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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl – 2. Kapitel

Heinrich Döring
Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl
Verlag C. F. Schmidt, Leipzig, ca. 1840

Ich, Rübezahl, hab’
jederzeit an Possen und Schwänken mich erfreut.
Stets lass’ ich meinem Humor den Zügel,
kurzum, ich bin im Geisterreich
das ungefähr, was, Menschen, unter euch
der kluge Schalksnarr Eulenspiegel.
S. G. Bürde

Zweites Kapitel

Wie der Berggeist den Namen Rübezahl erhielt

Da stand des Berggeists verhasste Gestalt plötzlich vor ihr und sprach: »Was verlangst du, Gebieterin?«

Die Prinzessin aber entgegnete schnell: »Gesellschaft verlange ich, Menschen will ich sehen; aber verschone mich mit deinen Geistern.«

»Es geschehe, wie du willst!«, sprach der Berggeist, augenblicklich verschwindend, doch sogleich wieder erscheinend. In der einen Hand trug er ein goldenes Stäbchen, in der anderen ein Körbchen, gefüllt mit frischen Mohrrüben. Er reichte beides der Prinzessin und sprach lächelnd: »Hier hast du Gesellschaft!«

Die Prinzessin warf einen fragenden Blick auf das Körbchen. Tränen drangen unwillkürlich hervor aus ihrem Auge. »Grausamer Geist«, sprach sie, »ist es nicht genug, dass du mich den meinen geraubt hast? Verdiene ich noch deinen Spott?«

»Du tust mir unrecht«, erwiderte jener. »Doch du würdest mich nicht abermals kränken, wenn du wüsstest, wie wundersame Zauberkraft in diesen Rüben verborgen ist. Jede, die du mit diesem goldenen Stäbchen berührst, wird sich sogleich in die Gestalt verwandeln, die du zu sehen wünschst.«

So sprechend verschwand der Geist und ergötzte sich, die Geliebte unsichtbar umschwebend, an dem Spiel und Geschwätz mit ihren Jugendfreundinnen, die mit täuschender Ähnlichkeit von ihr aus den Mohrrüben hervorgezaubert wurden. Sie fühlte sich so froh in dem Kreis ihrer Gespielinnen, dass es ihr gar nicht einfiel, dem Geist, der sich seitdem nicht wieder hatte blicken lassen, zu rufen und ihm für den ihr verschafften Genuss zu danken. Mehrere Tage waren schon vergangen, als sie eines Morgens in den Blumensaal trat, wo sie ihre Freundinnen schon versammelt zu finden hoffte. Ergriffen von namenlosen Schrecken stand sie da, wie festgewurzelt in den Boden. Statt der blühenden jungen Mädchen wankten ihr gekrümmte Mütterchen ächzend und hüstelnd entgegen. Einige waren sogar niedergesunken und schienen verscheiden zu wollen.

Bleich und verstört eilte die Prinzessin in den Garten und rief den Geist. »Du Falscher«, sprach sie, als er erschienen war, »warum raubst du mir die letzte Freude, indem du tückisch meinen Freundinnen die Jugend nimmst. Verjünge sie wieder!« »Du forderst von mir, was unmöglich ist«, entgegnete der Berggeist. »Ich gebiete zwar über die Kräfte der Natur, aber sie selbst vermag ich in ihrem Lauf nicht zu hemmen. Deine Gespielinnen waren so lange jung und blühend, als noch Saft vorhanden in den Rüben; mit diesen welken auch jene dahin. Aber ich verspreche dir neue Rüben, aus denen du dir dann die Freundinnen schaffen kannst, die du schmerzlich vermisst.«

Aber das Körbchen, das ihr der Geist bald danach brachte, enthielt nur wenige Mohrrüben. »Du musst warten«, sprach er, sich entschuldigend, »bis die neugesäten aufgegangen sind, denn du bist ein wenig verschwenderisch damit gewesen.«

»Wie viel hast du denn gesät?«, fragte die Prinzessin.

»Du wirft genug haben«, entgegnete der Geist.

Mit diesen Worten wollte sich die Prinzessin nicht begnügen, beharrte trotz seiner Weigerung auf dem wunderlichen Einfall, dass er die Rüben zählen solle, die er auf dem Gipfel der Riesenkoppe gesät hatte. »Daran will ich prüfen«, sprach die Prinzessin, »ob du mich wirklich so liebst, wie du mir nun schon so oft gesagt hast.« Als er nun ging, da schaute die Prinzessin ihm mit boshaftem Lächeln nach, und während er im eifrigen Zählen begriffen war, zog sie schnell eine der stärksten und schönsten Mohrrüben aus dem Körbchen und verwandelte dieselbe in ein geflügeltes Ross.

»Trage mich«, sprach sie, sich behände hinaufschwingend, »trage mich in meine Heimat!«

Da schoss das Flügelpferd mit Adlerschnelle hinab in das Tal und trug die kühne Reiterin zum Schloss ihres Vaters, des Fürsten Bersanuph, der außer sich vor Freude die verschwundene Tochter empfing und sich ausführlich erzählen ließ, wie es ihr so wundersam ergangen war.

Der Berggeist hatte indessen auf dem Gipfel der Riesenkoppe die Mohrrüben gezählt, und zwar dreimal, um recht sicher zu gehen. Freudig eilte er in seinen Palast zurück, um der Geliebten die erwartete Botschaft zu bringen. Vergebens aber suchte er sie in allen Gemächern, vergebens im Garten. Er merkte Verrat. Blitzschnell schwang er sich hoch in die Lüfte. Da sah er, wie die Treulose soeben über die Grenze seines Reichs hinwegflog. Wütend schleuderte er ihr einen Blitz nach, der aber nur eine hochstämmige Eiche zersplitterte. In seinem Ingrimm, sich so verhöhnt und betrogen zu sehen, fuhr er hinab in den tiefsten Schacht des Gebirges, mit dem festen Entschluss, die Menschen für immer zu meiden.

Seine Liebesgeschichte wurde indessen bald bekannt, und von Mund zu Mund ging bald der ihm erteilte Spottname Rübezahl.