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Der Lugennatzl von Lugenhausen Teil 1

Der Lugennatzl von Lugenhausen
und seine wunderbaren Reiseabenteuer zu Land und zu Wasser als Schuhkünstler, Kammerdiener, Kindsmagd, Kindervergrößerer, Windmacher, Riesenkatzenfabrikant, Mastbaumausreißer, Meerkropfbesitzer, Robinson auf einer lebendigen Insel, Luftfahrer nach Schlaraffia und Entdecker des sechsten Weltteiles, wo die Welt mit Brettern verschlagen ist, usw.

Wie der Lugennatzl von Lugenhausen in die Fremde geht

Vom sanften Licht des Vollmondes beleuchtet, lag das anmutige Dörflein Lugenhausen, eine kleine halbe Stunde von einer großen Seestadt entfernt, mitten unter zahllosen Obstbäumen in nächtlicher Ruhe.

Man hörte nur das Klatschen eines Knieriemens, mit dem der Schuhmacher, Meister Eustachius Schlager eine Jacke von Zwillich ausklopfte, die aber nicht am Kleiderholz hing, sondern von seinem achtzehnjährigen Stiefsohne, Ignatius Wahrmund, ganz zugeknöpft am Leib getragen wurde.

Die Mutter des Ignatius heiratete nach dem Tod ihres Mannes den Hausgesellen Schlager, der seinem Namen alle Ehre machte, denn er prügelte seine viel ältere Frau an jedem Abend nach seiner Heimkehr von der Schnapskneipe, bis diese geschlagene Person nach zwei Jahren ihm den Possen spielte, zu sterben. Um seine gewohnte abendliche Leibesbewegung nicht lange aussetzen zu müssen, heiratete er bald darauf ein großes, baumstarkes Mädchen, welches er schon am nächsten Tag nach der Hochzeit mit seinem Knieriemen auf die nämliche Art bekanntmachen wollte wie seine erste Frau. Aber die neue Frau verstand keinen Spaß. Sie warf den Eustachius zu Boden und fuchtelte ihn mit dem Knieriemen so windelweich, dass er vier Tage lang kein Glied rühren, nichts arbeiten und auch, was ihm am schwersten fiel, nicht in die Schnapskneipe gehen konnte. Sie pflegte ihn sorgfältig, wie es einer rechtschaffenen Frau geziemt, wodurch der geschlagene Mann einen doppelten Respekt bekam vor seiner Frau, mit welcher er von nun an ein friedliches Leben führte.

Zu dieser Zeit war Ignatius 12 Jahre alt und hatte schon alles gelernt, was er in der Dorfschule lernen konnte. Er war ein guter, fröhlicher Junge, der niemanden etwas zu Leide tat, aber, seinem Namen zum Trotz, ein Lügner ohne Gleichen und nur im äußersten Notfall im Stande, die Wahrheit zu sagen, sodass er allgemein der Lugennatzl von Lugenhausen genannt wurde.

Seine Lügen blieben jedoch immer unschädlich für andere Menschen. Der Lehrer meinte, dass er Anlagen zu einem Dichter habe, und lieh ihm Bücher zum Lesen, unter denen ihm Reisebeschreibungen die liebsten waren. Jeden freien Augenblick benutzte er zum Lesen, und oft las er nachts stundenlang am Dachfenster, wo nur der Mond seine Lampe war. Er galt auch sehr viel bei dem jungen, sehr geschickten Pfarrvikar, dem sein aufgeweckter Witzkopf gefiel und der ihm an Sonn- und Feiertagen Unterricht in der Erdbeschreibung, in der französischen und englischen Sprache und in manchen nützlichen Kenntnissen gab. Der Junge lernte über Hals und Kopf täglich am frühesten Morgen, bevor er in die Werkstätte musste, und abends nach der Arbeit. Das nötige Licht kaufte er von seinen Ersparnissen, denn mit 16 Jahren war er schon ein ausgelernter, vortrefflicher Schuhmachergeselle, der bei seinem Stiefvater gegen Lohn und Kost arbeitete, aber diesen in seiner Kunst weit übertraf, der nur Stiefel und Schuhe für Dorfbauern und Matrosen machen konnte und diese schlecht genug, während er die Kundschaft in der Seestadt nur der schönen und geschmackvollen Arbeit des Ignatius zu verdanken hatte.

Seine verstorbenen Eltern hatten nicht für die Zukunft ihres einzigen Sohnes gesorgt. Der Vater hatte der Mutter alles angeheiratet, und diese ebenso ihrem zweiten Mann, der nur die Verpflichtung übernehmen musste, aus dem Jungen einen guten Schuhmacher zu machen. Übrigens lagen für diesen 70 Florentiner auf dem kleinem Haus, das ihm zu jeder Zeit Unterschlupf gewähren musste. Von Gott und Rechtswegen hätte er das Häuschen und das Schuhmacherrecht erhalten sollen, was nicht geschah, weil sein Vater nicht väterlich für ihn sorgte und die leichtsinnige Mutter als eine alte verliebte Gans mehr auf ihr zweiten Mann als auf ihren Sohn schaute.

Die klugen Leser werden den Ignatius für einen dummen Jungen halten, weil er im Dienste seines Stiefvaters blieb und sich von ihm schlagen ließ, während jeder Schuhmachermeister in der Seestadt es für ein besonderes Glück gehalten hätte, ihn als Gesellen zu haben. Er bekam auch die vorteilhaftesten Anträge dieser Art in Menge, schlug sie aber alle aus. Warum?

Neben dem ursprünglich väterlichen Anwesen, nur durch einige Obstbäume und einen kleinen Zaun getrennt, stand die Hütte der armen Weberleute Werner, die eine einzige, nun siebenzehnjährige, hübsche und tugendhafte Tochter hatten, Namens Dorothea oder kurzweg Dorchen. Die beiden jungen Leute liebten sich schon von der miteinander besuchten Schule her. Dorchens Eltern hatten gegen diese Liebschaft nichts einzuwenden, weil sie wohl wussten, dass die Söhne wohlhabender Dorfbewohner keine Lust haben würden, ihre arme Tochter zu heiraten. Meister Eustachius schaute dabei durch die Finger, durch den Gedanken getröstet, dass diese Liebe den geschickten Arbeiter Ignatius noch lange im Dorf und folglich auch in seiner Werkstätte zurückhalten werde, denn schon längst sah er mit Furcht dem Augenblicke entgegen, von ihm verlassen zu werden. Mit der vornehmen Kundschaft in der Stadt musste es dann gleich ein Ende nehmen, was er recht wohl einsah.

Eustachius hatte wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. Nur die Liebe, nur sein gutes Dorchen, hielt den Jungen noch im Dorf zurück, nebenbei auch der Wunsch, von dem gelehrten Priester noch so viel wie möglich zu lernen. Mit jedem Feierabend kam der Jüngling in des Webers Hütte, wo die Mutter und Dorchen, an deren Seite er saß, fleißig spannen und Vater Werner einen Pack Zeitungen las, die ihm der Pfarrherr immer für den vorigen Monat zur Durchsicht schickte. An jedem Sonnabend brachte Ignatius dem Dorchen sein Wochengeld, und an Sonntagen abends oft gar viele Groschen, die er in der Stadt für abgelieferte Stiefel und Schuhe als Trinkgeld erhalten hatte, für die dann Dorchen ein gemeinsames Abendessen bereiten und für Vater und Mutter einen Krug Bier beim Wirt holen musste. Das Wochengeld verwahrte sie in einer Sparbüchse aus Ton, so groß wie ein Krautkopf, für den Fall, dass sie sich einmal ansässig machen könnten. Glaube, Liebe und Hoffnung sind ein heiliges Kleeblatt in den Herzen aller Menschen, besonders der Liebenden.

Am nächsten frühen Morgen nach dem oben erzählten Prügelabend saß Meister Eustachius schon bei der Arbeit, sehr verwundert darüber, dass Ignatius, der sonst immer der Erste war, auf sich warten ließ. Er konnte nicht krank und nicht ausgegangen sein, denn er hörte ihn hin und her gehen in seiner Kammer über der Werkstätte, von der sie nur die einfachen Bretter einer hölzernen Decke trennten. Nach einem halbstündigen Warten ging dem Meister die Geduld aus. Er nahm sein altes Hausmittel, den Knieriemen, und stieg in die Kammer hinauf, um den Säumigen zur Arbeit herunterzuprügeln. Er blieb wie versteinert auf der Türschwelle stehen, als er Ignatius in Feiertagskleidern an einem alten Tischlein stehen sah, sein Bündlein schnürend.

»Potztausend!«, rief der Meister aus, »wie geputzt. Ist denn heute Feiertag?«

»Für mich schon«, erwiderte der Gefragte.

»Wieso?«

»Ich gehe auf Wanderschaft in die Fremde.«

Der Meister wurde bei diesen Worten blass. »Das kann nicht sein, ich gebe dir keine Erlaubnis dazu!«

»Eure Erlaubnis ist auch nicht notwendig, da ich bereits die Erlaubnis des Herrn Dorfrichters erhalten habe.«

»Das glaub ich nicht, denn aus deinem Mund kommt nie ein wahres Wort; deswegen nennen dich auch die anderen Burschen im Dorf mit Recht den Lugennatzl von Lugenhausen.«

»Was diese sagen, kümmert mich blutwenig. Hier ist die schriftliche Erlaubnis des Herrn Dorfrichters.« Er zog sie aus seiner Brieftasche hervor und reichte sie ihm zur Einsicht dar.

»Bleib bei mir, Natzl!«, sagte der Meister, die Schrift zurückgebend und gute Saiten aufziehend, »ich will dir mehr Wochenlohn geben, und …«

»Und mehr Schläge, nicht wahr, Meister?« Er nannte ihn niemals Vater und die Meisterin niemals Mutter. »Nein, nein, ich habe bei Euch genug ausgestanden und will jetzt fort. Ich muss doch auch sehen, wie es draußen in der Welt aussieht, und komme nicht zurück ohne Geld, ohne viel Geld. Dann kaufe ich ein Haus samt Schusterrecht in der Seestadt und werde dort Meister.«

Gerade dies fürchtete der Herr Eustachius am meisten, denn in diesem Fall verlor er umso gewisser alle Kunden in der Stadt.

»So, und jetzt schreibt mir meinen Entlassungsschein.«

»Ich schreibe keinen.«

»Gut, so gehe ich zum Herrn Dorfrichter und sag es ihm. Dann lässt er Euch kommen, drei Gulden Strafe zahlen, den Entlassungsschein in seiner Gegenwart schreiben und wieder heimgehen. Wie Ihr wollt! Mir ist es gleich.«

»Nun denn, so will ich den Entlassungsschein schreiben, aber denk an mich, du wirst es noch bitter bereuen, meinen Dienst verlassen zu haben.«

»Das fällt mir nicht im Traum ein.«

»Denk an deinen Schatz, Webers Dorchen. Sie wird vor Gram sterben!«

»Das wird sie nicht tun, weil sie nicht so dumm ist, wie ihr meint.«

»Wenn du einmal fort bist, aus den Augen, aus dem Sinn, heiratet sie wohl bald einen anderen.«

»Meinetwegen, wenn ihr ein anderer lieber ist.«

Dorchen war die letzte Hoffnung des Meisters auf das Dableiben seines unentbehrlichen Gesellen. All seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Er schrieb nun den Entlassungsschein, zahlte den treffenden Wochenlohn und wünschte ihm Glück auf die Reise.

»Das französische Werkzeug«, bemerkte Ignatius, »welches ich mir einst in der Seestadt gekauft habe, nehme ich mit. Es ist schon eingepackt.«

»Geht mich nichts an.«

»Es ist nur gesagt, damit Ihr es wisst.«

Unter der Haustür stand die Meisterin, welche jedes Wort gehört hatte.

»Behüte Euch Gott, Meisterin! Ich dank Euch für alles empfangene Gute. Da ich noch ein Kind war, habt Ihr manche Schläge mir erspart. Ich habe ein gutes Herz und vergesse es Euch nicht. Jetzt aber müsst Ihr selbst Gott danken, dass ich aus dem Haus komme, damit das Schlagen einmal ein Ende nimmt. Kommt ein anderer statt meiner, so duldet dem Meister dieses rohe Betragen nicht mehr. Ein anderer könnte wohl in seinem Zorn den Meister erstechen oder totschlagen!«

»Solltest bei uns bleiben, Natzl!«, erwiderte sie. »Schau, ‘s Dorl …« Mehr konnte sie nicht sagen, denn die Tränen traten ihr in die Augen, welche sie mit ihrer Schürze trocknete.

»Wir können nicht ewig beisammen bleiben, behüte Euch Gott, Meisterin!«, sagte Natzl, drückte ihr die Hand und ging geraden Weges zu Dorchen, mit welcher und ihren Eltern er sein Vorhaben schon seit mehreren Tagen wohl beraten und verabredet hatte.

Sein nächster Gang war zum Herrn Pfarrvikar, dem er für alle seine Bemühungen herzlich dankte. Dieser lobte seinen Entschluss, in die Fremde zu gehen, erteilte ihm deswegen noch die besten Lehren und schenkte ihm zwei Taler, welche Natzl mit der Bemerkung, dass er ohnehin sein großer Schuldner sei für alles, was er durch seinen Unterricht lernte, erst nach vielem Zureden annahm. Es waren zwar nur 2 Taler, aber bei dem spärlichen Einkommen des jungen Geistlichen doch ein reichliches Geschenk.

Hätten sich Dorchens zahllose Tränen, als Natzl von ihr Abschied nahm, auch nur in Groschen verwandelt, so wäre gar kein Abschied erfolgt und das liebende Pärchen bald an den Traualtar getreten. Ihre Mutter weinte auch, soviel nur bitteres Wasser aus den Augen treten konnte. Der alte Werner und Natzl hatten genug zu tun, beide zu trösten.

»Wir wollen heiraten, liebes Dorchen!«, sagte Natzl, »nicht wahr?«

»Ja freilich«, schluchzte die Geliebte.

»Zum Heiraten gehört Geld?«

»Natürlich!«

»Da wir nun kein Geld haben, so muss ich Geld zu erwerben suchen?«

»Allerdings!«

»Hier kann ich nicht so viel Geld erwerben und wollt ich auch 20 Jahre lang Tag und Nacht arbeiten und sparen.«

»Du hast recht.«

»Sieh, liebes Dorchen, ich muss also fort von hier, in die Fremde, in eine große Stadt, wo der geschickte Arbeiter nach Verdienst bezahlt wird, zum Beispiel nach London.« »Ich sehe es wohl ein, aber wann wirst du zurückkehren?«

»Sobald ich Geld genug habe.«

»Ach, das kann lange dauern!«

»Nun, ich denke – ein Jahr, höchstens zwei.«

»Gott im Himmel, ich sterbe vor Sehnsucht, wenn ich dich so lange nicht mehr sehen kann!«

»Glaub es nicht, Dorchen! Wir sind junge Leute, die ein paar Jährchen gar nicht spüren. Arbeite nur immer recht fleißig, hab Gott vor Augen und bleib mir treu!«

»Daran soll es nicht fehlen.«

»Zur Belohnung mache ich eine vornehme Frau aus dir, wenn ich zurückkomme.«

»Wieso?«, fragte Dorchen, ihre Tränen trocknend.

»Ei, ganz einfach. Ich kaufe meiner Taufpate, der Frau von Rieseling, ihr schönes Rittergut Schwertberg ab, das in unmittelbarer Nähe der Seestadt so prächtig auf einem Hügel liegt, mit der herrlichsten Aussicht auf den Hafen und das Meer. Da führen wir dann ein himmlisches Leben. Bei der schlechten Wirtschaft der alten Frau und ihrer zwei Töchter, dieser hässlichen Vogelscheuchen, muss das Rittergut bis zu meiner Heimkehr ganz gewiss auf die Gant kommen und für den Spottpreis von zweihunderttausend Talern zu haben sein.«

Der Weber und seine Frau schmunzelten und Dorchen sagte lächelnd: »Ja, ja, du bist und bleibst halt der Lugennatzl.«

»Nur Geduld! Du wirst dich überzeugen, dass ich der Wahrmundnatzl von Lugenhausen bin.«

Mit diesen Worten drückte er einen Kuss auf ihre Stirn, rief ein Lebe wohl! und sprang zur Tür hinaus, um einem schmerzlichen Abschied zu entgehen.

Er hörte hinter sich Dorchens durchdringenden Schrei, klopfte noch an das Fenster, sprach tröstend: »Ich schreibe dir bald!« Und fort war er. Wie besessen rannte er zum Dörflein hinaus nach Schwertberg, um von der Frau Taufpate Abschied zu nehmen und von ihr noch ein Reisegeld zu bekommen.

Erst nach großer Mühe gelang es ihm, vorgelassen zu werden. Frau von Rieseling saß mit ihren beiden Töchtern beim Frühstück. Natzl sah auf dem Tisch Kaffee, Tee, Zuckerbrot, Butterschnitten, Schinken, Wein und zweierlei Liköre.

Da möchte ich mithalten!, dachte er sich, weil er noch ganz nüchtern war.

»Was willst du?«, fragte ihn die Alte nach einem unfreundlichen Blicke, ohne zu sagen, dass er Platz nehmen solle.

»Gnädige Frau Pate, ich komme, um Abschied zu nehmen, da ich in die Fremde gehe.«

»So? In die Fremde?«, erwiderte die Frau Pate, ohne ihn anzusehen, indem sie auf einen Teller eine große Tasse stellte, sie mit Kaffee füllte, den sie stark zuckerte, auf den Rand des Tellers Zuckerbrötchen und Schinkenschnitten legte und das Ganze auf einem Kaffeebrett an die Ecke des Tisches schob, an welcher Natzl stand.

»Oh! Ich danke Ihnen vielmals für dieses gute Frühstück, gnädige Frau Pate!«, sagte Natzl und wollte zugreifen, als die ältere Tochter, Amalie, zornig vom Stuhl aufsprang und den guten Natzl mit den Worten zur Seite stieß: »Weg da! Das gehört dem Milly, meinem Hund.«

»Wie frech doch dieser Bursche ist!«, äußerte die jüngere Tochter. Keine der beiden Töchter war weniger als vierzig Jahre alt.

»Dein Vater war soeben bei mir und hat mir schon alles gesagt. Er ist froh, einen solchen Taugenichts, wie du bist, aus dem Haus zu bringen, da die Schläge, welche er dir täglich geben musste, doch nichts gefruchtet haben. Du seiest und bleibest der Lugennatzl, aus dessen Mund kein wahres Wort komme und habest Umgang mit einem verdächtigen Weibsbild, einer Webertochter. Amalie, gib ihm das Stück Brot dort hinterm Ofen, das du gestern einem Bettler schenktest, der es dir hochmütig vor die Füße warf.«

Während Amalie das schwarze, harte Stück Brot holte und vor Natzl hinlegte, suchte dieser seinen Zorn zu unterdrücken, den der ungerechte Angriff auf die Ehre seines tugendhaften Dorchens in seinem Inneren aufgestachelt hatte. Zur größten Wut der drei Damen setzte er den Hut auf und stellte sich mit verschränkten Armen vor sie hin, indem er mit funkelnden Augen sprach: »Ich, der Lugennatzl von Lugenhausen, will Euch nun beweisen, dass ich auch die Wahrheit sagen kann. Der Meister Schlager ist ein besoffener Lump, der mir mein elterliches Anwesen gestohlen hat, und von dem Augenblick an, da ich sein Haus oder eigentlich mein Haus, verließ, den Bettelstab herrichten darf. Dorchen, die Webermeisterstochter, ist eine schöne und tugendhafte Jungfrau, und Ihr alle drei seid nicht wert, ihr auch nur die Schuhriemen aufzulösen.

Dieses Stück Brot da hebt wohl auf, denn es kann eine Zeit kommen, wo ihr froh sein werdet, mit erbetteltem Holz eine Wassersuppe davon kochen zu können zur Stillung eures Hungers. Die ganze Gegend weiß ja, dass von diesem durch Eure Liederlichkeit verschuldeten Rittergut kein Stein mehr Euch gehört. Die Gant klopft bald an Eure Tür, dann kaufe ich das Rittergut und werde Euch dann meine Großmut dadurch beweisen, dass ich die Frau Pate zum Stallausmisten, und Euch, ihr zwei schnippischen Wildenten, zum Gänsehüten behalten will. So, jetzt habt Ihr die Wahrheit gehört und die Weissagung Eurer Zukunft!«

Die drei Damen waren sprachlos vor Entsetzen, über diese derbe Sprache, und blieben wie versteinert sitzen, während Natzl über die Treppe hinunter und zum Schlosstor hinauseilte, bevor die Verlassenen auf den Einfall geraten konnten, ihm einen Fanghund nachzuhetzen.

Im Hafen fand er mehrere Schiffe segelfertig und auf dem Damm eine große Menge von Menschen von jedem Alter, Geschlecht und Stand. Er trat mitten unter sie und rief mit lauter Stimme: »Meine Herren und Damen! Wer von Ihnen braucht einen Kammerdiener, Portier oder Kutscher, einen Jäger oder Fischer, einen Leibhusaren oder Stallmeister, einen Sekretär oder Gutsverwalter, eine Köchin oder Kindsmagd? Ich bin alles in allem!«

Er hielt diese Ansprache schnell dreimal nacheinander in deutscher, französischer und englischer Sprache, worauf ein ungeheures Gelächter entstand. Jedermann schaute mit Vergnügen auf den hübschen, fröhlichen Natzl. Bald trat ein vornehmer Engländer auf ihn zu, Lord Astley, wie er sich nannte, seine Frau am Arm, die in gesegneten Umständen schon weit vorgerückt war. Der Lord fragte ihn, ob er Lust habe, bei ihm Kammerdiener zu werden gegen freie Verpflegung und monatlich 60 Gulden. Ein so guter Anfang seiner Wanderschaft machte den Natzl glücklich. Er nahm den Antrag dankbar an. Eine Stunde später war die Einschiffung geschehen.

Vom Verdeck aus erblickte Natzl den Pfarrvikar, den Weber und dessen Frau sowie sein liebes Dorchen, die ihm vom Damm aus mit ihren Taschentüchern zuwinkten. Er erwiderte auf gleiche Weise ihre Grüße, bis sie bei der schnellen Fahrt des Schiffes immer mehr seinen Blicken entschwanden. Das Schiff segelte nach London, wo es glücklich landete.

Nach drei Wochen erhielt Dorchen einen Brief von Natzl, worin geschrieben stand:

Herzallerliebstes Dorchen!

Ich habe hier das beste Leben und vermisse nichts als dich, deine Eltern und den Herrn Pfarrvikar. Hier schicke ich dir eine Banknote zu sechzig Gulden. Spare nicht ängstlich, denn eben so viel schicke ich dir jetzt am Ende eines jeden Monats. Lebt nicht mehr so ärmlich wie bisher, und wenn eines von euch krank wird, so nehmt nicht den Dorfbader, der ein Esel ist, sondern den besten Arzt in der Seestadt. Antworte mir erst auf den zweiten Brief, den ich dir im nächsten Monat schreiben werde, da deine Antwort mich nicht mehr antreffen und wahrscheinlich verloren gehen würde, da wir morgen auf das Landgut des Lord abreisen, daher ich dir die richtige Adresse erst im nächsten Brief mitteilen kann.
Ich gelte alles bei meiner Herrschaft; es gibt hier auch viele Nebengeschenke, und wenn ich ein Jahr lang in diesem Dienst bleibe, haben wir genug, um zu heiraten und in der Seestadt uns ansässig zu machen. Lebt alle recht wohl! Recht viele Empfehlungen an den Herrn Pfarrvikar!

Gott sei mit dir! Tausend Küsse von deinem dich ewig liebenden
Natzl,
Kammerdiener des Lord Astley, zugleich Hebamme, Säugamme und Kindsmagd der Lady Astley
London, den 14. August 18…

Dorchen las diesen Brief mit der größten Freude. Als sie aber an die Unterschrift kam, errötete sie und wurde ganz verwirrt.

»Je nun, ist halt wieder ein Spaß vom Lugennatzl!«, sagte ihr Vater lächelnd, und der Pfarrvikar meinte, dass der Natzl in seinem zweiten Brief gewiss einen näheren Aufschluss darüber geben werde.

Aber ach! Dieser zweite Brief war nach drei Monaten noch nicht gekommen. Dorchen war untröstlich, sie hielt Natzl für tot; denn im Falle er noch lebte, hätte er ohne allen Zweifel geschrieben. Auf ihr dringendes Bitten schrieb der Pfarrvikar an Lord Astley und erhielt schon mit der nächsten Post die Antwort, dass er am 14. August abends, am Tage vor seiner Abreise auf sein Landgut, seinen Kammerdiener Ignatius Wahrmund mit einem Brief an einen Freund geschickt habe. Der Brief sei richtig bestellt worden, aber der Kammerdiener seitdem nicht mehr nach Hause gekommen und nirgends mehr gesehen worden war. In seinem Haus habe nicht das Geringste gefehlt, wie er es von diesem grundehrlichen jungen Menschen nicht anders erwartete. Seine tätigsten Nachforschungen durch die Gerichte seien erfolglos geblieben. Er glaube nicht, dass Natzl in der Themse verunglückt oder ermordet sei, weil sich gar keine Spuren zeigten, sondern halte es für sehr wahrscheinlich, dass er auf irgendeine Weise in die Klauen eines Seelenverkäufers könnte gefallen und auf ein Sklavenschiff gebracht worden sein. Es sei ihm unendlich leid, den Wahrmund verloren zu haben. Und Er habe Personalbeschreibungen desselben in alle Hafenstädte von ganz Amerika und Australien senden lassen, um ihn womöglich aufzufinden. Sowie er Näheres erfahre, werde er sich beeilen, den Herrn Pfarrvikar davon in Kenntnis zu setzen.

Dorchen schöpfte wenig Trost aus diesem Briefe, denn es vergingen zwei Jahre, ohne dass noch ein Brief vom Lord kam. Sie aber blieb standhaft bei ihrer Erklärung, auf ihren geliebten Natzl zu warten bis zum letzten Hauch ihres Lebens. Dies war nicht bloß eine Sprecherei, denn sie schlug in dieser Zeit vier sehr vorteilhafte Heiratsanträge aus.

Endlich gegen das Ende des dritten Jahres kam der Tag der Entscheidung, die Lösung aller Zweifel.

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