Deutsche Märchen und Sagen 193
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
261. Unsere liebe Frau vom weißen Zweig zu Ronsse
Zu Ronsse findet man unter viel anderen Kapellchen auch das unserer lieben Frau vom weißen Zweig. Wo es nun steht, da stand vor vielen hundert Jahren eine gewaltige uralte Eiche, zwischen deren dichten Zweigen ein hölzernes Marienbild hing. Dies hatte Wunderkraft und viel Kranke fanden bei ihm Genesung; kein Wunder also, wenn es bald in der ganzen Gegend bekannt und berühmt wurde und Pilger aus allen Städten und Dörfern sich zu ihm drängten. Was jeden der Pilger aber am meisten wunderte, war, dass der Zweig, an dem es hing, ganz schneeweiße Blätter trug. Von ihm hieß man das Bild Maria zum weißen Zweig. Den Satan ärgerte die Andacht der Gläubigen zu dem Bild und er trieb einige Bösewichte an, den weißen Zweig abzuschneiden und ihn in einen tiefen Pfuhl zu verbergen. Doch damit gewann er nichts, denn zu gleicher Zeit fühlte die Witwe von Graf Johann von Nassau sich gedrungen, über dem Bild eine Kapelle zu bauen. Dadurch nahmen die Wallfahrten zu der Eiche nur zu und bis heute bleibt die Kapelle eine der besuchtesten von Flandern.
262. Sankt Gudulen Baum
Kaum hatte man Sankt Gudula, die heilige Magd begraben, als ein Pappelbaum, der nahe bei ihrem Grab stand, plötzlich ins Laub schoss und sich mit schönem Grün bedeckte. Viele sagen auch, der Baum habe früher gar nicht dagestanden, sondern sei erst nach dem Begräbnis der heiligen Jungfrau da gesehen worden. Später hat sich noch ein großes Wunder mit ihm begeben. Als man nämlich die Reliquien Gudulas von Ham nach Moorssel bringen wollte, kam abends ein Vöglein auf den Baum geflogen. Das schlug mit den Flügeln und machte ein gar sonderliches Wesen, sodass Jedermann darüber verwundert stand. Am anderen Morgen aber, als die von Moorssel zu der Kapelle des Heilands kamen, wohin die Reliquien der heiligen Gudula gebracht worden, da stand der Pappelbaum vor der Tür des Kirchleins und der Vogel saß auf dem Baum und sang lustige Weisen. Inzwischen kamen Leute von Ham und die standen stumm, als sie ihren schönen Baum mit dem Vöglein darauf in Moorssel fanden, und waren nicht wenig verwundert; konnten es erst nicht glauben, bis sie nach Ham zurückkehrten und sich überzeugten von der Sache. Da fiel alles Volk auf die Knie und lobte Gott.
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