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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der letzte Auftrag

Der letzte Auftrag

Schmerzerfüllt verzog ich mein Gesicht. Das Stechen in meiner Brust war wieder da. Zwar nur kurz, aber dafür nachdrücklich. Immer wieder überkam mich die Angst vor einer Herzattacke, wenn ich solche Momente durchlitt. Im nächsten Augenblick jedoch war es vorbei. Tatjana, meine Gefährtin und Geliebte, deutete nach draußen.
»Sieh nur, Boris! Es hat zu regnen aufgehört, aber nun scheint es Nebel zu geben.«
Ich blickte ebenfalls aus dem Fenster unseres Zimmers.
»Ja, der Nebel kommt vom Fluss her. Was für eine dicke Brühe«, antwortete ich.

Als wir gestern Nachmittag hier in Ruppenstieg angekommen waren, hatte es wie aus Eimern gegossen. Heute hatte das Wetter sich endlich aufgeklart, jedoch jetzt, als die Abenddämmerung einsetzte, kam schwerer, grauer Nebel auf. Wir waren im Auftrag von Lady Larissa unterwegs, um Arndt, dem hiesigen Bürgermeister, einen persönlichen Brief von ihr zu übergeben. Offiziell. Inoffiziell sollten wir uns hier auch etwas umsehen. Laut Lady Larissa war es in diesem kleinen Ort, der in einem von felsigen Hügeln umgebenen Tal direkt am Fluss lag, zu seltsamen Ereignissen gekommen. Leute verschwanden spurlos – meist Fremde, die hier nur auf der Durchreise gewesen waren. Wir arbeiteten als Detektive, die sich auf solche, etwas außergewöhnlichen Fälle spezialisiert hatten. Es war nicht der erste Auftrag für Lady Larissa, denn die Entlohnung fiel immer mehr als angemessen aus. Gleich nach unserer Ankunft hatten wir dem Bürgermeister den Brief überbracht. Ein freundlicher Mann mittleren Alters, der uns zum Tee einlud, als wir bei ihm vorsprachen. Am Abend speisten wir in unserer Herberge, froh darüber, dass wir für diesen Tag nicht mehr in den strömenden Regen hinaus mussten. Die Wirtsstube war einfach, aber sauber und das Essen schmeckte ausgezeichnet. Die wenigen Einheimischen, die sich ebenfalls in dem Gasthaus aufhielten, kamen uns allerdings etwas seltsam vor. Die Gespräche, die wir von draußen noch vernommen hatten, verstummten schlagartig, als wir die Stube betraten. Wir wurden ausgiebig gemustert. Als wir höflich einen guten Abend wünschten, war nur ein undeutliches Gemurmel zu vernehmen, und fast alle wandten sich wieder von uns ab. Einige jedoch behielten uns weiterhin im Auge. Während des Essens bemerkte ich, dass die meisten der anwesenden Dorfbewohner einen seltsamen Gesichtsausdruck zur Schau stellten. Irgendwie geistesabwesend, fast schon so, wie man es oft bei geistig Behinderten sehen konnte. Auf einige belanglose Fragen unsererseits erhielten wir entweder gar keine Antwort oder nur undefinierbares Gebrummel. Da wir von der Fahrt noch erschöpft waren, begaben wir uns früh zu Bett. Einmal wachte ich in der Nacht auf. Ich sprang von meinem Lager und eilte ans Fenster. Hatte ich geträumt? Nein, da konnte ich es wieder vernehmen. Ein lang gezogenes Heulen, gefolgt von dumpfen Schlägen wie von einer Trommel. Dann herrschte wieder Stille. Lange Zeit konnte ich nicht mehr einschlafen, wollte Tatjana jedoch nicht aufwecken, die immer noch selig schlummerte. Erst als der Morgen schon graute, verfiel ich wieder in unruhigen Schlaf.

Nach dem Frühstück erzählte ich Tatjana von meiner nächtlichen Wahrnehmung, woraufhin wir beschlossen, uns bei Einbruch der Dämmerung in diesem Ort etwas umzusehen.
»Ich habe kein gutes Gefühl, Boris. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht«, warnte mich meine Gefährtin. Auf Tatjanas Gefühle konnte man sich fast immer verlassen, schließlich war sie ein Medium und hatte sehr feine Sinne. Trotz des harmlosen Eindrucks, den dieses Dorf vermittelte, wollten wir auf der Hut sein. Ich erinnerte mich noch im letzten Augenblick an den kleinen Gegenstand, der in einem Lederbeutel verborgen war, den mir Lady Larissa mitgegeben hatte, und steckte ihn in meine Jackentasche. Zunächst liefen wir wie harmlose Spaziergänger durch einige Straßen des Ortes, wobei wir immer versuchten, irgendetwas Ungewöhnliches zu entdecken. Nichts, absolut nichts war auch nur bemerkenswert.
Selbst Tatjana konnte nichts feststellen. Der Nebel jedoch kroch immer mehr die Hänge herauf und erreichte bald das Zentrum der Ortschaft. Zuerst hatten wir noch von unserem leicht höher gelegenen Standpunkt aus beobachten können, wie die Nebelbänke sich über die Wiesen und durch die Gassen bewegten. Schließlich waren auch wir von den feuchten grauen Schwaden umgeben. Es prickelte auf der Haut und wurde unangenehm kalt. Fast als ob ein Wille dahinter stecken würde, umhüllte das wattige Weiß bald das gesamte Dorf.
»Boris!« Tatjanas Stimme war leise und zitterte leicht. »Dieser unheimliche Nebel bringt etwas mit sich. Etwas Fremdes. Etwas … Grauenvolles.«
Ich nahm ihre Hand und hielt sie fest. Auch mir stellten sich die Haare im Nacken auf.
»Ja, Liebes. Ich spüre es auch«, antwortete ich. »Wir werden sehr vorsichtig sein.«
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, es herrschte nur noch schwaches, diffuses Licht. Man konnte keine fünf Schritte weit sehen. Wir hatten uns Richtung Fluss bewegt, wussten aber nach kurzer Zeit schon nicht mehr, wo wir uns eigentlich befanden. Ich rutschte auf etwas Weichem, Glitschigem aus. Tatjana musste mich stützen, sonst wäre ich der Länge nach hingefallen. Dann drangen verzerrte Laute durch die wattige Wand aus feuchter Luft an unsere Ohren. Tatjana zitterte. Ein Schleifen. Ein Patschen, wie von übergroßen Füßen oder Flossen. Ein gluckerndes Geräusch, das aus großer Tiefe zu kommen schien. Meine Hand umfasste Tatjanas fester. Mit der anderen zog ich die Pistole aus dem Halfter. Ich konzentrierte mich. Meine außergewöhnlichen Sinne nahmen tintige Emanationen im Nebel vor uns wahr. Ich zog Tatjana zur nächsten Häuserwand. Schwer atmend pressten wir uns dagegen.
»Was ist das?«, flüsterte meine Liebste. Ich schüttelte nur den Kopf. Ein dunkles, riesiges Etwas glitt schabend vor uns durch die undurchdringliche Nebelwand. Mit angehaltenem Atem warteten wir, bis es sich wieder entfernt hatte.
»Lass uns gehen, Boris! Lass uns von hier verschwinden, das übersteigt unsere Kräfte«, kam leise und flehentlich von Tatjana. Ich presste die Lippen fest aufeinander. Als ich schließlich zustimmen wollte, ertönte ein dumpfer, auf- und abschwellender Gesang, nicht weit von uns. Wobei der Ursprungsort der Geräusche durch den Nebel nur schwierig zu bestimmen war, denn der Schall wurde reflektiert und verzerrt.
»Komm, mein Schatz«, flüsterte ich zurück. »Wir wagen nur einen Blick, dann werden wir gehen.«
Widerstrebend ließ sich meine Gefährtin bis zum Ende des Hauses führen. Ich spähte um die Ecke herum, konnte aber nur den Schatten eines größeren Gebäudes erkennen. Es wirkte irgendwie seltsam verdreht und nicht geometrisch auf mich, was aber auch am dicht wallenden Nebel und meinen vibrierenden Nerven gelegen haben konnte. Der Gesang kam von dort. Nun klangen wieder die dunklen Trommeln auf, die ich nachts schon vernommen hatte. Ein schwerer, langsamer Rhythmus. Plötzlich peitschte etwas durch die Luft, umschlang Tatjanas Hüfte und entriss sie meiner Hand. Blitzschnell zog sich der Tentakel, oder was auch immer es war, mitsamt meiner Geliebten in den Nebel zurück. Nur ein kleiner leiser Laut entrang sich ihrer Kehle. Ich starrte fassungslos in die grauen Schwaden, dann auf meine leere Hand. Endlich sprang ich mit einem Schrei los. Hinterher. »Tatjana! Liebling!«, rief – kreischte ich. Ich rannte, stolperte über irgendetwas, fiel und rappelte mich wieder hoch. Ein verklingendes Boris wehte zu mir herüber. Ich verdoppelte meine Anstrengungen und sprintete los, bis ich schließlich fast gegen die Mauer des seltsamen Gebäudes prallte. Endlich besann ich mich und konzentrierte mich auf Tatjana. Dort. Ich konnte ihre Aura auch ohne meine visuellen Sinne wahrnehmen. Sie war in diesem Haus. Mit ausgestreckten Armen tastete ich mich an der Wand entlang, bis ich endlich auf einen Eingang stieß. Zu meiner Verwunderung war dieser nur angelehnt. Ich drückte die Tür auf, die sich widerlich schleimig anfühlte, und betrat einen dunklen Flur. Dieser Gang war gewunden und gedreht, und trotzdem konnte ich einen schwachen Lichtschein sehen. Ich rannte los, kam ob der sinnverwirrenden Beschaffenheit des Flurs immer wieder ins Taumeln und musste mich wiederholt an den glitschigen Wänden abstützen. Als ich das Ende des Flurs erreichte, stieß ich die schiefe Tür auf und befand mich in einem riesigen Raum, in dem ein giftgrünes Leuchten herrschte, das die Szenerie noch unwirklicher wirken ließ, als sie sowieso schon war. Inmitten der Halle befand sich ein großer schwarzer Block aus Granit. Ein Altar oder Opferstein, vermutete ich. Er war von einem breiten Streifen schwarzen, ölig schimmernden Wassers umgeben. Links und rechts des Steins standen mannsgroße Pauken, die von jeweils einem Mann in langsamer Folge geschlagen wurden. In konzentrischen Kreisen um Stein und Wassergraben hatten sich mehrere Dutzend Leute versammelt. Alle wirkten irgendwie falsch – deformiert, obwohl man es aufgrund der grauen Kutten, die sie trugen, nicht mit Sicherheit sagen konnte. Vor dem Stein stand ein hoch aufgerichteter Mann, der einen grünen Umhang trug. Als er sich umdrehte, konnte ich ihn erkennen. Es war niemand anderer als Bürgermeister Arndt. In der linken Hand hielt er einen langen Dolch mit gezackter Klinge. Ein eisiger Schrecken durchzuckte mich, als ich erkannte, dass eine zusammengekrümmte Gestalt auf dem Steinblock lag. Also doch ein Opferstein. Die Gestalt war meine Tatjana.
»Halt!«, rief ich laut. »Haltet ein, ihr Verrückten!«
Die Trommeln verstummten. Arndt und alle anderen blickten in meine Richtung. Der Bürgermeister grinste und machte eine winkende Bewegung mit dem Arm. Sofort stürmte ein halbes Dutzend der Gestalten auf mich los. Ich hob die Pistole und schoss dreimal. Zwei der Angreifer fielen, die anderen kamen weiter auf mich zu. Irgendetwas sauste durch die Luft und blieb in meiner rechten Schulter stecken. Ein kurzer Speer hatte mich mit Wucht getroffen. Ich taumelte einen Schritt zurück, Schmerzen verspürte ich keine, und feuerte wieder. Ich konnte nicht erkennen, ob ich noch irgendeinen Erfolg erzielt hatte, denn da waren sie schon über mir und rissen mich zu Boden.
Aus, dachte ich nur. Doch dann vernahm ich die Stimme des Bürgermeisters, die anscheinend irgendwelche Befehle erteilte. Ich wurde hochgerissen, meine Arme wurden brutal nach hinten gebogen und dann Richtung Altar geschleppt. Kurz vor dem schwarz schimmernden Wasser wurde ich zu Boden gedrückt.
»Ah, jetzt habe ich gedacht, ich muss mich mit Ihrer liebreizenden Frau zufriedengeben, Herr Iljaschin. Doch nein, Sie kommen von selbst zu uns, um unsere große Nacht mit uns zu feiern.«
»Sie Irrer, was soll das alles? Lassen Sie Tatjana gehen, Sie können mich dafür haben!«, schrie ich, so laut ich konnte.
Arndt lachte hämisch. »Aber ich habe euch doch schon beide. Nur das, was ich eigentlich gewollt hatte, hat Larissa nicht mitgeschickt, oder?«
Ich riss erstaunt die Augen noch weiter auf. Dieser Kerl wusste von unserer Auftraggeberin anscheinend mehr, als ich gedacht hatte. Wahrscheinlich mehr als ich selbst. Unbewusst war meine Hand zu meiner Jackentasche gewandert, in der sich der kleine Gegenstand befand. Der widerliche Bürgermeister kreischte fast vor Lachen, er hatte meine Bewegung mit seinen Blicken verfolgt und als das gedeutet, was sie war. Ich hatte mich verraten, und nun sollte er doch alles bekommen, was er wollte, und uns noch als Zugabe dazu. Larissa hatte uns in eine Todesfalle geschickt. Ich hatte keine Chance. Die deformierten Wesen um mich herum entrissen mir einfach meine Jacke und entleerten die Taschen.
»Das da!«, schrie Arndt. »Bringt mir diesen Lederbeutel!« Ein Haifischgrinsen legte sich auf sein Gesicht. Eilfertig rannte ein buckliger Kerl los, watete bis zur Hüfte ins Wasser und überreichte Arndt den Beutel.
»Ah«, stieß er hervor. »Nach so langer Zeit. Jetzt werde ich endlich obsiegen.« Er nestelte an der ledernen Schnur, die den Beutel verschloss, und holte einen kleinen spindelförmigen Gegenstand zum Vorschein. Sein Gesicht verzerrte sich. Er ließ die Spindel fallen.
»Nein!«, kreischte er, dann ging alles in einem hellen Lichtblitz unter.

Als ich wieder zu mir kam, stand die Sonne schon hoch am Firmament. Ich lag auf einer mit Gras bewachsenen Wiese. Neben mir lag Tatjana. Ich wälzte mich herum und kroch zu ihr hin. Sie war tot. Fort. Ihre blauen Augen blickten gebrochen gen Himmel. Der Schmerz, der meine Brust zu zerreißen drohte, war viel schlimmer als das Herzstechen, das mich gelegentlich heimsuchte. Ich wiegte sie in meinen Armen, heiße Tränen rollten über meine Wangen.
Larissa, verdammt. Das sollst du mir büßen, war das Einzige, was in meinen Gedanken noch Bestand hatte.

Endlich stand sie vor mir. Schön, trotz der langen weißen Haare und ihres undefinierbaren Alters. Ihre grauen Augen blickten mich mitleidsvoll an.
»Sie haben uns in eine Falle laufen lassen – mit voller Absicht! Tatjana ist tot. Das ist allein Ihre Schuld!«, schrie ich sie an.
»Es tut mir leid, Boris«, antwortete sie sanft. Ich wollte ihr an die Kehle, sie langsam erwürgen, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Noch.
»Ich muss dir und Tatjana danken. Ihr habt so viel getan. Du kannst gar nicht ermessen wie viel.«
»Das hilft mir nicht und ihr auch nicht!«
»Oh doch. Das war dein letzter Auftrag, Boris. Du bist jetzt frei«, sagte sie ruhig.
Ich kicherte irre. »Frei? Soll ich jetzt gehen und Sie kommen ungeschoren davon?«
»So ungefähr. Du bist mir als Freund, Diener und Gefährte lieb geworden, in all den Jahren. Aber jetzt muss das eine Ende haben«, antwortete Larissa. »Willst du deine Erinnerungen zurück, Boris, bevor ich dir deine Freiheit zurückgebe?«
Was sollte das? Ich begriff überhaupt nichts. Larissa berührte mich nur sanft an der Stirn. Dann traf mich ein Schlag wie von einem Hammer. Alles stürzte auf mich ein. Auf einmal. Ich war schon vor Jahrzehnten ermordet worden. Ein Dolchstoß mitten ins Herz. Litt ich deswegen immer unter Herzschmerzen? Wegen meiner außergewöhnlichen Fähigkeiten hatte Lady Larissa mich zurückgeholt. Nach jedem Auftrag von ihr, wurde mir mein Gedächtnis genommen und mehrmals auch mein Tod. Tatjana war nicht meine erste Gefährtin gewesen. Mit einem Mal fühlte ich, wie mein Körper unter mir wegsackte und zu Boden sank. Ich sah mich selbst zu Larissas Füßen liegen, sie weinte. Ich entfernte mich immer schneller.
Was kam jetzt? Ein neuer Tod?

Copyright © 2007 by Helmut Marischka