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Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 4

Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 4
Eine Erzählung von Fr. Daum
Um 1925 erschienen im Verlag von A. Anton & Co. in Leipzig

Bedächtig nahm der das Blatt und hielt es vor die Augen.

»Well, ich will es wenigstens versuchen, obwohl es lange her ist, seit ich mich mit geschriebenen Buchstaben herumschlug.«

James Allan ließ seine Blicke voll gespannter Erwartung auf dem Gesicht des Lesenden ruhen. Auch die anderen, mit Ausnahme der in stoischem Gleichmut verharrenden Indianer, waren neugierig geworden. In den Zügen des verwitterten Alten zeigte sich jedoch keinerlei Veränderung. Als er den Zettel gelesen hatte, sah er schweigend und unbewegt in die leise knisternden Flammen des Feuers. Allan konnte seine Erregung nicht mehr zügeln. Ungeduldig schrie er den Alten an: »Ist das nicht wunderbar? … So redet doch! … Sagt Eure Meinung!«

»Hi, hi! Ihr habt wohl nicht erwartet, dass in diesem Medizinbeutel so ein Stückchen Schicksal verborgen lag«, erwiderte der Angeredete mit leisem Auflachen. »Es ist ja auch sonderbar. Da müssen wir hier auf den seiner Gäule beraubten Mister Scott treffen, und der Bursche da schießt ausgerechnet gerade den Kerl nieder, der den Zettel da in seinem Medizinbeutel mit sich führt, auf den wiederum unser wackerer Doktor so erpicht ist. – äußerst seltsam, indeed!«

»So glaubt auch Ihr …?«, fragte der Doktor, indem er, mit den Augen zwinkernd, auf Karl deutete.

»Yes! Das werden wir gleich erfahren. Heda, Karl Martens, sage uns doch, wie dein Vater mit Vornamen heißt«, wandte sich der Trapper an den jungen Mann.

Karl erblasste, und seine Augen waren in bangem Forschen auf den Trapper gerichtet, als er erwiderte: »Mein Vater …? Klaus ist sein Vorname … Doch was soll diese Frage?«

»Allright! Nimm dich zusammen, Bursche, sei stark, denn was hier auf dem Papier steht, wird dich hart treffen. Da … lies selbst!«

Karl ergriff den Zettel mit bebenden Fingern. Kaum hatte er einen Blick darauf getan, als er laut aufschrie.

»Vaters Handschrift!« Mit feuchten Augen las er, während die Gefährten ihn voll Spannung ansahen. Als er zu Ende gelesen hatte, drückte er das Papier an seine Brust und rief: »Gott im Himmel, wie danke ich dir! Es ist das erste Lebenszeichen meines Vaters seit seiner vor fünfzehn Monaten erfolgten Abreise! Oh, der Ärmste!« Tränen erstickten seine Stimme.

Die Aufregung teilte sich nun den anderen mit. Der Kanadier Baptist bat, man möge doch allen den Inhalt des Zettels mitteilen, und Doktor Allan las laut vor: »Wer immer diesen Zettel findet, ich flehe ihn an, mich zu befreien, denn ich leide entsetzlich. Seit einem Jahr befinde ich mich in der Gewalt der Assiniboine, deren Häuptling Schonga schane (Roter Fuchs) mich grausam misshandelt. Ich bin Büchsenmacher und muss den Kriegern die Gewehre in Ordnung halten. Man hält mich versteckt, damit kein Fremder von meiner Anwesenheit etwas erfährt. Nacht für Nacht wirft man mich in eine feuchte Felsspalte. Der Aufenthalt darin ist fürchterlich. Wessen Augen auf diese Zeilen fallen, ich flehe ihn an, um der Barmherzigkeit willen, möge er tun, was zu meiner Rettung in seiner Macht steht. Ein treues Weib und brave Kinder harren auf meine Heimkehr, während ich hier entsetzliche Pein und Schmach erdulden muss. Klaus Martens aus St. Louis.«

Ergriffen hatten die Zuhörer den Worten des nach Rettung Rufenden gelauscht. Während die anderen schwiegen, sprangen die lebhaften Kanadier auf und schmähten in heftigen Reden die Assiniboine. Ja, sie zeigten nicht übel Lust, über den Gefangenen herzufallen. Rifle Ben verbot ihnen, den Assiniboine zu prügeln.

Karl Martens trat auf den Alten zu und ergriff seine Hand. Mit beweglichen Worten bat er ihn, den Vater zu retten.

Der erfahrene Prärieläufer erwiderte: »Am guten Willen, deinen Vater aus den Händen dieser schmutzigen Kehlabschneider (Spitzname der Sioux) zu befreien, fehlt es nicht. Aber wir dürfen auch die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich einem derartigen Unternehmen entgegenstellen. Wir sind nur wenige Männer und haben es mit einer ganzen Bande zu tun, die sofort verschwindet, wenn sie Lunte riecht. Ich kenne das.«

»So lasst uns schnell einen Boten aussenden, um Hilfe vom Fort oder Soldaten herbeizurufen!«, riet Doktor Allan.

»Nein, nein, damit wird nichts erreicht. Der Kommandant des nächsten Forts und der Pelzkompagnie hat keine Leute frei, um in die Wildnis verschlagene Prospektoren aufzusuchen und zu befreien. Er muss Kämpfe mit den roten Stämmen nach Möglichkeit vermeiden, da er mit ihnen Handel treiben will. Und die Soldaten? Ha, ehe die hier sein könnten, vergingen Wochen, und die Bande des Roten Fuchses wäre auf Nimmerwiedersehen verschwunden«, erklärte Rifle Ben.

»Aber es muss doch einen Weg zur Rettung des Unglücklichen geben!«, rief der junge Forscher aus.

Auch Karl bat: »Mister Ben, Ihr verdient Euch einen Gotteslohn und den Dank einer ganzen Familie, wenn Ihr uns beisteht. Rettet meinen armen Vater!«

»Well! Ich tue es ohne Lohn und Dank, mein Junge! Wir wollen sehen, ob sich nicht eine nähere Hilfe findet, als die der Voyageure oder Soldaten.« Sich zu dem Piegan wendend, erzählte er diesem in der Sprache seines Stammes von der Gefangenschaft des weißen Mannes.

Aufmerksam hörte Grauer Wolf zu, und als Rifle Ben ihn fragte, ob die Dörfer der Piegan sehr weit entfernt seien, erwiderte er achtungsvoll: »Die Tipi der Piegan sind weit von hier. Aber ihr Häuptling Stomick Ohnis (Büffelstirn) weilt mit zweimal zehn Kriegern in der Nähe. Wenn der große Weiße Jäger Espitah Ramy mir erlaubt, meinen Mustang zu nehmen, werde ich meine Brüder herbeirufen. Sikapehs verdankt den Weißen die Freiheit und das Leben. Er ist bereit, mit seinen Brüdern den Vater des weißen Knaben zu befreien und mit den verächtlichen Hunden von Assiniboine zu kämpfen, nach deren Skalpen er großes Verlangen hat. Howgh!«

»Gut, gut, du magst dir dein Pferd nehmen und reiten. Wir bleiben hier und erwarten dich mit deinen Brüdern«, erwiderte Rifle Ben.

Ohne ein weiteres Wort ging der Piegan zu den Pferden, rief seinen Mustang, stieg auf und sprengte in rasendem Galopp davon. Der Trapper wusste, dass der Krieger nun diese Gangart für die Dauer des Rittes beibehalten würde. Er erklärte den Gefährten, was er mit dem Piegan verabredet habe. James Allan bezweifelte, dass Grauer Wolf wiederkommen werde. Er meinte, der Kerl wäre froh, mit heiler Haut zu den Seinen zurückkehren zu können.

»Verlasst Euch darauf, die Schwarzfüße werden zurzeit hier sein. Hat man einer Rothaut einen Dienst erwiesen, kann man unbedingt auf Dank rechnen. Außerdem haben ja die Piegan den Tod zweier Krieger zu rächen und leben in grimmigster Feindschaft mit den Assiniboine.«

»Was tun wir jetzt? Das Warten ist ein übler Zeitvertreib, wenn man bedenkt, was der arme Gefangene unter seinen Peinigern erdulden muss!«, rief Doktor Allan ungeduldig aus.

»Hat er ein Jahr unter ihnen zugebracht, werden ihm ein paar Stunden oder Tage auch nichts ausmachen«, erwiderte gleichmütig der Alte. »Für uns gibt es noch zu tun. Ich werde mir einmal den Gefangenen vornehmen.«

Bei diesen Worten erhob er sich und trat zu dem gefesselten Assiniboine, der neben dem Wagen auf der Erde lag.

»Ich habe mit dir zu reden, Rothaut. Kennst du mich?«, fragte Ben den Mann.

Doch dieser sah, ohne eine Miene zu verziehen, gleichgültig an ihm vorbei.

Da sagte der Alte, wieder im Dialekt der Assiniboine: »Die Assiniboine sind doch eine heruntergekommene Nation, wie ich sehe. Sie haben keine Krieger mehr und senden Knaben ohne Namen auf den Kriegspfad, die eigentlich zu den Squaws gehören.«

Nach diesen in verächtlichem Ton gesprochenen Worten blitzte es drohend auf in den Augen des Gefangenen, und er antwortete zornig: »Die Assiniboine sind ein tapferes Volk, und ihre Krieger haben Namen, vor denen ihre Feinde zittern. Im Tipi Tatoganas (Antilope) hängen mehr Skalpe von weißen Leuten, als hier versammelt sind.«

Rifle Ben übersetzte die prahlerischen Worte des Assiniboine, worüber die Weißen sehr erbost waren. Die kanadischen Voyageure hätten den Indianer am liebsten umgebracht. Der Alte beruhigte sie jedoch. »Wir wollen es ihm ins Kerbholz schneiden.« Sich wieder an den Gefangenen wendend, fragte er; »Kennst du mich, hast du schon von Tschotange Hauska (Große, das ist berühmte Flinte, im Dialekt der Sioux) gehört?«

Ein verächtlicher Zug glitt über die bemalten Züge des Wilden. Er erwiderte hohnvoll: »Die Assiniboine kennen den Namen des weißen Jägers, aber sie fürchten ihn nicht. Sein Skalp wird bald am Gürtel eines Assiniboinekriegers hängen, wenn er Tatogana nicht sofort freigibt.«

»Hi, hi – sorge dich um deinen Skalp, Bursche. Für die Sicherheit meines eigenen tue ich, was nötig ist. Du wirst mir einige Fragen beantworten, Rothaut. Wo stehen die Zelte Schonga schanes?

Bei Nennung des Häuptlings zuckte der Assiniboine mit den Augen, doch beherrschte er sich sofort wieder und antwortete höhnend: »Tschotange Hauska mag ausreiten, um sie zu suchen, wenn er seinen Skalp verlieren will.«

Roch einmal ermahnte der Trapper den Krieger, die Wahrheit zu sagen. Als dies nicht fruchtete, zog er sein Messer und sagte; »Ich habe gesagt, du wirst mir antworten, mithin geschieht es auch. Pass auf, Tatogana, ich nehme deine Medizin und werde sie verbrennen, wenn du mir die Wahrheit nicht bekennst! – Howgh!«

Mit einem raschen Schnitt trennte er den ziemlich umfangreichen Medizinbeutel des Assiniboine vom Gürtel ab und ging damit zu dem hell brennenden Feuer. Der Gefangene bäumte sich auf und verfolgte mit stieren Blicken den weißen Jäger. Seine stoische Ruhe war gewichen, Furcht und Grauen malten sich auf seinen verzerrten Mienen, Entsetzen kündete sich im Blick seiner hervorquellenden Augen. Rifle Ben befestigte gelassen den Fellsack an einem Stock und hielt ihn in die Flammen. Schon versengten diese die Haare des Balges, in den die Medizin eingenäht war, als der Gefesselte am Wagen einen gellenden Schrei ausstieß und sich wild aufbäumend umherwarf. Doktor Allan entsetzte sich vor dem Ausdruck, den er in den Zügen des Wilden gewahrte.

Rifle Ben trat zu dem Tobenden und fragte: »Wirst du mir nun die Wahrheit sagen?«

»Ja … Ja … frage nur! Ich werde antworten. Gib mir nur meine Medizin wieder«, brüllte der Assiniboine.

»Gut, es soll geschehen, wenn ich erkannt haben werde, dass du die Wahrheit sagst. Solltest du mich belügen, so bleibt die Strafe nicht aus. Deine Medizin wird dann verbrannt, und du bekommst einen Strick um den Hals, an dem dich Rabenfeder auf seinem Pferd zu Tode schleifen mag!«, rief der Prärieläufer drohend aus. Das Gesicht des Alten zeigte dabei einen ehernen, unerbittlichen Ausdruck.

Doktor Allan sah voll Bewunderung, in die sich ein leises Grauen mischte, zu dem graubärtigen Mann auf, der sich durch seine kühnen Taten einen Furcht erweckenden Namen unter den roten Stämmen erworben hatte. Die Drohung, den Assiniboine durch einen Strick zu erwürgen, war geeignet, ihn gefügig zu machen. Denn nichts fürchtet der Indianer so sehr wie den Tod des Erwürgens, da nach seiner Anschauung dann der Seele der Ausweg aus dem Körper versperrt ist, wodurch sie niemals in das ersehnte Jenseits der ewigen Jagdgründe gelangen kann.

»Wo befindet sich das Lager der Assiniboine?«, wandte sich der Trapper an den Gefangenen, dessen Blicke nicht von dem Fellbeutel in Rifle Bens Hand wichen.

Zögernd lösten sich die Worte von Tatoganas Lippen. »Einen Tagesritt von hier am Cha Uakian (Berg des Donners).«

»Ich kenne den Ort. Weilt Schonga schane dort?«

Der Gefangene nickte, und der Alte fuhr fort: »Die Assiniboine haben seit dem Winter einen weißen Gefangenen bei sich. Befindet sich dieser Mann auch in dem Lager am Berg des Donners?«

Bei Erwähnung des Gefangenen ging ein Zucken über das Gesicht des Wilden, aber er beherrschte sich und sagte nach einiger Zeit: »Tatogana weiß es nicht.«

»So …? Dann müssen wir dein Gedächtnis auffrischen. He, Rabenfeder, nimm dein Lasso und lege die Schlinge um den Hals des Lügners. Du magst dann mit ihm ein wenig spazieren reiten«, rief der Trapper grimmig.

Der ältere Mandan holte seinen Mustang herbei und näherte sich dem Gefangenen mit dem Lasso.

Der Assiniboine sah diese Vorbereitungen mit Schrecken und rief: »Tatogana darf nicht davon sprechen. Es ist ein Geheimnis, und seine Brüder werden ihn als Verräter töten!«

»Bah, du hast die Wahl! Bleibt dein Mund stumm, so entgeht dein Hals der Schlinge nicht und deine Seele bleibt für immer von den Freuden der ewigen Jagdgründe ausgeschlossen«, erwiderte der Alte, während der Mandan umständlich die Vorbereitungen zu der Exekution traf. Der Assiniboine atmete schwer.

In diesem Augenblick trat Karl Martens an den Prärieläufer heran und sagte: »Bevor Ihr den Krieger tötet, zeigt ihm doch einmal das Bildnis hier und fragt ihn, ob dies der Mann sei, den die Assiniboine gefangen halten. Die Zeichnung stammt vom Maler Bodemer, der vor einigen Jahren in St. Louis war. Er begleitete den deutschen Prinzen von Wied auf seiner Reise zu den Indianern und schenkte uns das Bild meines Vaters, der ihm eine kleine Reparatur an seiner Jagdflinte ausgeführt hatte. Es ist sehr ähnlich. Ich nahm es mit, weil ich hoffte, es werde mir bei meinen Nachforschungen gute Dienste leisten. Der rote Mann wird den Vater sicher auf dem Bild wiedererkennen, wenn auch Gefangenschaft und Sorge den fröhlichen Ausdruck in seinen Zügen vernichtet haben sollten.«

Rifle Ben nahm das Bild und betrachtete es. »Du hast recht, Charley, das Bild wird uns dem Ziel näher bringen. Auf welche Weise dies geschieht, das wirst du sogleich sehen.«