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Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 22

Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 22

Der Aufbruch verzögerte sich indessen zu Fabricius’ großem Leidwesen durch neue unermessliche Regengüsse. Der Fluss, mächtig angeschwollen, wälzte seine schwarzen Fluten durch das überschwemmte Tal. Es gab keinen Weg an seinem Ufer, denn zu beiden Seiten erhoben sich steile Felswände. »Bleibt, wenn ihr nicht wollt, dass die Fische euch fressen!«, warnten die Indianer.

»Sollen wir die ganze Regenzeit hier bleiben?«, knurrte Fabricius ärgerlich. Doch er sah selbst ein, dass es gut war, noch ein paar Tage zu warten.

Eines Morgens standen die Freunde am Flussufer und schauten missmutig zum Himmel, den immer noch dichte schwarze Regenwolken bedeckten. Gedankenlos warf Hans den Papageien, die ihn fast zudringlich umschwärmten, einige Maiskörner hin. Die bunten Vögel hatten sich so sehr an die Siedlung gewöhnt, wo sie immer Futter fanden, dass sie von den Indianern fast wie Haustiere gehalten wurden. Do flog plötzlich ein wunderschöner Arara auf Kressels Schulter und schrie unablässig in tadellosem Aruak: »Was essen, was essen!« Die drei Deutschen staunten, ja sie erschraken fast. Wie Hexerei kam es ihnen vor, bis sie dahinterkamen, dass die Indianer mit viel Geduld den klugen Vögeln einige Worte vorzusprechen pflegten, die sie allmählich mit fast menschlichem Tonfall nachplapperten. Es war wie ein Wunder und die Sache mit den sprechenden Vögeln eine der ganz wenigen Geschichten, die man später dem Ratsherrn Hans Hauser zu Konstanz nicht recht glaubte, wenn er sie in der Ratsstube beim Seewein erzählte.

Am siebenten Tage ihres Aufenthaltes bei dem freundlichen Indianerstamm ließ der Regen endlich nach und der Fluss fiel sehr rasch, wie die Freunde es einst beim Übergang über den Tocujo erlebt hatten. Sofort drängte Fabricius zum Aufbruch. Reichlich mit Lebensmitteln versehen und wohl ausgeruht, machten sie sich auf den Weg. Das ganze Dorf gab ihnen unter Führung des würdigen alten Häuptlings eine Stunde weit das Geleit. Dann nahmen sie herzlichen Abschied von ihren freundlichen Wirten. Ein paar Männer ließen es sich aber nicht nehmen, sie noch weiter zu begleiten und ihnen den Weg zum großen Fluss zu zeigen.

Der alte Häuptling hatte nicht zu viel versprochen. Schon am Spätnachmittag blinkte es silbern auf zwischen den Bäumen. Ein Wasserspiegel schimmerte durch das grüne Dickicht, und kaum hundert Schritte weiter standen die Freunde vor einem großen Strom, breit wie der Rhein bei Konstanz. Ein unsagbares Glücksgefühl durchströmte sie. Das war – es konnte gar kein Zweifel sein – der Magdalenenstrom. Majestätisch wälzte er seine Fluten gen Norden dem Meer zu. Auch sie, die müden Wanderer, würde er zum Meer tragen, so sicher wie jenen Baumstamm, der langsam an ihnen vorübertrieb. Nur Geduld, noch ein wenig Geduld! Bald würde die Meereswoge an den Bauch des Schiffes schlagen, das sie in die Heimat heimführt, nach Deutschland.

Unwillkürlich hatten sich die Freunde, stumm hinausblickend auf das glänzende Wasser, die Hände gereicht.

Die Indianer, die sie begleitet hatten, verbrachten die Nacht mit ihnen am Flussufer. Es gab gebratene Fische, die die Indianer fingen, indem sie die zerklopften Wurzeln einer Giftpflanze in einer stillen, seichten Bucht des Stromes wuschen. Bald schwamm eine Menge Fische auf der Wasseroberfläche, die kleineren tot, die größeren betäubt, sodass sie leicht zu ergreifen waren. Rasch waren die Bratständer aufgerichtet. Es war ein fröhliches Schmausen.

Anderen Tages machten sich die Freunde daran, ein Floß, eine »Balsa«, zu bauen. Die Indianer halfen ihnen dabei. Sie verwendeten Holzmesser aus dem harten Holz der Paxiubapalme. Fabricius sah ihnen neidisch zu und war beglückt, als ihm die Wilden auf seine Bitte ein Messer schenkten.

Schon am frühen Nachmittag rüsteten die Indianer zum Aufbruch, um ihr Dorf noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Sie schieden von den weißen Männern als gute Freunde. Die Deutschen winkten ihnen lange nach, bis der Urwald sie ihren Blicken entzog.

Herrlich, einmal die Glieder strecken zu können, träumend in den Himmel zu blicken, den müden, wunden Füßen Ruhe zu gönnen! Die Balsa schwankte leise, und kleine eilfertige Wellen glucksten an ihren Rändern. Eine jede schob das Fahrzeug ein winziges Stück weiter dem Meer, der Heimat zu. Die Strömung des Flusses war stark, aber langsam, viel zu langsam für die Ungeduld der Reisenden ging die Fahrt. Noch immer beherrschten im Süden die Schneehäupter der Zentralkordilleren die Landschaft, die gewaltigen Berge, die heute Nevado del Tolima und Herveo heißen.

Treibende Baumstämme und zahlreiche Untiefen zwangen die Schiffer zur Vorsicht. Meist saß Zischende Viper beobachtend an der Spitze des Floßes. Seinen scharfen Augen entging kein Wirbel, kein Strudel, kein verdächtiger Schaumstreifen im braunen Wasser. Besonders fürchteten sich die Schiffer, Krokodilen zu begegnen. Zwar mochten die Bestien auf dem Land nicht allzu gefährlich sein, um so furchtbarer konnten sie für das Fahrzeug und die Schiffer im Wasser werden. Ein einziger Schlag des mächtigen Schwanzes hätte ohne Zweifel genügt, das gebrechliche Floß zu zertrümmern und den Freunden einen nassen Tod in den Fluten des Magdalenenstroms zu bereiten. Stieß Zischende Viper den Warnruf »Kaiman!« aus, so griffen alle eilig zu den Rudern, um die Balsa aus der gefährlichen Nähe zu steuern. Es gelang ihnen glücklicherweise stets, die gefürchtete Begegnung zu vermeiden.

Erst am achten Tag stießen die Freunde wieder auf Menschen. Ein Indianer stand am Flussufer, anscheinend mit Fischen beschäftigt. Er blickte unbeweglich den Vorüberfahrenden nach. So stand er noch, als eine Biegung des Flusses ihn schon wieder den Blicken der Freunde entzog.

Einige Tage später näherte sich das Floß einer am rechten Ufer gelegenen Indianersiedlung. Es war am Nachmittag, und die Sonne stand schon ziemlich tief. Da reichlich Lebensmittel vorhanden waren, hatten die Freunde beschlossen, erst mit Einbruch der Dunkelheit an Land zu gehen. Die Hütten tauchten hinter einer Strombiegung so plötzlich auf, dass es unmöglich war, vorher zu landen, was Fabricius gern getan hätte, um später im Schutz der Dunkelheit die Siedlung zu passieren. Denn wer konnte wissen, ob sie wieder so freundlich aufgenommen würden wie bei den Indianern am Schwarzen Fluss? Da es ausgeschlossen war, unbemerkt vorbeizukommen, gab Fabricius Befehl, wenigstens möglichst weit nach dem linken Ufer hinüberzusteuern. Wie gerechtfertigt sein Argwohn war, erwies sich bald. Die Freunde sahen, wie die Indianer am Ufer zusammenliefen und schreiend auf das vorübergleitende Floß deuteten. Ihre Haltung verriet nichts Gutes. Mochten sie nun die weißen Gesichter erkannt haben oder mochten sie meinen, es seien Angehörige eines feindlichen Stammes in ihr Jagdgebiet eingedrungen. Genug, ehe sie sich’s versahen, flogen den Schiffern ein paar Pfeile um die Köpfe, die bei der großen Entfernung glücklicherweise ihr Ziel verfehlten.

»Vorwärts!«, schrie Fabricius. »Vorwärts!«

Alle vier griffen zu den Rudern. Die Balsa flog über das Wasser. Der Fluss hatte sich merklich verwandelt. Da und dort zeigten Schaumstreifen an, dass das Wasser über Felsenrisse strömte. Die Wirbel und Strudel wurden immer häufiger, die Strömung wuchs mehr und mehr. Die Freunde hatten keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen. Hans aber war in seinem Element. Solche flinken und gefährlichen Fahrten kannte er von daheim, wo sich die Konstanzer Jungen oft genug im schwankenden Nachen auf dem jungen Rhein getummelt hatten, zum Verdruss der Eltern und Lehrer.

»Hallo!«, rief er und stemmte sein Ruder gegen die andringende Flut, ohne verhindern zu können, dass eine gewaltige Welle überging und sie alle durchnässte.

Da wies Kressel zurück. Bei dem Dorf, das bereits schon ein gutes Stück hinter den Floßfahrern lag, brachten die Indianer Kanus zu Wasser. Man hörte sie schreien und sah, wie sie sich im Wasser stehend um die Fahrzeuge drängten.

»Sie wollen uns verfolgen«, rief Fabricius. »Vorwärts, vorwärts! Sie dürfen uns nicht einholen.«

Von Neuem warfen sich die Freunde mit Macht in die Ruder. Es dauerte ziemlich lange, bis die Kanus – es waren ihrer drei – in Fahrt kamen. Inzwischen hatte das Floß einen gehörigen Vorsprung bekommen. In Hans erwachte so etwas wie Ehrgeiz. Er vergaß darüber fast, dass es wieder einmal ums Leben ging. Beinahe kühl wog er die beiderseitigen Aussichten gegeneinander ab. Die Kanus waren mit je sechs Indianern besetzt, die – Hans stellte es mit Kennerblick fest – sehr mäßig ruderten und schrecklich mit den Rudern plantschten. Sie selber aber waren nur zu viert, und die Kanus lagen wohl besser im Wasser als die zwar leichte, aber plumpe Balsa. Dafür hatten die Floßfahrer einen erheblichen Vorsprung. Hans berechnete: Es konnte glücken. Glückte es sicher? Nein, aber vielleicht glückte es.

Sie ruderten mit äußerster Kraft. Der Fluss schien ihnen zu Hilfe kommen zu wollen. Immer reißender wurde der Strom. Dass er auch den Verfolgern helfen würde, daran dachten sie zunächst nicht.

Von Zeit zu Zeit warf Hans einen Blick zurück. Zweimal schien es ihm, als ob sich die Entfernung zwischen dem vordersten Kanu und dem Floß vergrößerte. Dann, beim dritten Mal, konnte er nicht mehr daran zweifeln: Die Indianer holten auf. Der Fluss wurde immer wilder. Felsen tauchten auf, an denen das Wasser brandend emporschäumte. Ein Wunder, dass das Floß nicht längst an einer der zahllosen Klippen zerschellt war. Hans stand plötzlich ein Bild vor der Seele: der Rhein, der junge Rhein oberhalb von Schaffhausen. Gerade so war er wie dieser Fluss im fernen indianischen Land. So brausend, so ungestüm schäumte er um die Felsen, so nahm er gleichsam einen Anlauf. Herrgott im Himmel, dachte Hans, treiben wir etwa auf einen Fall zu, hoch wie der Rheinfall? Dann gnade uns Gott!

Doch die Verfolger? Wollen sie sich in blinder Wut mit den Verfolgten ins Verderben stürzen?

Von den drei Kanus lagen zwei zurück. Sie schienen die Verfolgung aufzugeben. Dagegen hatte sich die Entfernung zwischen dem vordersten Kanu und dem Floß wiederum verringert. Die Dämmerung brach herein und vermehrte die Gefahr, dass das Floß an einem Felsen zerschmettert würde. Wäre es wenigstens Nacht! Zwar ist die Dämmerung in den Tropen bei Weitem nicht so lang wie in der gemäßigten Zone. Aber eine gute Stunde konnte die Jagd auf Leben und Tod noch dauern, ehe die Freunde damit rechnen durften, durch die Dunkelheit den Blicken ihrer Verfolger entzogen zu sein.

Von weiter unterhalb tönte gewaltiges Brausen an ihr Ohr. Die drei Deutschen wechselten einen Blick. Ihre Gesichter waren bleich. Sie mussten alles gehen lassen, wie es gehen sollte. An Landen war nicht zu denken. Abgesehen davon, dass sie dabei unfehlbar von den Verfolgern eingeholt worden wären, war es ganz unmöglich, die Balsa aus der reißenden Strömung ans Ufer zu bringen.

Das gebrechliche Fahrzeug flog pfeilschnell dahin, aber auch die verfolgenden Indianerkanus waren beinahe schon auf Pfeilschussnähe heran. Die Entscheidung stand auf des Messers Schneide.

Die Freunde, die stehend ruderten, konnten sich auf der toll hin und her geworfenen Balsa nicht mehr auf den Beinen halten. Sie verzichteten auf das Rudern, das ohnehin bei der reißenden Strömung keinen Zweck mehr hatte, und warfen sich nieder, indem sie sich an die Balken des Floßes klammerten. Es war höchste Zeit, im nächsten Augenblick war die Balsa mitten im Strudel. Gewaltige Wasserstürze gingen über das Fahrzeug, das sich mehrere Male um sich selbst drehte. Einen Augenblick lag Hans im Wasser, konnte sich aber mit Aufbietung aller Kräfte wieder auf das Floß hinaufziehen. Manchmal erhoben sich die Wasserstuten zu beiden Seiten des Floßes wie durchsichtige Wände, dann wieder tanzte das Fahrzeug auf dem Gipfel eines Wasserberges, rings umgeben von grausiger Tiefe.

So durchschifften die Freunde die Stromschellen des Magdalena bei der heutigen Stadt Honda. Freilich alles, was auf dem Floß war, außer den vier Männern, spülte das Wasser fort, nicht nur die Lebensmittel, nein, auch die Waffen, die Ruder, den Feuerbohrer, den Zischende Viper gemacht hatte.

Die Strömung ließ nach einiger Zeit nach. Hans warf einen Blick zurück auf den Katarakt, der in der immer stärker werdenden Dunkelheit weiß glänzte. Da sah er mitten im weißen Gischt etwas Schwarzes. Die Kanus, die Indianer! Sie schienen doch kühnere und bessere Schiffer zu sein, die Wilden, als Hans geglaubt hatte.

Weiter ging die Verfolgung. Doch war es ja eigentlich gar keine Verfolgung mehr. Die Flüchtenden hatten keine Ruder, sie konnten nur hilflos zusehen, wie die Verfolger näher und näher kamen. Immer mehr holen die Indianer auf. Es war bereits schon so dunkel, dass man Einzelheiten nicht mehr erkennen konnte.

Die Balsa schoss steuerlos etwa hundert Klafter vom linken Ufer durchs Wasser.

»Schwimmen!«, befahl Fabricius und warf sich in den Fluss. Trotz der immer noch gewaltigen Strömung kamen er, Hans Hauser und Kressel ans Ufer. Auch keiner der gefürchteten Raubfische, von denen der Magdalena wimmelt, fiel sie an, doch wurde Fabricius von einem kleinen Rochen in den Fuß gestochen, der sofort heftig anschwoll.

»Wo ist Zischende Vipern?«, fragte Hans, als sie triefend und beinahe nackt ans Ufer kamen.

»Ich weiß nicht«, sagte Fabricius und ließ sich ächzend ins Gras fallen. Die Wunde vom Stich des Rochens schmerzte gewaltig.

Die Indianer hatten nichts bemerkt. Die Schiffbrüchigen hörten sie weiter unterhalb rufen und schreien. Offenbar hatten sie das führerlose Floß erreicht und zu ihrem Verdruss wahrgenommen, dass es verlassen war. Oder doch nicht? Wo war Zischende Viper? War er seinen wütenden Stammesgenossen in die Hände gefallen? War er beim Versuch, das Ufer zu erreichen, ertrunken?