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Der Detektiv – Band 25 – Das Siegellacktröpfchen – Kapitel 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Siegellacktröpfchen

Kapitel 4

Die Erbin

Blindley flüsterte mir zu: »Hören wir auf! Wir passen beide doch nicht genügend auf.«

»Mir sehr recht«, sagte Harst da. »Ich möchte Sie Verschiedenes fragen, bester Blindley. Können Sie mir angeben, wo die Bewohner des Schlosses ihre verschiedenen Räume haben, wo also jeder untergebracht ist? Ich sehe, dass diese Zeichnungen jedes der vier Stockwerke darstellen: Kellergeschoss, Hochparterre, erster Stock, Dachgeschoss.«

Blindley stand auf und beugte sich über Harsts Sessel, zeigte auf die Räume und gab an, welche davon und von wem sie bewohnt waren.

»Danke«, meinte Harst. »Das genügt mir. Jedenfalls ist diese Verteilung etwas sonderbar. Weshalb wohnt nicht alles im Ostflügel zusammen? Weshalb haust dort nur der Lord mit fünf der Polizisten und seinem Kammerdiener?«

»Weil Seine Lordschaft sich sicherer dünkt, wenn jeder Flügel bewohnt ist«, erklärte Blindley achselzuckend. »Den Westflügel meidet der Lord überhaupt. Dort hatten seine Gattin und die Kinder seiner Zeit ihre Gemächer. Die Räume werden nie betreten. Es war eine Laune des Lords, die Türen vermauern zu lassen. Er sagte zu mir einmal: ›Ich habe die, die ich liebte und die mir entrissen wurden, nicht wie andere ihre Toten beerdigen können. Nun habe ich jene Räume in ein Grab verwandelt und stelle mir vor, dass meine Frau und meine Kinder dort ruhen.‹ Jedenfalls sind es acht Räume, die miteinander in Verbindung stehen, zu denen nun jeder Zugang fehlt. Die Zimmer sind genauso belassen, wie sie damals aussahen, als die Lady und die Knaben verschwanden. Acht Monate später kam ich hierher. Da waren die Türen schon vermauert. Ich hätte mich gern einmal dort umgesehen. Aber Lord Edward hatte wohl recht, als er meinte, ich würde dort nichts Wichtiges entdeckten, da ja bereits die berühmtesten Detektive der Welt dort umsonst nach irgendwelchen Spuren gesucht hätten, die vielleicht einen Lichtstrahl in das Dunkel dieser Tragödie werfen könnten.«

Harst nickte. »Das mag schon sein. In den Zimmern wird man auch kaum etwas finden. Dazu waren die Leute doch wohl zu schlau, welche die drei Personen entführten. Hat man denn nie irgendetwas darüber ermittelt, ob an jenem Tag verdächtige Leute in der Nähe des Schlosses sich herumgedrückt haben?«

»Nein … nichts!«

»So, so … das würde also ebenfalls in meine Theorie hineinpassen.« Harst rauchte nun eine seiner Mirakulum-Zigaretten mit behaglichem Lächeln.

»Theorie?« Blindley hatte dieses Wort einen ordentlichen Ruck gegeben. »Theorie? Bester Harst … dann müssen Sie ja bereits …«

»Halt … halt!«, warnte Harst. »Keine verfrühte Freude, Blindley! Es kann alles auch ein Fehlschlag werden. Noch eine Frage: Befindet sich außer dem Lord, Doktor Halfing, Ihnen und Ihren Detektiven zurzeit noch jemand hier im Schloss, der damals während der Überfahrt von Kapstadt nach hier mit an Bord der India war?«

»Gewiss. Zunächst Seiner Lordschaft Kammerdiener Alexander Bebragson. Dann noch der Sohn des Hausmeisters Thomas Barton, der junge Reginald Barton, der hier den Hausingenieur für die Beleuchtungs- und Warmwasseranlage spielt, übrigens ein sehr fleißiger Mensch, der all das ganz allein entledigt, was doch nicht ganz einfach ist. Er setzt seinen Ehrgeiz darein, keinerlei Hilfe zu gebrauchen.«

Harsts Mienen strafften sich plötzlich. Er stand auf.

»Blindley«, sagte er ganz leise und jedes Wort betonend. »Holen Sie uns jetzt mal Doktor Halfing her. Dann will ich Ihnen beiden so Einiges mitteilen, was Ihnen etwas die Augen öffnen dürfte.«

Drei Minuten später saß Halfing in dem Sessel, den vorhin der Lord innegehabt hatte.

»Doktor«, begann Harst. »Ich bitte Sie, jetzt ganz ehrlich zu sein. Ich sage Ihnen gleich: Ich teile Ihren Verdacht! Also, ehrlich, Halfing!«

Dieser senkte verlegen den Blick.

»Ich verstehe Sie nicht, Master Harst«, stammelte er.

»Oh, Sie verstehen mich sehr gut. Sie fürchten nur, ein offenes Wort könnte Ihnen vielleicht Ihre Stellung kosten. Weshalb sangen Sie vorhin hier ein so stark übertriebenes Loblied auf Miss Dagna Urbington und auf Thomas Barton? Die Ausdrücke aufs Trefflichste, aufs Allergewissenhafteste und mustergültig und vorzüglich fielen mir auf. Ich hatte das Gefühl, als wollten Sie mich auf recht harmlose Art so etwas mit der Nase auf diese beiden Personen stoßen. Schütteln Sie nicht den Kopf: Es ist so! Ich sollte auf diese Leute aufmerksam werden. Und – trösten Sie sich, ich wäre auch ohne Sie auf Miss Urbington als eine Frau gekommen, die Beachtung verdient! Sehen Sie, ich habe mir hier aus Blindleys Bibliothek ein Werk über das englische Erbrecht herausgesucht. In den Anmerkungen zu ein paar Paragrafen fand ich auch Erläuterungen über die Erbfolge in englischen Adelsgeschlechtern. Ich holte mir das Buch, nachdem ich von Ihnen gehört hatte, dass Miss Dagna eine entfernte Verwandte des Lords sei. Vermutlich ist sie die Einzige von seinen direkten Verwandten, sagte ich mir, die noch als seine Erbin in Betracht kommt. Das Buch hier bestätigte mir, dass die Erbfolge in England auf die entferntesten, auch bürgerliche Verwandte selbst bei Adelsgeschlechtern zurückgreift. Das wäre das eine. Um nun noch etwas anderes zunächst nachzuholen: Als ich hierher gebracht wurde, forderte ich nicht ohne Grund, dass niemand mein Zimmer hier betreten dürfte und dass mein wahrer Zustand verschwiegen werden sollte. An Bord der India musste sich jemand befunden haben, der irgendwie mit den Feinden des Lords in Verbindung stand. Wie hätte sonst der Warnungsbrief an mich die Bemerkung enthalten können, dass ich mit Chester Blindley über die Familientragödie gesprochen und ihm meine Hilfe zugesagt hätte? Bitte, geben Sie nun genau auf meine Ausführungen acht – ganz genau! Thug, die Mörderfanatiker, sollten aus Rache auch Edward Wolpoore nachstellen. Der Drohbrief an mich rührte von einem geheimnisvollen Inder her. Der ermordete Knabe, dessen Heimat bisher nicht ermittelt ist, trug im linken Armgelenk eine Tätowierung in Gestalt einer dreiköpfigen Puppe.«

»Ah!«, rief Blindley aufspringend. »Das ist ja das Zeichen der Thug …!«

»Behalten Sie Platz Blindley. Ich dachte es mir. Der Knabe gehörte also zu der Mördersekte – unzweifelhaft. Ebenso fraglos auch der Inder Rabindra ben Misore. Woher wusste dieser nun, dass ich mit Ihnen, Blindley, jenes Gespräch an Bord der India geführt hatte? Woher? Ich habe mir auf meinem Krankenlager hier genau die Szene damals auf Deck ins Gedächtnis zurückgerufen, als wir dieses Thema verhandelten. Und da erinnerte ich mich an einen jungen Menschen, der unweit von uns mit einer Angel den Haifischen auflauerte.«

»Ganz recht – ganz rechtbestätigte Blindley mit einem Nicken. »Es war dies der junge Reginald Barton.«

»Ja. Den Namen erfuhr sich erst vorhin von Ihnen. Dieser Barton kann als Einziger verraten haben, was nach der Vereinbarung zwischen Wolpoore, Ihnen und mir streng geheim gehalten werden sollte; dass ich hierher kommen würde! Und als ich kam, als ich jeden Verfolger abgeschüttelt hatte, da … da versucht man mich hier dicht vor dem Schloss zu vergiften! Man hatte mich also hier erwartet, man hatte den alten Hindu mit der Ziege bereitgestellt, damit man jede Chance ausnutzen könnte, mich zu beseitigen, bevor ich das Schloss betrat. Ich behaupte nun: Dieser Hindu ist von Leuten angeworben worden, die hier im Schloss wohnen. Nur von dem hochgelegenen Schloss aus konnte nämlich festgestellt werden, dass zwei Männer von Madras her sich näherten und dann bei der Felsengruppe lagerten; nur von hier aus kann der alte Hindu mit seiner Ziege zu uns hin dirigiert worden sein! Weil ich dies annahm, wollte ich mich hier nach Möglichkeit schützen; und weil ich hier Fremde vermutete, war mein Ohr für jede Kleinigkeit geschärft und mein Geist beständig auf der Suche nach diesen Feinden. Dann kamen Sie, Doktor, und hielten ihre Lobreden auf die einzige Erbin des Lords und auf den Hausmeister, dann bat ich mir den Grundriss des Schlosses aus und ließ mir von Blindley erläutern, wo jeder hier wohnte; dann teilte Blindley mir mit, dass gerade Miss Urbington und die beiden Bartons, Vater und Sohn, allein im Westflügel wohnen. Also auch der Hausmeister, den Sie, Doktor, mir so ganz besonders verlässlich schilderten, so mit einem gewissen Zuviel im Ausdruck!«

Harst schwieg und schaute Halfing ernst fragend an.

Dieser zauderte noch etwas, platzte dann aber heraus: »Nun gut, wenn ein Mann wie Sie meinen Verdacht teilt, will ich sprechen. Ja, sowohl die Bartons als auch die Urbington sind mir seit Langem verdächtig. Ich hatte bemerkt, dass die Urbington sich alle Mühe gab, den Lord in ihre Netze zu locken. Sie wollte von ihm geheiratet sein. Als ihr dies nicht glückte, hatte der junge Barton mehr Glück. Ich weiß, dass sie zumindest heimlich verlobt sind. Jedenfalls stecken die drei unter einer Decke. Ich habe schon viermal beobachtet, wie sie im Keller des Westflügels, wo die maschinellen Anlagen sich befinden, stundenlang verweilten. Ich spürte ihnen so etwas auf eigene Faust nach. Und jetzt, wo Sie, Master Harst, soeben den Verdacht aussprachen, der alte Hindu mit der Ziege müsste vom Schloss aus zu Ihrem Lagerplatz hin dirigiert worden sein, ist mir eingefallen, dass die Urbington vorgestern Abend gegen halb 8 Uhr das Schloss verlassen hat und erst nach einer Stunde zurückgekehrt ist. Sie kauft nun vieles für die Küche in einem Hindudorf ein, das drei Kilometer nördlich in den Bergen liegt. Vielleicht wäre der Mann mit der Ziege dort zu finden.«

Harst hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Wie er nun stoßweise den Rauch in die Luft blies und dabei mit der linken Hand den einen der Briefe, die Ankündigung des Verschwindens der Lady und der Knaben, hoch emporhielt, da beugten wir drei anderen uns weit vor und lasen ihm die nächsten Sätze gespannt von den Lippen ab.

»Dieser Brief ist eine Fälschung!«, sagte er. »Die Schrift ist ganz geschickt nachgeahmt. Aber es ist nicht dieselbe wie auf den drei anderen Briefen. Und der Siegellack, der zu den Tröpfchen auf dieser Fälschung benutzt wurde, ist ebenfalls nicht derselbe wie bei den übrigen Schreiben. Der Geruch verriet mir das deutlich. Bei dieser Fälschung hat man einen stark parfümierten Siegellack verwandt, wie er nur in Europa für Damen hergestellt wird als halbe Spielerei. Wer sind nun diese Fälscher? Die drei anderen Briefe, zwei an die Wolpoores gerichtete, einer für mich bestimmt, stammen wohl fraglos von den Leuten her, die seit mehr als fünfzig Jahren alles, was Wolpoore heißt, unerbittlich verfolgen und vernichten. Aber nun diese Fälschung, die der Lord bei seiner Heimkehr auf seinem Schreibtisch fand? Wer steckt als Urheber dahinter? Ich behaupte die Urbington und ihre Verbündeten! Ich werde das auch beweisen. Die Urbington hatte ein Interesse daran, dass die Lady und die Knaben verschwanden. Sie wollte zunächst selbst Lady Wolpoore werden. Um den Verdacht auf andere abzuwälzen, wurde der Brief angefertigt – nach dem Muster der beiden, die der Lord besaß.«

Abermals sprang Chester Blindley auf.

»Herr im Himmel, Master Harst, wenn Sie recht hätten!«, rief er gepresst. »Wenn diese Frau schon damals mit 22 Jahren so verderbt gewesen wäre, die Lady und die Kinder mithilfe der beiden Bartons zu beseitigen! Ja, wenn ich daran denke, dass die Bartons gleichzeitig mit der Urbington aus England hierherkamen, wenn ich das in Erwägung ziehe, was Doktor Halfing über die drei uns mitteilte und …«

»…, wenn man schließlich noch sich fragt, weshalb wohl Reginald Barton jede Hilfe bei der Bedienung der Maschinen ablehnt!«, fügte Harst schnell hinzu, »dann, meine Herren, dann muss man auf den Gedanken kommen: Die Leichen der Lady und der Kinder sind in den Kellern des Westflügels irgendwo verscharrt!«

Doktor Halfing fuhr empor. »Man muss dort suchen – unbedingt! Wir werden es tun! Wir …«

Harst hatte ihm energisch zugewinkt. »Ruhe, Doktor. Ruhe! Gewiss werden wir suchen – noch in dieser Nacht! Blindley, sind Ihre Leute absolut zuverlässig?«

»Ja – durchaus!«

»Gut. Dann geben Sie Befehl, dass sofort der Gewandteste herauszubringen sucht, was die Urbington und die Bartons jetzt treiben. Es ist gerade halb 10. Vielleicht hocken sie wieder beisammen. Sollte dies der Fall sein, so können wir ja sofort in die Keller hinab.«

Blindley eilte davon.