass wir einfach so da rein marschieren sollten?«, fragte Tanja Berner zweifelnd.

Ich hatte da wenig Bedenken. »Wenn der Sicherheitsdienst der Familie von Borgh etwas dagegen haben sollte, sollte er sich jetzt melden oder für immer schweigen.«

Der Gesichtsausdruck meiner Kollegin zeigte mir, dass sie mit dieser Antwort alles andere als zufrieden war. Dennoch folgte sie mir und Dave Logger auf dem Weg in die Höhle. Ganz im Gegensatz zu Hans Olo, der uns noch einmal zuwinkte, bevor wir in die Dunkelheit des Berginneren eintauchten.

Zunächst einmal passierte gar nichts. Auch als wir unsere Taschenlampen einschalteten, rührte sich nicht wirklich etwas. Dafür erstreckte sich vor uns ein mehr als zwei Meter hoher und knapp drei Meter breiter Gang. Alles wirkte so, als wäre diese Höhle nicht natürlich entstanden, sondern von irgendjemandem in den Fels geschlagen worden.

Nachdem wir gut hundert Meter in den Berg hineingegangen waren, teilte sich der Gang plötzlich. Drei Wege standen uns zur Verfügung.

»Äußerst merkwürdig«, meinte Dave Logger.

»Vielleicht ist jemandem der eine Gang zu langweilig geworden«, antwortete ich.

»Sollen wir uns aufteilen?«, fragte meine Schweizer Kollegin.

Ich war dagegen. Wer wusste schon, was für Gefahren hier auf uns lauerten? »Nein, wir bleiben zusammen.«

»Und wo soll es lang gehen?«, fragte erneut Tanja Berner.

Nach kurzer Bedenkzeit entschied ich mich für den linken Gang.

Im Licht der Taschenlampen erschien vor uns eine recht breite Treppe, die in eine unergründliche Tiefe führte. Eine ziemlich moderne Höhle – zu dumm, dass es keine Aufzüge gab. Oder Rolltreppen. Aber daran ließ sich nun auch nichts ändern.

Vorsichtig begannen wir mit dem Abstieg. Die Treppe schien eine Spiralenform zu besitzen, denn der Weg führte uns stets nach rechts. Nach etwa zwei Minuten gähnender Langeweile klangen uns plötzlich einige merkwürdige Geräusche entgegen. Entfernt erinnerten sie mich an ein Schmatzen. Ob die Geister gerade zu Tisch waren?

Ich zog vorsorglich meine Desert Eagle. Wer auch immer dort unten gerade ein Festmahl zu sich nahm, konnte schließlich auch Menschen auf seinem Speiseplan haben.

Die Geräusche wurden immer lauter. Plötzlich endete die Treppe abrupt und mündete dabei in eine Art Saal. Dort trafen die Lichtkegel unserer Lampen auch tatsächlich ein Ziel – und wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen.

Mitten in dem Saal stand ein bräunliches Geschöpf, das von seiner Form her an ein Ei erinnerte. Doch im Gegensatz zu handelsüblichen Eiern besaß dieses Wesen zwei dicke, schuppige Beine und Füße, die eher als Krallen zu einem Drachen gepasst hätten. Der fellbedeckte Körper reichte uns mit Sicherheit bis zu den Schultern. Das Maul war geschlossen, bewegte sich aber wellenartig, als würde es auf einem riesigen Kaugummi kauen. Ebenso riesig war das Auge, dass fast die gesamte obere Hälfte des Körpers einnahm und uns wenig freundlich anstarrte. Wie um dies zu bestätigen, spie das Monster vor uns das aus, was sich bisher in seinem Maul befunden hatte – ein bleiches Skelett.

Langsam konnte ich mir zusammenreimen, was aus all den verschwundenen Menschen geworden war. Aber irgendwie war mir das zu wenig, besonders weil dieses Wesen sicherlich keine Treppe in den Fels geschlagen und die Höhle in mehrere Gänge unterteilt hatte. Zudem war da noch die Familie von Borgh, der dieses Gelände hier gehörte.

Bisher hatten wir gedacht, das lebende Ei wäre die einzige Merkwürdigkeit in diesem Raum gewesen. Doch plötzlich begann das vor uns liegende Skelett zu zucken. Mit staksig wirkenden Bewegungen richtete es sich langsam auf.

Das neben ihm stehende Monster begann zu grinsen. Im nächsten Moment aber riss es sein gewaltiges Maul auf, zeigte uns gleich zwei Reihen messerscharfer Reißzähne und schickte uns ein markerschütterndes Brüllen entgegen.

Davon ließ ich mich aber nicht erschüttern. Mit aller Ruhe entsicherte ich meine Desert Eagle, zielte auf das Auge des Monsters und schoss.

Die Kugel traf die rechte Seite der gewaltigen Pupille. Das Wesen quiekte wie ein verletztes Schwein und lief wild im Kreis herum.

»Vielleicht hätten wir es lieber mit nettem Zureden versuchen sollen«, flüsterte mir Dave Logger zu.

»Aber es heißt doch immer: Reden ist Silber, Schießen ist Gold.«

»Bist du sicher, dass die Redewendung so geht?«

Bevor ich darauf antworten konnte, reagierte das Monster-Ei. Wütend blickte es uns entgegen. Das riesige Auge war weiterhin intakt, allerdings zeichnete sich auch eine kleine Wunde ab, aus der gelblicher Schleim rann.

Noch einmal brüllte es uns an, dann lief es uns mit großen Schritten entgegen.

»Und jetzt?«, rief Tanja Berner.

»Rückzug!«, schrie ich.

Das ließen sich meine Partner nicht zweimal sagen. Hastig hetzten wir die Treppe wieder empor. Für mich war das als zweimaliger Gewinner der Eiffelturm-Treppenlauf-Meisterschaft kein Problem, aber Tanja und Dave würden das sicher nicht lange aushalten.

Von dem Monster sahen wir nichts mehr, dafür hörten wir hinter uns nur immer wieder ein Schmatzen, als würde dem Killer-Ei schon das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Schließlich gelangten wir wieder zur Gabelung.

»Und jetzt?«, fragte diesmal Dave Logger.

»Rechts!«, rief ich, während ich bereits losrannte.

Diesmal führte uns eine Wendeltreppe nach oben. Das Monster schien, nach den schmatzenden Lauten zu urteilen, uns immer noch auf den Fersen zu sein.

Plötzlich drang uns ein unheilvolles Rauschen entgegen. Im nächsten Moment wehten uns Dutzende weiße, durchsichtige Fetzen entgegen. Entweder jemand hatte seine Bettlaken zu starkem Wind ausgesetzt – oder wir bekamen Besuch von einer Horde Geister.

Die nebulösen Wesen besaßen kaum eine Form, aber dafür Gesichter. Oder eher Fratzen, und diese sahen nicht eben freundlich aus.

»Jimmy, der Ankho!«

Dank Tanjas Zuruf wurde ich wieder an den magischen Stein erinnert, der angeblich Geister vertreiben konnte. Durch das Rufen des Wortes Ankho sollten laut Angaben der Dämonenjäger-Abteilung die Kräfte dieses schwarzen Steins erweckt werden.

Sofort griff ich in meine Jackentasche und zog den handtellergroßen Gesteinsbrocken hervor.

»Ankho!«, schrie ich den heranstürmenden Geistern entgegen.

Kaum hatte ich das magische Wort ausgesprochen, schossen gewaltige Blitze aus dem Stein hervor. Zwei Geister, die sich besonders weit vorgewagt hatten, zerplatzten einfach, als das Licht sie traf.

Immer neue Blitze drangen den Geistern entgegen. Wieder und wieder zerplatzte ein Nebelfetzen, bis die Nachzügler erkannten, was für eine Gefahr hier auf sie lauerte. Doch es war bereits zu spät. Auch die letzten zwei flüchtenden Geister wurden von den Blitzen getroffen und zerrissen.

»Wow!«, entfuhr es Dave Logger.

Ich wollte mir den Ankho noch einmal näher ansehen – doch der Stein war verschwunden. Offenbar hatte er sich nach seiner Aktivierung einfach aufgelöst.

Doch damit war die Gefahr noch längst nicht gebannt. Nicht nur das mutierte Ei wartete noch irgendwo auf uns, auch von oben her klangen plötzlich neue Geräusche auf.

Klack, Klack, Klack, Klack

Und dann sahen wir, was dort auf uns zukam – oder vielmehr wer: Über ein Dutzend lebender Skelette schritten Stufe für Stufe die Treppe hinab. In ihren Klauen hielten sie ein buntes Waffenarsenal. Schwerter, Säbel, Äxte, Morgensterne und einige weitere Gegenstände, mit denen der menschliche Körper auf Kriegsfuß stand.

Ich hob erneut die Desert Eagle an, die sich noch immer in meiner rechten Hand befand. Dann visierte ich den Kopf des vordersten Skeletts an und schoss.

Die Kugel hieb mit brachialer Gewalt in das bleiche Gebein. Der Schädel zersplitterte, Knochenteile flogen herum. Eine Sekunde später brach die Gestalt zusammen. Ein nachfolgendes Skelett konnte nicht rechtzeitig ausweichen und fiel über seinen vernichteten Artgenossen.

Für einige Sekunden hatte ich das Riesen-Ei vergessen. Das änderte sich im nächsten Moment, als von unten her ein Brüllen erklang. Wenige Meter vor uns erschien das fast menschengroße Ungetüm und leckte mit einer wurstartigen Zunge sabbernd über seine gewaltigen Zahnreihen.

Langsam ging mir dieses Vieh auf die Nerven. »Kümmert euch um die Skelette, ich werde unserem Freund mal etwas einheizen!«

Tanja Berner und Dave Logger nickten mir zu und zogen zeitgleich ihre Waffen.

Ich trat zwischen ihnen hindurch und dem wohl einzigen mit Fell bewachsenen Ei auf dieser Welt entgegen. Das Monster blickte mich böse an und verzog seine Mundwinkel zu einem Grinsen.

Das beeindruckte mich wenig. Mit meiner linken Hand zog ich die Machete aus dem Gürtel hervor. »Jetzt mache ich Rührei aus dir!«

Das schien das Monster noch mehr provoziert zu haben. Es brüllte noch einmal auf und hüpfte mir förmlich entgegen.

Mit aller Macht holte ich aus und schleuderte ihm meine Machete entgegen, während hinter mir die ersten Schüsse fielen.

Die Klinge traf genau die Mitte des Kopfes und damit auch das riesige Auge. Noch ein Sprung und das Monster hätte mich erreicht. Doch der Treffer mit der Machete stoppte das Ei abrupt. Es wankte von einem Bein zum anderen, verdrehte förmlich sein großes Glupschauge und kippte schließlich einfach um. Kaum war das Wesen auf der Treppe aufgeschlagen, begann es, sich aufzulösen. Die Flüssigkeit, die sich dort auf den Stufen bildete, erinnerte mich tatsächlich an Eidotter.

Vorsichtig ging ich einen Schritt auf die Pfütze zu. Ein Fehler, wie ich zu spät erkannte. Vor mir erschien plötzlich eine Knochenklaue, packte mich am Kragen und riss mich zu Boden.

Den Schwung konnte ich nicht mehr ausgleichen. Mehrmals überschlug ich mich, als ich die Treppe wieder hinunterfiel. Ich versuchte noch, meinen Kopf irgendwie zu schützen, aber alle Schläge glich ich damit nicht aus.

Schließlich hatte die Treppe doch ein Einsehen mit mir und fand ihr Ende an der Gabelung.

Mir tat so ziemlich jeder Knochen weh, aber gebrochen schien glücklicherweise nichts zu sein. Dafür packte mich ein starker Schwindel, als ich versuchte, aufzustehen. Daraus wurde wohl erst mal nichts.

Stattdessen erhielt ich Besuch. Das Skelett, dem ich diesen Sturz zu verdanken hatte, schritt klackend die Treppe hinab. Im Gegensatz zu seinen Artgenossen war es unbewaffnet. Das ließ mich zu dem Gedanken kommen, dass es sich hierbei um das letzte Festmahl des nun zu Spiegelei gewordenen Monsters handeln musste. Das alles konnte ich erkennen, da meine Taschenlampe am Fuß der Treppe lag und die gesamte Szenerie erhellte.

Doch auch ohne Waffen war dieses Wesen brandgefährlich. Ich erhob meinen rechten Arm – doch da fiel mir auf, dass ich meine Desert Eagle verloren hatte. Die Kopftreffer hatten wohl meinen Verstand etwas angegriffen.

Aber womit sollte ich mich jetzt verteidigen? Die Machete lag noch bei dem vernichteten Monster, der Ankho war verschwunden und mit den Blendgranaten würde ich zwar die Höhle in eine Disco verwandeln, aber sicherlich kein lebendes Skelett aufhalten können. Und in meinem körperlichen Zustand war ich wohl kaum zu Glanztaten bereit.

Da fiel mir etwas ein, dass mich noch retten konnte: die Machita! Die wie eine gegrillte Erbse aussehende Frucht einer offiziell als ausgestorben geltende Pflanze hatte mir schon einmal das Leben gerettet, als ich es im Wilden Westen mit einer Gruppe Revolverhelden aufgenommen hatte.

Sofort griff ich in meine linke Jackentasche und zog das schmale Etui hervor.

Irgendwie schien das Skelett erkannt zu haben, dass dieser Gegenstand nichts Gutes zu bedeuten hatte. Ein Tritt mit dem Skelettfuß traf meine Hand und prellte das Etui aus meiner Faust.

Im nächsten Moment griff eine Knochenklaue nach meinem Hals und drückte unerbittlich zu. Ich versuchte sie mit meinen Händen wegzudrücken, doch vergeblich.

Die zweite Knochenhand hatte das Skelett erhoben und die bleichen Finger dabei ausgestreckt. Im Schein der Taschenlampe wirkten sie wie blitzende Dolche, und genau dieselbe Wirkung würden sie wohl haben, wenn das Skelett damit zuschlug.

Langsam wurde mir die Luft knapp. Sollte dies etwa das Ende meiner abstrusen Abenteuer darstellen? Keine Kämpfe mehr gegen rachsüchtige Kobolde, verfaulte Magier und Wer-Thunfischfrauen? Nun ja, irgendjemand würde schon meinen Platz einnehmen. Ich hoffte nur, dass dieser jemand nicht Steven McLaughington hieß.

Für weitere ausufernde Gedanken blieb mir keine Zeit mehr, denn langsam schwanden mir die Sinne. Dem Skelett schien das nicht schnell genug zu gehen, denn nun holte es mit seiner zweiten Klaue aus, um mir den Rest zu geben.

Da erklangen plötzlich zwei Schüsse. Ich hörte sie wie aus weiter Ferne. Dafür sah ich, wie der Schädel des mörderischen Skelettes förmlich explodierte. Im nächsten Moment lockerte sich der Griff. Das Knochengestell fiel schließlich in sich zusammen.

Vor mir erschien plötzlich ein rundliches Gesicht und grinste mich an. »Na, hast du schon mit den Höhlenmenschen Freundschaft geschlossen?«

»Hans …!«, versuchte ich zu sagen, doch mehr als ein Krächzen brachte ich nicht heraus. Nach ein paar Sekunden versuchte ich es noch mal. »Gib … gib mir das Etui.«

Hans Olo beugte sich hinab und hielt mir die kleine Schachtel entgegen. »Das hier?«

Wie viele liegen denn sonst noch hier herum?, hätte ich wohl gesagt, wenn ich dafür die Kraft gehabt hätte. Stattdessen griff ich lediglich nach dem Etui, öffnete es, holte die Machita hervor und steckte sie mir in den Mund.

Ein Biss genügte und die Erbse entfaltete ihre Kraft. Von einem Moment zum anderen fühlte ich mich wieder topfit. Selbst meine Kehle erholte sich.

Wie ein junger Grashüpfer sprang ich auf, gab dem Knochenhaufen noch einen Tritt und wandte mich meinem Lebensretter zu. »Danke, Hans … aber, was machst du eigentlich hier?«

»Na ja, ich hatte Schüsse gehört und dachte mir, wenn ihr schon schießen könnt, kann es hier drin nicht so schlimm sein.«

Ich schlug ihm noch einmal lächelnd auf die Schulter, bevor erneut von der Treppe her Schritte erklangen. Doch diesmal waren es keine mordlüsternen Skelette, sondern Tanja Berner und Dave Logger.

»Was ist mit den Skeletten?«

»Futsch!«, antwortete meine Schweizer Kollegin. »Und wo geht’s diesmal lang?«

Bevor ich etwas sagen konnte, übernahm Dave Logger das Wort. »Diesmal entscheide ich!«, sagte er und warf mir dabei ein schiefes Grinsen zu. »Wir gehen geradeaus.«

Ich erhob abwehrend meine Hände. »Keine Einwände.«

Erst jetzt schienen sie Hans Olo registriert zu haben. »Was machen Sie eigentlich hier, Herr Olo?«, fragte Tanja Berner.

»Ach, sagen Sie doch Hans!«, lockerte mein deutscher Kollege das Gespräch auf. »Ich wollte nur mal den Bewohnern Guten Tag sagen und ein paar Fragen stellen. Leider …« Er wies auf die Reste des Skelettes, das mich vor Kurzem fast getötet hätte. »Leider haben Sie sich als nicht besonders gesprächig erwiesen.«

»Ja, so etwas in der Richtung haben wir auch erlebt«, sagte die Schweizerin, während sie ihren linken Arm hob, um mir einen bestimmten Gegenstand zu reichen. »Gehört das nicht dir, Jimmy?«

Ich nahm meine Desert Eagle endlich wieder in Empfang. »Ja, doch … irgendwie kommt das Ding mir bekannt vor.« Meine Taschenlampe lag immer noch am Boden, bis ich sie im nächsten Moment aufhob und auf Schäden überprüfte. Glücklicherweise hatte wenigstens sie denn Treppensturz heil überstanden.

Ich umschloss meine Desert Eagle mit der rechten Hand, den Finger am Abzug. »So, nun werden wir den restlichen Bewohnern hier auch mal Hallo sagen.«

Meine drei Begleiter stimmten mir wortlos zu und so nahmen wir diesmal den mittleren der drei Gänge.

Diesmal drang uns kein Schmatzen entgegen, auch lebende Skelette oder ruhelose Geister hielten sich vornehm zurück. Stattdessen bemerkte ich, dass der Gang leicht anstieg. Gleichzeitig wurde die Höhle immer höher und breiter.

Als ich den Lichtstrahl über die Wände fahren ließ, entdeckte ich, dass da nicht einfach nur Gesteinsmassen zu sehen waren. Als wäre hier ein Bildhauer am Werk gewesen, erschienen im Schein der Taschenlampe zahllose dämonische Fratzen und grauenvolle Mutationen, als wären sie geradewegs der Hölle entstiegen. Nach den letzten Erlebnissen würde es mich nicht wundern, wenn diese Monster plötzlich zum Leben erwacht wären. Doch das blieb zum Glück aus.

Dafür fand der Gang schon bald ein abruptes Ende. Stattdessen breitete sich vor uns eine gewaltige Halle aus. Ich versuchte, die Höhlendecke anzuleuchten, aber der Strahl verlor sich in der unergründlichen Dunkelheit.

In die Wände der beinahe kreisrunden Halle waren weitere monströse Kreaturen geschlagen worden. Doch der wahre Blickfang befand sich in der Mitte des Raumes – ein gewaltiger schwarzer Thron, dessen mit flammenartigen Formen verzierte Lehne weit über unsere Köpfe hinaus ragte. Zwar saß niemand auf der ausladenden Sitzgelegenheit, aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, hier nicht allein zu sein (kaum verwunderlich, wenn man mit drei Bekannten einen Höhlenspaziergang macht).

Wie um meine Gedanken zu bestätigen, wölbte sich gut zehn Meter vor uns der steinerne Boden. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass dies nicht ganz richtig war. Eine menschliche Gestalt stieg aus dem mächtigen Gestein hervor. Eingehüllt war sie in eine lange schwarze Robe, die keinen Blick auf das Aussehen des Ankömmlings zuließ.

So langsam kam mir das ganze Szenario irgendwie bekannt vor. Ein riesiger schwarzer Thron, eine Gestalt in einer schwarzen Robe, die – und das erkannte ich erst jetzt – ihre linke, menschliche Hand zeigte, in der sich ein etwa ein Meter langer, roter Stab befand. McShady McShady, hallte es immer wieder durch meinen Kopf – und im nächsten Moment erinnerte ich mich wieder: Diese Gestalt war mir schon einmal erschienen, in einem Traum, der schon einige Zeit zurücklag. Auch damals war ich mit Hans Olo unterwegs gewesen, als es um ein Geheimprojekt in einem abgelegenen Waldsee gegangen war. Aber das hatte hiermit nichts zu tun. Diese Gestalt hatte damals nur ihren Kopf gezeigt. Lange braune Haare, die ein relativ dünnes und knochiges Gesicht umspielten. So hatte ich ihn damals gesehen. Dieser Mann hatte mich McShady genannt. Verfluchter McShady sogar. Und ein Fluch lag tatsächlich auf meiner Familie, begründet durch eine Tat meines Urahnen Geoffrey McShady, die schon mehr als 300 Jahre zurücklag.

Dieser Robenträger jedenfalls hatte mir einen alten Fehler vorgeworfen und meinen künftigen Tod angekündigt. Sollte diese Prophezeiung nun in Erfüllung gehen?

Plötzlich riss der Ankömmling sich die Kapuze vom Kopf. Zum Vorschein kam genau der Mann, den ich in Erinnerung hatte. Schon damals war er mir irgendwie bekannt vorgekommen. Doch diesmal durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Blitz – dieser Mann war ein von Borgh. Die Gesichtszüge waren unverkennbar, da brauchte ich mir nicht einmal das Gesicht seines Verwandten Victor vor Augen zu rufen. Victor von Borgh … der Mann, der meine Eltern getötet hatte!

Ich hatte nicht gedacht, dass mich diese Geschichte noch einmal einholen würde. Nachdem ich mit dem Mörder abgerechnet hatte, hatte ich versucht, all die Geschehnisse von damals zu verdrängen. Doch nun war alles wieder da.

Ich spürte plötzlich, wie sich eine Hand auf meine rechte Schulter legte. Es war Dave Logger, der mich unterstützen wollte. »Er ist einer von ihnen, nicht wahr – ein von Borgh?«, flüsterte er.

»Ja«, antwortete ich, obwohl kaum mehr als ein Hauch über meine Lippen drang.

»Andrew hat mir einmal ein Foto von Victor gezeigt.« Mein bester Freund atmete tief durch. »Du hast schon mal einen von Borgh besiegt, dann werden wir zu viert auch mit diesem hier fertig.«

Ich seufzte. »Das hoffe ich …«

Dave wollte mir mit Sicherheit noch etwas sagen, doch da erklang ein Klatschen. Es war der Ankömmling, der uns Beifall zollte. Seinen Stab hatte er offenbar wieder weggesteckt.

»Bravo, bravo, Jimmy Spider!«, ließ er zum ersten Mal seine Stimme hören. »Oder sollte ich lieber McShady sagen? Wie auch immer du dich nennst, ich erkenne doch das Erbe deines Vorfahren Geoffrey. Na, klingelt etwas bei dir?«

»Ja, mein Handy.« Ich hatte mich wieder einigermaßen gefangen. »Es ist die Irrenanstalt von Dartmoor. Du hast dort eine Gruppensitzung verpasst, Freundchen.«

Der von Borgh wies drohend mit seinem linken Zeigefinger auf mich. »Glaube nur nicht, dass du mich mit deinen lockeren Sprüchen aus der Reserve locken kannst. Du nicht!« Er nahm seine Drohgebärde zurück und zog dafür erneut den roten Stab hervor. »So, nun wirst du sehen, wie meine Ankündigung wahr wird. Doch nicht nur du wirst sterben – zunächst einmal wirst du den Tod deiner Freunde mit ansehen.«

Wie eine Waffe hielt der Mann uns seinen Stab entgegen. Plötzlich schossen daraus drei gewaltige Blitze hervor. Jeder davon traf einen meiner Begleiter. Hans Olo, Dave Logger und Tanja Berner wurden von den gewaltigen Kräften bis an die Höhlenwände zurückgeschleudert, wo sie schlaff wie Puppen in einem Netz aus Blitzen hingen.

»Wer soll zuerst sterben, mein Freund? Du hast die freie Auswahl.« Von Borgh lachte wie irre auf. Sein gewaltiges Gelächter schallte durch die gesamte Halle.

»Du!«, schrie ich mitten in sein Lachen hinein, hob meine Desert Eagle an und schoss. Gleich drei Kugeln jagte ich ihm entgegen. Alle drei Geschosse trafen den Kopf des Mannes, der von der Aufprallwucht zurückgeschleudert wurde. Zurückgeschleudert, mehr aber auch nicht. Der Robenträger richtete sich wieder auf und gewährte mir einen Blick in sein Gesicht. Die Wunden, die die Kugeln eben noch gerissen hatten, heilten in Sekundenschnelle, bis sie kurz darauf komplett verschwunden waren.

»So nicht, McShady, so nicht! So besiegt man keine Magier vom Orden des roten Drachen.«

Langsam wurde es immer komplexer. Noch ein Magier? Hatten diese Typen gerade Hochsaison? Erst vor nicht allzu langer Zeit hatte ich einen dieser unfreundlichen Gesellen in Frankreich vernichten können. »Mit Magiern habe ich schon so meine Erfahrungen sammeln können«, antwortete ich. »Bisher steht es 1:0 für mich.«

»Ach, du meinst den alten Albert Northingale? Der war schon immer eine Niete. Es war schon ein Glück für ihn, dass er überhaupt in unseren Orden aufgenommen wurde.« Er grinste mich an. »Du fragst dich wahrscheinlich, woher ich das weiß. Nun, auch wenn ich lange im Fels dieser Höhle eingesperrt war, habe ich doch den Lauf der Welt weiter mitverfolgen können. Und so war es mir ein Leichtes, nachdem der alte Fluch von mir abgefallen war, dich in mein Refugium zu locken. Pech für all die Menschen, dass sie nicht früher die TCA um Hilfe gebeten haben. So sind sie eben meinem Freund Murog zum Opfer gefallen. Ihre Seelen wurden zu ruhelosen Geistern und ihre Skelette zu meinen Dienern. Leider hast du Murog getötet, aber das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.«

»Wenn der Stein wirklich heiß gewesen wäre, könnten wir jetzt zusammen Spiegelei essen.«

Der Magier sah mich verständnislos an.

»Mit wem habe ich nun eigentlich die Ehre?«, fragte ich, um die drückende Stille zu unterbrechen.

Mein Gegenüber fand seine gute Laune wieder. »Das will ich dir gern sagen. Ich heiße Alexis von Borgh und bin der Urgroßvater deines geschätzten Freundes Victor.«

»Du warst es, um genau zu sein.«

Alexis von Borgh hob nur lässig die Schultern. »Wie auch immer, nun ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Also, welcher von deinen drei Freunden darf als Erstes den Weg ins Jenseits antreten?«

»Nimm mich!«, schrie plötzlich Hans Olo, der wohl doch nicht so ganz ohnmächtig war.

»So, ein Freiwilliger.« Der Magier kicherte vor sich hin. »Nun, da will ich mal nicht so sein.«

Er hob seinen roten Stab an und schrie: »Stirb!«

Ich wollte schon vor Schrecken die Augen schließen, als der mächtige Blitz auf meinen deutschen Freund zuschoss, da geschah es. Ein zweiter Blitz zischte aus der unergründlichen Schwärze an der Höhlendecke hervor und traf genau das magische Geschoss des Magiers. Eine gewaltige, strahlend weiße Explosion blendete mich für einen Augenblick. Als ich wieder sehen konnte, galt mein erster Blick Hans Olo. Außer dem zuckenden Netz, das ihn noch immer festhielt, war er unversehrt.

»Was zum …«, entfuhr es meinem Gegner, als er plötzlich eine Gestalt entdeckte, die von der Höhlendecke hinab schwebte. Der Ankömmling sah aus wie ein Mann um die 50, hatte mittellanges, schlohweißes Haar und trug einen langen braunen Mantel, der mehr ins 19. Jahrhundert gepasst hätte. »Valerius«, flüsterte Alexis von Borgh.

Der Angesprochene lächelte nur, nickte mir zu und wandte sich wieder dem wiedererwachten Magier zu.

Ich wollte mich schon in das Duell einmischen, da spürte ich einen eisigen Hauch, der über meinen Rücken glitt.

»Das ist nicht dein Kampf, Jimmy«, erklang von rechts eine mir wohlbekannte Stimme. Ich drehte mich herum – und erblickte niemand anderen als meinen Urahnen Geoffrey McShady. Außer dass seine Gestalt kalkweiß und durchscheinend war, sah er noch genauso aus wie auf dem Schiff in den Wolken, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren.

»Hallo, mein Freund«, flüsterte der ehemalige Kapitän der Cursed Virgin mir zu.

»Geoffrey … es, es ist schön, dich … wiederzusehen.«

»Tja, wie du siehst, bin ich nicht mehr der Fitteste, aber du sollst wissen, dass ich immer noch ein Auge auf dich habe. Erinnere dich nur an den reimenden Kobold.«

Dieser Wicht mit seinen dämlichen Gedichten ging mir natürlich nicht aus dem Kopf. So einen Fall von Talentlosigkeit erlebte man auch nicht alle Tage.

»Was … hat das alles zu bedeuten? Weißt du vielleicht, wer der zweite Magier ist?«

»Natürlich«, antwortete Geoffrey McShady. »Dank ihm konnte ich überhaupt hier erscheinen. Er ist der Magier, von dem ich dir damals auf meinem Schiff erzählt habe. Der, den ich gerettet hatte und der von einer finsteren Macht gejagt wurde. Nun weißt du auch, wer diese finstere Macht war: Der Orden des roten Drachen. Ein Zirkel mächtiger Schwarzmagier, die gemeinsam nach der Weltherrschaft strebten – und nun wieder streben. Sir Albert Northingale war einer von ihnen. Ihn hatte Valerius einst ebenso verflucht wie Alexis von Borgh und noch einige andere. Allerdings besagt ein Gesetz der Magier, dass einer von ihnen nicht einen anderen töten darf. Und so erwachen die Mitglieder des Ordens nun langsam alle wieder zum Leben. Auch gegen Northingale wollte Valerius antreten, doch da bist du ihm zuvorgekommen.«

Ich grinste. »Man tut, was man kann.«

»Bei Alexis von Borgh liegt der Fall anders. Nicht nur, dass Valerius diesmal rechtzeitig erschienen ist, der Schwarzmagier Alexis von Borgh ist auch viel mächtiger als sein englischer Kollege. Aber gegen Valerius hat er allein keine Chance. Sieh hin!«

Ich richtete meinen Blick wieder auf die zwei Magier. Sie befanden sich wohl mitten in einem Duell, auch wenn es zunächst nicht so aussah. Valerius hielt seine Handflächen seinem Gegner entgegen, während dieser versuchte, seinen Stab zum Einsatz zu bringen.

Doch die Kräfte des Alexis von Borgh reichten nicht aus. Dennoch legte er noch einmal alle Kraft in einen gewaltigen Blitz.

Der Strahl durchbrach die magische Schutzwand, die Valerius aufgebaut hatte, und schleuderte ihn gegen die Höhlenwand. Doch der Magier fiel nicht. Stattdessen erhob er erneut seine Handflächen. »Gehe dorthin zurück, wo du so lange geruht hast! Ich verfluche dich, weitere einhundert Jahre in dem Gestein deines Schlosses zu verbringen. Exitus!«

Sein letztes Wort ging in einem infernalischen Rauschen unter. Ein gewaltiger Windstoß verließ Valerius‘ Handflächen und raste seinem Gegner entgegen.

Alexis von Borgh wurde nun seinerseits zurückgeschleudert. »Nein, nein, nicht schon wieeeeeder!«, schrie er, doch es war vergebens. Das Gestein war kein Hindernis für ihn. Ohne Widerstand drang sein Körper hinein und verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Gleichzeitig lösten sich auch die magischen Fesseln, die meine Freunde bisher umschlossen hatten. Sie konnten nun wieder auf eigenen Beinen stehen – zwar etwas wacklig, aber immerhin.

Ich wandte meinen Blick wieder Valerius zu. Der alte Magier lächelte. »Du siehst, Jimmy Spider, ich vergesse niemals, wer mir einmal das Leben gerettet hat.« Dann nickte er Geoffrey McShady zu. »Komm, mein Freund, wir machen uns wieder auf den Weg. Ich habe noch einen Termin bei Konfuzius.«

Der Geist meines Vorfahren glitt an mir vorbei, drehte sich aber noch einmal zu mir um. »Diese Gefahr ist gebannt, aber vergiss nicht, was ich dir über diese mysteriöse Wolke erzählt habe. Sie ist noch immer dort draußen, und eines Tages wirst auch du sie zu Gesicht bekommen. Und vergiss eines dabei nicht: Alles hängt zusammen …«

Nach diesem Satz drehte sich mein Vorfahre wieder herum und glitt auf Valerius zu. Der Magier lächelte, legte seinen rechten Arm um Geoffreys Schulter und löste sich einfach auf. Auch der Kapitän der Cursed Virgin verschwand im Nichts.

Von hinten tippte mich jemand mit dem Finger an. Es war Hans Olo, der sich wieder einigermaßen erholt hatte. »Das war ja besser als Kino. Jetzt brauche ich aber erst mal eine große Bratwurst«, sagte er, bevor er sich dem Ausgang zuwandte.

Dave Logger folgte ihm, allerdings nicht ohne mir noch mal zuzuzwinkern.

Schließlich stand Tanja Berner vor mir. »So, jetzt will ich aber wissen, was es mit diesen von Borghs, McShadys und all den Magiern auf sich hat. Du bist mir einige Erklärungen schuldig.«

Ich atmete tief durch. Irgendwie hatte sie ja recht. Und plötzlich kam mir eine Idee, wie sich dies alles in Wohlgefallen auflösen würde. »Also gut – ich werde dir alles erzählen. Unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Wir veranstalten ein zweites Rendezvous, aber diesmal in meiner Wohnung. Ein schönes Dinner bei Kerzenschein.«

Erst wollte Tanja Berner mir etwas schroff entgegnen, dann hielt sie für einen Moment inne und lächelte schließlich. »Gut, abgemacht.« Mit einem Schritt stand sie neben mir und hakte sich bei mir ein. »Und wer kocht?«

»Ich natürlich. Ich bin noch ein wahrer Gentleman.«

»Wer’s glaubt«, sagte sie und lachte. Ich stimmte mit ein.

Während wir gemeinsam dem Ausgang entgegen schritten, zog ich ein zweites Etui aus meinem Jackett hervor, griff mir eine Siegerzigarre und zündete sie genussvoll an.

Und nach Feiern war mir jetzt wirklich zumute …

Copyright © 2010 by Raphael Marques