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Der goldene Fels Kapitel 4

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Viertes Kapitel

Es war drei Tage nach dem Fest in der Villa. Kommerzienrat Helbig stand im Büro seiner Fabrik an einem Stehpult aus ungestrichenem Tannenholz. Die wenigen sonstigen Möbelstücke waren von gleicher Einfachheit. An dem einzigen großen Fenster, das nach Norden ging, waren keine Vorhänge, nur nach innen zurückgeschlagene Holzläden, sodass es alles Licht hereinließ, das der trübe Tag nur hergab. Der Sturm, der in der Festnacht losgebrochen war, tobte mit noch unverminderter Kraft und kalte Regengüsse prasselten gegen die Scheiben.

Hier auf seinem Arbeitsfeld war Helbig ein anderer Mensch als in der Familie. Die kleinen persönlichen Schwächen fielen von ihm ab. Er war ganz Energie, Sicherheit, Verstand. Hier musste man ihn sehen, um zu begreifen, dass er sein Unternehmen zu so glänzender Höhe gebracht hatte.

Beamte, Boten, Geschäftsvertreter folgten einander und wurden alle mit gleicher knapper Sicherheit von Helbig abgefertigt. Aus fernen Ländern, aus Amerika, Japan, Russland, brachten Telegramme Bestellungen und Anfragen. Die Klingel des Telefons ertönte wieder und wieder und rief ihn von der augenblicklichen Arbeit fort. Wenn der Zwischenfall erledigt war, nahm er ein unterbrochenes Gespräch wieder mitten im Satz auf, den er vorher begonnen hatte.

Ein Besucher erschien, den er mit besonders herzlicher Höflichkeit begrüßte. Die vorher Gekommenen waren im Stehen abgefertigt worden, ihm bot er einen der Stühle von weiß gescheuertem Tannenholz an, deren drei sich im Raum befanden. Der Gekommene war Ebisberg, dessen Gesicht in dem trüben Licht des Regentages besonders blass erschien. Er schleuderte sein Monokel mit einer Bewegung der Backenmuskeln vom Auge fort und begann mit einer Frage, wie Helbig der Festabend bekommen sei.

»Danke, Herr Ebisberg. Bei meiner Arbeit gibt es keine Müdigkeit für mich. So, nun lassen Sie uns einmal genauer bereden, wie die Sachen drüben in Amerika stehen.«

Ebisberg zog ein Schriftstück hervor, in das Helbig sich mit Eifer vertiefte, während er die Lektüre mitunter so durch Fragen oder Bemerkungen unterbrach. Nach einer halben Stunde war er fertig und offenbar befriedigt.

»Wir sind auf dem richtigen Weg. Das wird auch Ihr Herr Vater sagen. Wir können anfangen, sobald Sie wieder drüben sind. Wie lange wollen Sie hierbleiben?«

»Vierzehn Tage. Habe schon eine Kabine belegt.«

»Gut. Ich komme noch einmal in dieser Zeit zu Ihrem Papa hinüber. Muss nächste Woche sowieso nach Köln. Und ein paar Tage bleiben Sie noch hier am Ort, nicht wahr?«

»Drei Tage, ja.«

»Wir können also noch alles miteinander bereden. Für heute leben Sie wohl, mein lieber Ebisberg.«

Er gab ihm die Hand. Sein Ton verlor den geschäftlichen Charakter. »Aber eine hübsche junge Frau müssten Sie mit hinübernehmen. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Schade, schade, dass es damals mit meiner Martha nichts war. Zur geschäftlichen Verbindung die persönliche … na, daran ist nichts mehr zu ändern.«

»Nein, das ist es nicht. Ich empfehle mich.«

Er nahm seinen Hut und ging. In der Tür traf er den Ingenieur Burkhardt. Sie begrüßten einander nur mit einer kurzen Verbeugung.

»Sie bringen mir die Lampe?«, fragte Helbig, als Ebisberg verschwunden war.

»Ja, Herr Kommerzienrat.«

»Schließen Sie die Tür einmal ab und geben Sie her.«

Als Burkhardt seinen doppelten Wunsch erfüllt hatte, befestigte Helbig die Glühlampe, die der Ingenieur aus der Seitentasche seines Rockes gezogen und ihm gereicht hatte, neben seinem Pult an der elektrischen Leitung. Dann schloss er die Läden am Fenster und schaltete den Strom ein. In dem verdunkelten Gemach erstrahlte die Lampe mit einem weißen Glanz von ungewöhnlicher Kraft.

»Gut, ausgezeichnet. Ein famoses, klares Licht. Wenn die Stromersparnis wirklich so groß ist wie die Leuchtkraft, haben Sie hier einen Treffer gemacht, auf den ich mit Ihnen stolz bin. Denn eigentlich kann ich doch sagen, mein lieber Burkhardt, ich habe Sie zu dem gemacht, was Sie sind.«

Burkhardt neigte stumm den Kopf und blickte mit seinen schwarzen, düsteren Augen in die blendende Lichtquelle, die seine Schöpfung war.

»Das Patent haben Sie?«

»Ja, Herr Kommerzienrat.«

»Wie wollen Sie die Lampe nennen?«

»Herkuleslampe. Wegen der Kraft und Ausdauer, die sie besitzt.«

»Ein guter Name. Damit lässt sich Reklame machen. Ein Herkules, der die Weltkugel beleuchtet, ich sehe das Bild schon. Aber zum Reklamemachen gehört Geld, und Sie haben keins. Ich übernehme das für Sie, wenn die Sache sich bewährt. Wir müssen selbstverständlich erst ausgedehnte Proben machen, und wenn wir sonst einig werden, würden Sie mir eventuell das Patent verkaufen?«

»Nein, Herr Kommerzienrat.«

»Würden Sie vom fertigen Fabrikat Gewinnbeteiligung vorziehen?«

»Ja, Herr Kommerzienrat.«

»Wir werden sehen. Das alles lässt sich erst nach ein paar Wochen bestimmen. Aber ich habe Vertrauen zu der Erfindung und ich hoffe, sie bewährt sich. Dann sind Sie fein heraus, mein lieber Burkhardt, und ich würde mich freuen, wenn Sie gerade hier, wo Sie geboren sind, mit meiner Hilfe vorwärtskämen. Sie gehören doch nun einmal hierher, gewissermaßen zu meinem Haus.«

»Darf ich die Lampe wieder mitnehmen?«

»Ja, gewiss. Die speziellen Versuche müssen ja doch im Laboratorium gemacht werden.«

Burkhardt öffnete die Fensterläden und löschte die Lampe. Der matte, graue Tag, doppelt grau nach der blendenden Helle, schaute wieder herein.

»Dann kann ich wohl gehen?«, fragte Burkhardt, indem er die Lampe wieder zu sich steckte.

»Ja, ja, Sie haben gewiss auch zu tun.« Helbig wandte sich zu seinem Pult, Burkhardt ging aus der Tür. Was er soeben mit seinem Chef abgemacht hatte, bedeutete vielleicht für ihn eine glänzende Zukunft. Aber es war keine Freudigkeit in seinen Augen, als er nun durch verschiedene Fabrikationsräume zu dem Laboratorium hinüberging, in dem die neuen Erfindungen erprobt wurden. Er sah, tief in Gedanken, düster vor sich nieder, und in dem leidenschaftlichen Eifer, den er dann bei seiner Arbeit entfaltete, verriet sich mehr verhaltene Sehnsucht nach Betäubung andrängender Empfindungen als der frohe Genuss des Erfolges.

In unablässiger Tätigkeit, bei der er sich kaum die Pausen für die nötigen Mahlzeiten gönnte, vergingen ihm die Stunden. Es war schon acht Uhr abends vorüber, als er endlich sein Tagewerk beendete und in das kleine Werkmeisterhaus hinüberging, in dem er zur Welt gekommen war und nun einsam wohnte. Die bisher durch Arbeit niedergehaltene Rastlosigkeit seines Innern brach jetzt aus ihm hervor. Unablässig schritt er in dem kleinen Arbeitszimmer, das der toten Eltern Wohnraum gewesen war, auf und nieder. Häufig trat er ans Fenster, presste die Stirn an eine der kalten Scheiben und blickte hinaus in die schwarze Nacht, in der ein einziges kleines Licht von der Villa durch die sturmgeschüttelten Zweige des Parks herüber leuchtete. Dieses Licht war ein Magnet für ihn, der ihn gewaltsam anzog, wieder und wieder, dessen goldenes Leuchten er gierig mit seinen Blicken trank, um sich mit übermächtiger Anstrengung loszureißen und jedes Mal der Versuchung doch wieder zu erliegen, wenn er in die Nähe des Fensters kam.

Ein wütender Zorn über sich selbst ergriff ihn zuletzt. »Ich will es, will es nicht mehr sehen!«, rief er aus, packte die geöffneten hölzernen Fensterläden mit bebenden Fäusten und schlug sie zu, dass die Scheiben klirrten. Dann hob er die geballten Hände hoch in die Luft und schrie: »Warum bin ich nur wieder hierhergekommen? Warum hab’ ich sie wieder sehen müssen, wiedersehen als Frau eines anderen? Dieses Menschen, den ich mit kaltem Blut ermorden könnte, wenn ich daran denke, dass er, er sie in seine Arme nimmt! Und nun hab’ ich noch diesen Wahnsinn begangen, mich hier zu binden, wo jeder Tag mir zur Hölle wird.«

Er begann sein Umherwandern aufs Neue, rastlos wie zuvor. Aber langsam ebbte doch die Aufregung in ihm ab, seit er das blinkende Licht in der Villa nicht mehr sah, das gleich einem warmen Auge zu ihm herübergeschaut hatte. Zuletzt blieb er stehen, strich sich mit einer Hand über die von Leidenschaft gefurchte Stirn und versuchte zu lachen.

»Du bist ein Esel, mein lieber Max. Es ist Eselei, sich durch eine einzige Frau das Dasein zertreten zu lassen. Durch eine einzige Frau! Wie viele Frauen mag es wohl auf der Welt geben? Und schöne dazu! Die froh wären, wenn man zu ihnen sagte: Dich will ich haben, dich allein. Man müsste nur lernen, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und sich nicht vorher den eigensinnigen Kopf an den eisernen Schranken einrennen, die vor ihm aufgerichtet sind. Leben will ich, genießen! Ich bin jung, das Blut kocht mir in den Adern. Die Leute sagen ja, das Leben wäre schön. Versuch es doch einmal und schau dir’s aus der Nähe an!«

Mit aufgeregter Hast machte Burkhardt sich zum Ausgehen fertig und öffnete die Tür, um in die Sturmnacht hinauszutreten. Ein heller Wagen der zum Kurort hinüberführenden Trambahn, deren Geleise bei der Fabrik endeten, stand bereit, und Burkhardt bestieg ihn. Ein Passagier nur saß darin, es war Herr von Hofen. Erstaunt erkannte der Ingenieur ihn. Wie kam er um diese Zeit und bei solchem Wetter hier heraus? Doch gab ihm Hofen gleich selbst Antwort auf diese Fragen, als er ihn begrüßte.

»Sie wundern sich wohl, mich hier in Ihrem Reich um diese Stunde zu finden. Aber ich mache jeden Tag nach dem Diner noch einen kleinen Dauerlauf, ärztliche Verordnung. Heute bin ich hier heraus getrabt und fahre nun wieder hinein. Der Sturm ist ja wüst. Sie wollen sich auch wohl für die Tagesarbeit in der Stadt belohnen?«

»Vielleicht. Ich will versuchen, mich zu amüsieren.«

»Der wahre Zweck des Menschenlebens. Ich bin auf demselben Weg. Aber wohin ich gehe, kann ich Sie nicht mitnehmen. Das ist nur etwas für unsolide Leute. Dort wird nämlich gejeut.«

Einen Augenblick zögerte Burkhardt mit einer Antwort, um dann hastig hervorzustoßen: »Bitte, nehmen Sie mich mit. Es ist gerade das, was ich suche.«

»Wenn Sie wollen, gern. Aber ohne Verantwortung. Ich wasche meine Hände in der bekannten großen Schüssel voll Unschuld, wenn Sie verlieren.«

Der Wagen hatte sich in Bewegung gesetzt, und sie sprachen jetzt nicht mehr viel, aber sie stiegen zusammen in der Nähe des Palasthotels aus.

In der Wohnung des Herrn von Dellwitz kamen sie gerade in eine kurze Spielpause hinein, sodass Hofen seinen Begleiter dem Bankhalter vorstellen konnte. Gleich aber begann auch wieder das Spiel. Burkhardt setzte sich neben seinen Führer und musterte die Spielenden. Dann ließ er sich Karten geben, auch Hofen spielte diesmal, und beteiligte sich für einige Zeit am Bakkarat, das er während seiner Anstellungszeit in Amerika früher schon flüchtig kennengelernt hatte.

Dabei fiel es ihm auf, dass jedes Mal, wenn er über die Karten wegschaute, seine Blicke denen einer schönen Frau begegneten, die neben dem Bankhalter saß. Es war ein eigentümlich gespannter, dürftiger Ausdruck in ihren großen, leuchtenden Augen, ein lockendes Fragen, ein gewaltsames Ansichheranziehen, das in der zwiespältigen Stimmung, in der er war, ihn fast ängstigte.

Hier war eine Frau, schön und verheißend, eine Frau, die ihn anlächelte, mit seinen strahlenden Augen ihn suchte. Hier war in Wirklichkeit, was er in seiner Phantasie gewaltsam vor sich hingezaubert hatte. Doch vor der Wirklichkeit erschrak er, als ob er eine Sünde begehen wollte. Nicht Befreiung bewirkte der Anblick dieser Schönheit in ihm, sondern erneutes Erwachen unheilvoller Qual.

Er stand auf, sobald eine Spielpause das erlaubte. Zweifelhaft, ob er gleich das Hotel verlassen solle, ging er in das leere Vorzimmer, wo die hängenden Perlenketten des Beleuchtungskörpers die Wände so tief beschatteten. Er schritt eine Zeitlang auf dem weichen Teppich hin und her und setzte sich dann in einen der Klubsessel, die hier standen.

In der dämmerigen Stille, die nur durch ganz leise Geräusche vom Spielzimmer her zuweilen unterbrochen wurde, versank er wieder in wache Träumerei. Das hundertmal geschaute Gedankenbild, vor dem er aus der einsamen Wohnung entflohen war, trat wieder vor ihn hin. Martha de la Motte war es, deren Gestalt er in der tiefen, warmen Dämmerung zu erblicken meinte. Der Gesellschaftsabend bei Helbig wiederholte sich ihm. Er stand in dem hellen Saal an einer Wand und sah, wie Martha quer über den freien Raum langsam immer näher zu ihm herankam. Jetzt stand sie vor ihm, die blassen Wangen leicht gerötet. In diesem Augenblick bewegte sie die Lippen und sprach.

War es ein Zauber? Wirklich drang eine Frauenstimme jetzt an sein Ohr. Aber es war nicht Martha, die vor ihm stand, nicht Martha, die sprach. Die schöne Frau, die neben Herrn von Dellwitz gesessen hatte, war geräuschlos über den schweren Teppich herangeglitten und stand neben ihm in dem weichen Schatten der hängenden Ketten. Ihr Oberkörper war von dichter Dämmerung umschleiert, ihr Kopf glich mehr noch als vorher schon am Spieltisch einer dunklen, klassischen Bronze. Der Bronzekopf aber lächelte aus dem Zwielicht hervor, die Bronzelippen sprachen mit einem tiefen, zitternden Ton.

»Sie sind uns entflohen. Spielen Sie nicht gern? Sie haben doch gewonnen.«

Schwerfällig, ungeschickt stand Burkhardt auf und sagte stockend: »Ich habe nicht gespielt, um zu gewinnen.«

»Ich dachte, das wünschten wir doch alle.«

»Mir ist es gleich.«

»Sonderbar! Da sind Sie der Erste, der spielt und nicht gewinnen möchte.«

»Mag sein.«

»Aber doch sind Sie hergekommen, um zu spielen.«

»Nein, es war ein Zufall, ich wollte …«

»Was wollten Sie? Darf man das nicht erfahren?«

»Es hat kein Interesse für Sie.«

Die schöne Frau sah ihn mit einem erstaunten, raschen Blick an. Dann lächelte sie. Nahe vor ihm waren nun ihre lockenden, fragenden Augen, die von Weitem ihn so verwirrt hatten. Und er fühlte stärker ihre seltsame Macht. Sein Herz begann rascher zu klopfen, das Blut rann heißer und schneller durch seinen Körper.

So vergingen ein paar Sekunden.

»Wollen Sie schon gehen?«, fragte sie dann.

Er lächelte verlegen. »Ich weiß es selbst nicht.«

»Der Abend ist noch lang. Kommen Sie, setzen sie sich ein wenig zu mir. Ich habe Sie nicht vertreiben wollen.«

Sie setzte sich in einen der Klubsessel und schob ihn zu dem anderen heran, auf dem er gesessen hatte.

Zaudernd ließ Burkhardt sich wieder darauf nieder.

Unmittelbar neben ihm war nun ihr schöner Körper, den rascher Atem bewegte. Schwerer Duft von einem starken, fremdartigen Parfüm lag um sie her gleich einer leichten Wolke.

»Zum ersten Mal sind Sie heute hier, nicht wahr?«

»Ja, zum ersten Mal.«

»Jetzt werden Sie öfter kommen?« Es war eine Frage, die sie tat, aber in ihren Augen lag die Siegesgewissheit einer Frau, der noch niemand Nein gesagt hatte.

»Vielleicht, ich weiß es noch nicht, gnädige …«

Sie verstand gleich, was ihn stocken ließ. Dass er im Zweifel war, ob er sie gnädige Frau nennen sollte.

»Baronin Gonderland«, sagte sie rasch. »Ich bin hier zur Kur, das heißt, mehr zum Vergnügen. Denn kurgemäß ist es ja nicht so sehr, in diesen heißen Sälen zu spielen.« Sie lachte mit ihrem tiefen, rollenden Lachen, dessen Ton an den einer Orgel erinnerte. Da Burkhardt, von einer seltsamen Beklemmung befallen, mit einer Antwort zögerte, fügte sie hinzu: »Darum bin ich auch aus dem Spielsaal hierher geflüchtet, und, weil ich das Plaudern dem Spiel im Grunde vorziehe. Freilich nur mit geistvollen Menschen.«

»Ich bin ein schlechter Gesellschafter, Frau Baronin.«

»Man kann auch schweigend ein guter Gesellschafter sein …« Sie zögerte für einen Augenblick, ehe sie fortfuhr, dann fragte sie leiser: »Meinen Sie nicht?« Und aus der Duftwolke hervor, die Frau von Gonderland umschwebte, schob sich eine weiche, warme Hand und legte sich mit ganz leichtem Druck auf seinen Arm.

Flüsternd fuhr die Baronin dann fort: »Eins nur ist nötig dafür: Sympathie. Nach der Behauptung der Dichter soll es eine Liebe geben auf den ersten Blick. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, ich habe solche Liebe nie gekannt. Aber dass es eine Sympathie gibt auf den ersten Blick, das kann ich bezeugen.«

Sie schlug die schönen Augen voll zu ihm auf und beugte sich noch ein wenig näher zu ihm heran. Er fühlte wieder den heißen Zauber ihrer Persönlichkeit, nur für einen schnell vorübergleitenden Augenblick. Dann stieg in beinahe körperlicher Greifbarkeit ein anderes Frauengesicht plötzlich vor ihm auf, ein Gesicht mit ruhigen, reinen, etwas wehmütigen Augen, deren Blick mit stillem Vorwurf auf ihm ruhte.

Jäh sprang er empor. Das rasche Staunen blitzte wieder auf im Antlitz der Baronin.

»Sie sind unruhig. Was ist Ihnen? Hat eines meiner Worte Sie verletzt?«

»Sie müssen verzeihen. Meine Zeit ist bemessen, ich habe versprochen …«

»Sie wollen fort?«

»Ja, Frau Baronin müssen mich entschuldigen, ich muss gehen. Gute Nacht, Frau Baronin.«

Das Erstaunen trieb auch sie von ihrem Sitz empor. Sie stand und sah seine Herkulesfigur hinter der Tür verschwinden. »Ein Bär, aber ein schöner«, murmelte sie vor sich hin. »Ein wunderschöner Bär.«

Burkhardt eilte die Treppe hinunter, als ob er verfolgt würde. Draußen erst, wo der Sturm ihn wütend anfiel, wurde das Herz ihm freier. Es war noch nicht sehr spät, und er hätte die letzte Trambahn erreichen können, aber es trieb ihn zu dem einsamen Weg durch die Nacht. Er hatte das Gefühl, als ob er sich die Sinne durch den Sturm und Regen vom berauschender, betäubenden Duft einer fremdartigen, gefährlichen, vielleicht giftigen Blume müsse rein baden lassen.

Rasch ging er dahin durch die Nacht, vom hinter ihm herjagenden Wind vorwärts gepeitscht. Und je mehr die Stadt um ihn her versank, umso freier atmete seine Brust. Er fühlte kaum noch den Sturm, die Beklemmung fiel von ihm ab. Ganz aber verschwand vor seinen Augen das Antlitz der schönen Frau doch nicht eher, als bis er, vor seinem Häuschen auf dem Fabrikhof stehend, wieder das kleine Licht von der Villa durch die dunklen Bäume des Parks herüber leuchten sah, die mit ihren Zweigen um sich schlugen wie rasend gewordene Tiere. Das Licht brannte still und rein in dem kleinen Salon, den Martha de la Motte bewohnte.

In dieser Nacht geschah es, dass Karl Georgs Vater, der Professor de la Motte, nicht schlafen konnte. Der Sturm hielt ihn wach, der mit immer mehr anschwellendem Geheul in den weiten Wäldern hinter dem Försterhaus tobte. Nachdem der Professor bis weit über Mitternacht hinaus vergeblich um Schlaf gekämpft hatte, kam endlich ein leichter, unruhiger Schlummer und mit ihm ein Traum, verworren und angstvoll, hinterher dann ein plötzliches Erwachen mit jähem Aufschrecken. Er setzte sich hoch im Bett auf. Er meinte, man müsse sein Herz klopfen hören. Es war ihm gewesen, als ob ein Schuss ihn geweckt hätte. Und indem er sich vergeblich bemühte, sich die verschwimmenden Bilder des hässlichen Traums wieder zurückzurufen, wiederholte sich noch einmal der Ton, den er für einen Schuss gehalten hatte. Jetzt im Wachen war ihm klar, dass er sich darin getäuscht hatte, doch erst, nachdem sich dieser plötzliche stoßende Klang noch ein paarmal in unregelmäßigen Zwischenräumen in das Geheul des Windes gemischt hatte, fand er seinen Ursprung aus. Ein Fensterladen im Erdgeschoss musste sich losgerissen haben und wurde vom Sturm, wenn er am heftigsten wehte, gegen die Wand geschleudert.

Professor de la Motte sagte sich, dass bei diesem doppelten Lärm nicht an Schlaf zu denken sei, und erhob sich, um wenigstens den Laden unten wieder zu befestigen. Als er, oberflächlich angekleidet, auf den Flur vor seinem Schlafzimmer kam, drang ein leichtes Geräusch aus einem der anderen Zimmer hervor, und gleich darauf öffnete sich auch die Tür.

Frau Lübbers, die Försterwitwe, trat mit einem Licht in der Hand heraus und begann auf ihn einzureden. »Aber, Herr Professor, Sie werden doch nicht selbst … Sie haben gewiss auch den schauderhaften Lärm von dem Laden unten gehört. Ich bin deshalb aufgestanden, aber Sie dürfen mir nicht hinaus, das lassen Sie mich nur machen.«

Mit hastigen, trippelnden Schritten lief sie die Treppe hinunter. De la Motte blieb noch einen Augenblick stehen, weil eben jetzt wieder ein lauter Knall, der wirklich einem Flintenschuss ähnlich war, das Haus erschütterte. Dann ging er langsam zu seinem Zimmer zurück, ließ aber die Tür noch offen, um Frau Lübbers Wiederkommen abzuwarten. Es war ihm einen Augenblick, als ob sich in das Brausen des Windes der angstvolle Ruf einer Menschenstimme mischte. Bevor er sich noch klar geworden war, was dieser Klang bedeutete, wurde schon unten die Haustür wieder aufgerissen und mit lautem, aufgeregtem Rufen kam Frau Lübbers zurück, so rasch ihre Füße sie trugen.

»Herr Professor, um Gottes willen, Herr Professor!«

»Was gibt’s? Ich bin hier!«

Sie war jetzt oben und blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen. Mit einer Hand umklammerte sie das Treppengeländer, die andere hielt sie ausgestreckt, wie um etwas zu zeigen. Sobald sie wieder zu sprechen vermochte, begann sie von Neuem: »Herr Professor, sehen Sie doch nur einmal hinaus, ganz rasch. Von Ihrem Fenster aus muss man es genau sehen können.«

»Was denn? Was denn?«

»Der Felsen leuchtet, der goldene Fels, Herr Professor!«

»Der goldene Fels?« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Wenn wirklich etwas da draußen zu sehen ist …«

»Es ist, es ist! Schauen Sie doch einmal in Ihrem Zimmer zum Fenster hinaus. Das liegt ja doch nach jener Seite.«

»Gewiss will ich mir’s anschauen. Vielleicht kann ich dann erklären, was den Aberglauben veranlasst hat.«

Er trat in sein Zimmer, Frau Lübbers folgte. Die Läden waren im oberen Stockwerk nicht geschlossen. Einen herabgelassenen Vorhang zog er in die Höhe.

»Wahrhaftig!« kam es leise von seinen Lippen.

Das Forsthaus lag etwa fünfzig Meter über der Sohle des Tals. Nur auf drei Seiten umgab es hoher, alter Buchenwald und vor seiner Front breitete sich die nächtliche Landschaft aus. Alles war in schwere Dunkelheit getaucht. Ein tiefhängendes rasch bewegtes graues Gewölk bedeckte den Himmel mit seinen Sternen jetzt ganz. Nur die noch dunklere, beinahe schwarze Farbe der Berge ließ unterscheiden, was Erde, was Himmel war. Mit gezacktem Gipfel stand ein stattlicher Berg am weitesten zurück, ein kaum erkennbarer, niedrigerer davor. Von dem hinteren, offenbar oben in schroffen und nackten Fels übergehenden Höhenzug war ein Stück dieses felsigen Teiles durch einen sonderbaren Schein hell beleuchtet, und so tauchten die jähen Wände dort erkennbar aus der Nacht hervor. Der Schein bewegte sich nicht, sondern blieb an seinem Platz, als ob der Stein von innen heraus leuchtete.

»Sehen Sie es nun, Herr Professor? Sie können es doch nicht leugnen, es ist ja doch da. Was aber hinterher kommt, ach, du lieber Gott, wir werden hier den Tod bald im Ort haben! Vater unser, der du bist im Himmel.«

Sie betete leise das Vaterunser zu Ende, während de la Motte am Fenster stand und wortlos hinausblickte. Plötzlich sah er, wie der Schein von einer Seite her abnahm, als ob ein Vorhang davor gezogen würde. Noch ein kurzes, rasches Aufleuchten, dann war die Dunkelheit Herrin im ganzen Tal.

»Jetzt ist es vorüber«, sagte der Professor mit unwillkürlich gedämpfter Stimme.

»Gott sei unseren armen Seelen gnädig«, murmelte Frau Lübbers mit gefalteten Händen.