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Der Detektiv – Liu Sings Geheimnis – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Liu Sings Geheimnis
1. Kapitel 

Wir kamen aus dem Universum-Klub und hatten eine etwas schwere Sitzung hinter uns. Kommerzienrat Kammler hatte zu Ehren des neuesten Erfolges Harald Harsts eine Maibowle auffahren lassen, die uns bis jetzt auf der Gartenterrasse des Klubhauses festgehalten hatte.

Es war gegen vier Uhr morgens.

»Was meinen Sie, Schraut, wollen wir nicht die Alkoholdünste aus unseren Köpfen durch einen Spaziergang nach Dahlem vertreiben?«

So kam es, dass wir eine Stunde später die Hauptstraße dieser vielleicht vornehmsten Villenkolonie in der Nähe Berlins entlang schritten.

Wir hatten im Universum-Klub, den wir direkt von der Verbrecherjagd kommend besucht hatten, unsere falschen Bärte und Perücken abgelegt und trugen sie nun in der Tasche bei uns. Ich, der ich den Tischler Schulz gemimt hatte, sah keineswegs kavaliersmäßig aus, und bei Harst war dies eigentlich noch weniger der Fall. Sein geflickter Anzug und sein zerbeulter Hut machten ihn zu einer recht fragwürdigen Erscheinung.

Plötzlich bog er in eine Nebenstraße ab, die auf einen Kinderspielplatz mündete. Dort gab es auch eine Schutzhütte aus Baumstämmen, die vorn ganz offen war.

Harst steuerte darauf zu und sagte nun: »Ich habe aus dem Klub ein Fläschchen Leim mitgenommen. Hoffentlich genügt er zum Ankleben unserer Bärte. Dort drüben die hohe Mauer umschließt Malzahns Grundstück.«

Ich war nicht weiter überrascht. Wer Privatsekretär und Gehilfe eines Harald Harst ist, darf sich das Wundern abgewöhnen.

Gleich darauf standen wir nun ganz im Kostüm an der über zwei Meter hohen Ziegelmauer. Ich hatte bisher nicht gewusst, dass Malzahn in Dahlem wohnte. Auch über den Leichenraub konnte ich in meinem Gedächtnis nur recht wenig aufstöbern. Die Sache lag ja bereits vier Wochen zurück. Damals war ich noch nicht Harsts Sekretär, sondern ein von der Polizei eifrig gesuchter Taschendieb – der Komiker-Maxe! Nun, all das gehörte Gott sei Dank der Vergangenheit an.

Die Straße war völlig einsam. Harst stellte sich an die Mauer. Ich kletterte, seinen Rücken als Leiter benutzend, als Erster hinauf, half ihm dann mit ausgestreckten Händen und zog ihn zu mir empor. So gelangten wir in einen großen Park, der den Reichtum seines Besitzers nicht nur durch die eigenartigen und fraglos überaus kostspieligen Anlagen verriet. Überall merkte man das Bestreben, den weichen, träumerischen Zauber eines orientalischen Gartenbildes vorzutäuschen.

»Wir sind hier jetzt ziemlich sicher«, meinte Harst. »Malzahn ist verreist, wie ich mir im Klub von seinem Freund Bruchfeld erzählen ließ. Bruchfeld gehört nicht zu unseren Wettgegnern und weiß daher nicht, dass wir jetzt für diese prächtige Besitzung Interesse haben. Unsere Aufgaben werden ja nunmehr ganz streng geheim gehalten. Zurzeit sollen sich in Malzahns Villa, die als Bungalow gebaut ist, nur mehrere Diener und im Gärtnerhäuschen am Parkeingang der Gärtner und dessen Gehilfe befinden. Diese Leute dürften Malzahns Abwesenheit zu längerem Morgenschlaf benutzen.«

Wir bogen nun in die Hauptallee aus Sykomoren ein. Vor uns erhob sich der Bungalow, ein schlichtes Viereck mit Schieferdach, einem Stockwerk und rund herumlaufender Veranda. Trotz aller Einfachheit wirkte das Gebäude infolge des Materials, mit dem die Mauern verkleidet waren, außerordentlich prunkvoll. Diese Mosaikmuster der Wände aus verschiedenfarbigem Marmor mussten Unsummen verschlungen haben.

»Rechts steht das sogenannte Dienerhaus«, sagte Harst und zog mich in einen schmalen Seitenweg hinein. »Dort war Liu Sings Leiche aufgebahrt und zwar im Erdgeschoss. Die Leichenräuber haben die Ziergitter vor den Fenstern durchgesägt und sich so Zutritt verschafft. Es muss ein mühseliges Geschäft gewesen sein, dieses Durchschneiden schmiedeeiserner Stäbe, mühsam und gefährlich, denn in jener Nacht strichen noch die beiden zahmen Jagdleoparden Malzahns im Park umher. Die Diebe haben ihnen einen toten Hammel über die Mauer zugeworfen und sie so für einige Zeit am anderen Ende des Parks festgehalten. All das weiß ich von Doktor Bruchfeld, dem Privatdozenten für orientalische Sprachen. Zum Teil auch aus den Zeitungen. Ein Hammel ist etwa vierzig Mark wert. Die Leichenräuber ließen sich die Sache also auch etwas kosten. Und für Leichen bezahlen Ärzte und Anatomien durchschnittlich 200 Mark. Die Kosten sind also verhältnismäßig hoch, denke ich. Rechnet man noch die Gefahr hinzu, denn die Jagdleoparden sind nachts schlimmer als die schärfsten Hunde, so begreift man nicht recht, wie die Polizei und auch das Detektivinstitut Phönix zu der Annahme gelangen konnten, es handele sich hier um die Tat gewerbsmäßiger Leichenräuber.«

Wir schlichen nun auf das sogenannte Dienerhaus zu. Es war im Stil einer Moschee mit vier Eckminaretts gebaut worden.

Links neben dem Eingang blieb Harst vor einem Fenster stehen, aus dessen zierlichen geschwungenem Gitter ein Stück von Quadratmetergröße fehlte.

Er prüfte die einzelnen Stäbe sehr genau, besonders die Schnittflächen, wo die Stahlsäge gearbeitet hatte.

»Merkwürdig«, murmelte er. »Sehr merkwürdig. Kommen Sie, Schraut, jetzt wollen wir nach Hause. Ich bin sehr zufrieden.«

Wir machten kehrt. Ich fragte nicht, weshalb er zufrieden war. Auch das Fragen muss man sich als Harsts Privatsekretär abgewöhnen. Er liebt es nicht, über halb fertige Dinge zu sprechen. Nur zuweilen zeigt er sich zugänglicher. Dann spielt er aber meist den Lehrer und beweist mir, dass ich nichts beweisen kann.

Er versuchte die Richtung auf die Tatsch Mahal-Nachbildung einzuschlagen. Wir gerieten aber an eine hohe Dornenhecke und dann plötzlich auf einen freien Platz, in dessen Mitte sich ein schlanker Turm aus rotem Sandstein erhob. Er hatte viele kleine, vergitterte Fenster und eine Tür, die wie polierter Stahl glänzte.

Harst packte plötzlich meinen Arm, blieb stehen, sagte leise und erregt: »Da, da oben!«

Ich schaute zu den obersten Fenstern empor. Ich sah einen in einem bunt seidenen weiten Ärmel steckenden Frauenarm, der uns offenbar zuwinkte.

Ich muss bemerken, dass die kleinen, erkerartig vorspringenden Fensterchen ganz eng vergittert waren und Butzenscheiben hatten.

Der Arm langte durch eine Luftklappe der Oberscheibe hindurch. Er gehörte keiner Europäerin. Die Haut war hellbraun mit leichtem Bronzeton, die Hand aber bedeckt mit Schmuck – Armreifen, Ringen und Kettchen mit Anhängern.

All das funkelte und gleißte im Schein der gerade aufgehenden Sonne in einer Farbenpracht, als sprängen Funkengarben aus dieser schmalen Hand hervor.

Und nun – nun war es, als fiele ein Feuerstreifen blitzschnell aus jener Hand zur Erde herab. Ein leises Klirren dicht vor uns. Auf dem weißen Kies lag ein funkelnder, mit Steinen besetzter Goldreif. Und gleichzeitig hörten wir einen undeutlichen Ruf – zwei Worte. Ich verstand sie nicht.

Harst hatte sich schon gebückt, hob das Armband auf, hielt es ganz hoch, winkte damit der Spenderin zu, sagte: »Fort von hier!« Er lief mir voran zu der fernen Mauer hin.

Wir kletterten hinüber, eilten in die Blockhütte zurück, nahmen unsere Bärte und Perücken ab, gingen zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn.

Mein Gönner und Brotherr sprach kein Wort. Er hatte den Hut in der Hand und ließ den frischen Morgenwind seine Stirn fächeln. Er hielt den Kopf gesenkt, sah und hörte scheinbar nichts. Ich wusste, seine Gedanken waren bei dem braunen Frauenarm.

Gegen sechs Uhr waren wir in der Blücherstraße in Schmargendorf und betraten das Harst’sche, mit einem Garten umgebene Haus. Im Flur reichte er mir die Hand.

»Gute Nacht, lieber Schraut. Es wird vielleicht unser interessantester Fall werden«, sagte er wie geistesabwesend und verschwand rechts in seiner Wohnung.