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Ein Brief vom Keilerstein

Christian von Aster
Ein Brief vom Keilerstein

Dunkle Phantastik, Hardcover mit Lesebändchen, Buchheim Verlag, Grimma, März 2019, 128 Seiten, 15,99 Euro, ISBN: 9783946330097, Umschlagbild und Innenillustrationen von Holger Much
buchheim-verlag.de

»Das Ganze mutete wie ein surrealistischer Film an, als ob irgendwo hinter dieser undurchdringlichen, fast künstlich anmutenden Dunkelheit neben einer flirrenden Filmkamera Fellini, Jodorowsky oder Greenway hockte und nachdenklich mein Spiel begutachtete. Und ich, der ich meine Rolle so gut wie möglich spielen wollte, bemühte mich, den gelehrigen Schüler zu geben, aufmerksam den Vorträgen Jekylls und Hydes zu lauschen, um irgendwann einmal Doktor Victor Frankenstein persönlich gegenübergetreten.«

Bernhard, ein junger Mediziner, dem für sein Praktikum die renommiertesten Kliniken offenstehen, entscheidet sich für eine Stelle in Schwarzach am Keilerstein, der hintersten Ecke des Schwarzwaldes. Der Grund für seine Wahl trägt den Namen Erwin Sternhammer, ein Mediziner, dem Jahre zuvor wegen »unangemessener Experimente an lebenden Objekten« die Approbation entzogen wurde und der in diesem Zug als »Frankenstein von Marburg« bekannt wurde.

Aus naheliegendem Grund kann Sternhammer nicht mehr prominent in Erscheinung treten, doch lenkt er im Hintergrund die Geschicke der Klinik am Keilerstein.

Dort angekommen, gerät Bernhard in ein Panoptikum skurriler Gestalten – Ärzte, die wie die Darsteller aus einem Hammer-Film anmuten, Gothic-Schwestern und ganze vier Patienten, von denen zwei komatös dahindämmern sowie ein junges Mädchen, welches die Klinik eher als Kinderhort in Anspruch nimmt.

Lediglich die unentgeltliche Behandlung der Dorfbewohner bringt so etwas wie einen normalen Klinikalltag am Keilerstein. Und dann sind da noch diejenigen Patienten, die in der Nacht ankommen und wieder abfahren und von denen tags darauf keine Spur mehr zu entdecken ist.

»In diesen vereinzelten Nächten sah ich, sehr selten allerdings, Autos ankommen; Wagen, aus denen Menschen stiegen, die, begleitet von der jeweiligen Nachtwache und unter den misstrauischen Blicken Graverts und seiner Hunde, in der Klinik und kurz darauf in dem Gang verschwanden. Ich wollte sie weder beobachteten noch belauschen, konnte aber Ankunft und Abfahrt dieser geheimnisvollen Personen, die im Dunkel des Keilersteins zu namenlosen Schatten wurden, nicht ignorieren.«

Den Anhängern deutschsprachiger Phantastik ist Christian von Aster als umtriebiger Autor, Filmemacher, Schauspieler und insgesamt sympathisches Enfant terrible bekannt; unter anderem bildet(e) er zusammen mit Boris Koch und Markolf Hoffmann das Stirnhirnhinterzimmer, das seine Fans mit regelmäßigen Lesungen und einigen gedruckten Büchern beglückt hat.

Passend zu der Unberechenbarkeit des Autors hat die Novelle Ein Brief vom Keilerstein einen leicht experimentellen Charakter. Entsprechend des Titels ist die Geschichte als Brief verfasst, den Bernhard an seinen Freund Thomas schreibt.

Mit der anfänglichen »Beichte«, seinem fragwürdigen Idol nachfolgen (durchaus in seinen beiden Bedeutungen zu lesen) zu wollen, hat der Autor sein Publikum sehr schnell am Haken. Die dichte und zunehmend surreale Atmosphäre seiner Schilderung tun ein Übriges, den Leser der Wirklichkeit zu entreißen. Mit seinen 128 Seiten und dem recht großzügigen Satzspiegel fällt es ohnehin nicht schwer, das Buch in einem Rutsch durchzulesen.

Neben dem skurrilen Pflegepersonal, das Bernhard am Keilerstein erwartet, scheint dort auch ein dauernder Dämmerzustand zu herrschen, der sich nach und nach auch auf Bernhards Gemüt niederschlägt. Die Arbeit an der Klinik scheint ungeschriebenen und unverständlichen Regeln zu folgen, die Bernhard dank zunehmendem Alkoholkonsum und gelegentlichem Sex mit den Schwestern nicht länger hinterfragt. Auch sein Ziel, Erwin Sternhammer persönlich zu treffen, rückt trotz anderslautender Zusicherungen offenbar immer weiter in die Ferne.

Für seine Brieferzählung nutzt Christian von Aster eine sehr korrekte, distinguierte Sprache, schreckt allerdings auch nicht davor zurück, Dinge direkt zu benennen („Mein Gott, Thomas, sie griff erst nach der Flasche und dann nach meinem Schwanz!“), ohne je vulgär zu werden.

Geschmückt wird das Buch, das als handliches Hardcover erschienen ist, von zahlreichen Innenillustrationen des Künstlers Holger Much, der gleichwertig neben dem Autor auf dem Cover genannt ist. Die Bilder stellen eine perfekte Ergänzung zu der grotesk-traumhafte Gruselstimmung dar. Einige der Bilder gibt es in Farbe auf www.holgermuch.de zu sehen.

Fazit:
Fesselnde Briefnovelle, die klassische Gruselstimmung mit surrealer Atmosphäre kombiniert.

(eh)