Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 1 – Der letzte Höhlenmensch – 2. Kapitel
Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 1
Der letzte Höhlenmensch
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901
Karak, der Bärentöter
In der Nähe des Sees trat der Wald weit zurück und machte einer mit großen Felsblöcken bedeckten Fläche Patz.
Zwischen diesen, nicht weit vom Flussufer entfernt, fand ein Kampf zwischen einem Bären und einem Menschen statt.
Der Bär von brauner Farbe war wohl doppelt so groß als der größte, den Richard je im zoologischen Garten gesehen, und drang auf einen Mann ein, der ihm zwei Pfeile in den Leib geschossen hatte; die Schäfte ragten noch aus dem Pelz hervor. Dieser Mensch war ungemein groß und herkulisch gebaut, von schwarzbrauner Hautfarbe, nackt bis auf einen Schurz um die Lenden, und trug langes Kopfhaar und einen zottigen Bart. Mehr konnte Richard nun nicht unterscheiden.
Er war nur mit einer an einem langen Stiel befestigten Steinaxt bewaffnet, mit der er dem Raubtier wuchtige Schläge auf den Kopf versetzte oder versehen wollte, denn der Bär parierte sie geschickt mit den Tatzen oder zog jedes Mal schnell den Kopf ein, jedenfalls um die leicht verwundbare Nase zu schützen. Dieser Zweikampf tobte nicht auf einer Stelle, sondern der Mann sprang vor- und rückwärts. Auch er musste ja den Tatzenschlägen zu entgehen versuchen, denn wenn ihn auch nur ein einziger traf, war er verloren. Eine Flucht hätte ihm wahrscheinlich nichts genützt, und ebenso wenig war abzusehen, was er mit der elenden Steinaxt gegen den Höhlenbären ausrichten konnte. Einmal musste er doch ermüden und den Pranken zum Opfer fallen.
Da erkannte Richard, worauf es dem zweibeinigen Kämpfer ankam. Kein Zweifel, der Mann versuchte sich zum Wald zurückzuziehen, wo er sich auf einen Baum flüchten konnte; das wusste aber anscheinend auch der Bär, denn er wollte seinem Gegner diesen Rückzug abschneiden und ihn in den Fluss treiben, wo er ihm jedenfalls sofort zur Beute wurde.
Ohne Bedenken hob Richard das mit Kugel und grobem Schrot geladene Gewehr und drückte in demselben Moment, wo der Bedrängte sich außerhalb der Schusslinie befand, nach der Herzgegend des Bären zielend, beide Läufe zugleich ab.
Mit einem donnerartigen Gebrüll richtete sich das Ungetüm, das wohl getroffen, aber nicht tödlich verwundet war, auf den Hinterbeinen empor. Es hatte den neuen Feind im Boot erspäht und stürmte nun in Karriere dem Flussufer zu.
Zu spät erkannte Richard, in welch gefährliches Spiel er sich eingelassen hatte. Doch mit fester Hand schob er zwei neue Patronen in die Gewehrkammer, war er nun doch ganz allein auf sich selbst angewiesen, denn der nackte Mensch hatte, wie er noch gesehen, schnell die Flucht ergriffen.
Aber es kam alles anders, als Richard befürchtete, denn noch hatte der Bär nicht das Ufer erreicht, als ihm eine dunkle Gestalt entgegensprang – es war derselbe Mann von vorhin, nur hatte er nun keine Axt, sondern einen anderen langen Gegenstand, wohl ein Messer, in der Hand. Der Bär richtete sich sofort auf, den alten Gegner zu umarmen. Und diesmal wich ihm Letzterer nicht aus, er warf sich vielmehr an die zottige Brust und drückte seinen Kopf an den Leib des Ungeheuers. Nur einige Augenblicke noch, und dann stürzte der Bär brüllend nieder, um nicht wieder aufzustehen, während sich der Mann aufrichtete und ihm das blutige Messer aus dem Leib zog.
Mit einigen Ruderschlägen hatte Richard das Ufer erreicht und eilte nun, ohne noch an eine Vorsicht zu denken, auf den Mann zu, der ihn zwar sichtlich erstaunt, aber ohne Furcht erwartete.
»Wer du auch bist, von dir hat Karak, der Bärentöter, nichts zu fürchten, denn du hast ihn vorhin gerettet«, sagte er mit tiefer Stimme, und Richard wunderte sich nicht im geringsten, ihn so gut zu verstehen.
»Nein, du warst es, der mich vor dem Angriff des Bären beschützte.«
»Aber du lenktest seinen Angriff von mir ab, als mir schon die Kräfte erlahmten, und so fand ich Zeit, mein Messer aufzunehmen. Ich wollte den Bären erlegen und musste ihn erst durch Pfeilschüsse aus seinem Schlupfwinkel verscheuchen und auf mich reizen, denn jedes Tier, selbst der kühne Löwe fürchtet Karak, den Bärentöter. Da, im Augenblick, als er mich angriff, verlor ich mein Steinmesser, und da ich mit der Axt nichts gegen den harten Schädel ausrichten konnte, trieb mich der Bär fort und ermüdete mich derart, dass ich ihm doch nur zur Beute gefallen wäre und alle Tiere der Wildnis, besonders auch die elenden Rundköpfe, sich gefreut hätten, wenn du nicht die Aufmerksamkeit des Bären auf dich gelenkt hättest, sodass ich Zeit fand, mein Messer wiederzuholen. Du hast mich und meine Rache gerettet, du bist mein Freund.«
Ohne ein Wort weiter zu verlieren, ging Karak nunmehr daran, mit dem Messer dem Bären den Leib aufzuschlitzen und einige große Stücke Fleisch unter der zurückgeschlagenen Haut herauszuschneiden. Dann brach er dem Bären einen Backenzahn aus und trennte eine Kralle aus der Pranke.
Erst jetzt sah Richard, welch ein mächtiges Ungeheuer dieser Höhlenbär war, und dass er fast die Größe eines Pferdes hatte. War auch der menschliche Bewohner dieser Wälder ein herkulischer Riese, so war er doch ein Nichts gegen dieses Raubtier, dem er nun mit dem Steinmesser zu Leibe ging. Dennoch konnte er sich mit Recht den Bärentöter, den auch der Löwe fürchtete, nennen, denn eine Kette, die er als Schmuck um den Hals trug, war ganz aus Raubtierzähnen und Krallen, besonders aus solchen von Bären, zusammengesetzt.
Auch einen Bogen und Pfeile mit Steinspitzen, die für einen Riesen bestimmt waren, sah Richard am Boden liegen. Er hob Ersteren auf, konnte aber die Sehne keinen Millimeter zurückziehen.
»Wir müssen uns beeilen, dass uns nicht die Nacht im Wald überrascht«, nahm Karak wieder das Wort, die Fleischstücke mit Schlingpflanzen zusammenschnürend und sie sich auf den Rücken hängend. »Ach«, setzte er niedergeschlagen hinzu, »Karak hat kein Volk mehr, welches ihm den Bären zerlegen hilft und mit ihm am fröhlichen Feuer das saftige Mark aus den Knochen saugt. So mag alles liegen bleiben, wir haben genug.«
»Wo ist dein Volk?«, fragte Richard, sich mit ihm dem Flussufer zuwendend.
»Karak ist der letzte Höhlenmensch«, war die dumpfe Antwort. »Von dort her, wo jetzt die Sonne untergeht, kamen die schwarzen Rundköpfe, welche sich selbst Farken nennen. Sie sind geschickt und klug, sie haben Waffen und Werkzeuge aus einem Stein, den sie Bronze nennen, sie brennen Erde im Feuer und bauen sich daraus Höhlen, die sie Häuser nennen, aber sie sind zu träge zur Arbeit und brauchen Sklaven. Die feigen Pfahlbewohner, die wir unter uns nur wie harmlose Tiere duldeten, und die sich ihnen freiwillig unterwarfen und nun für sie arbeiten, verrieten auch unsere Höhlen an die Rundköpfe. Jahrelang entspann sich ein blutiger Kampf zwischen uns, wir waren ihren Waffen nicht gewachsen, eine Familie nach der anderen wurde vernichtet oder gefangen, und wer jetzt von uns nicht in der Sklaverei arbeiten will, den opfern die Rundköpfe bei ihren Festen ihren Göttern.«
Sie hatten das Ufer erreicht, und Karak stieg, als wäre ihm das etwas ganz Bekanntes, in das Boot und ergriff die Ruder, während sich Richard an das Steuer setzte.
»So bist du der letzte deines Stammes?«, fragte Richard, während sie den Fluss entlang schossen.
»Ja, ich bin der letzte Höhlenmensch«, entgegnete Karak niedergeschlagen, doch blitzte es trotzdem unheilvoll in seinen tiefliegenden Augen auf. »Bis vor zwei Tagen hatte ich noch einen starken Sohn und eine schöne Tochter. Aber als ich von der Jagd zurückkam, fand ich meinen Sohn erschlagen und Maka verschwunden. Rundköpfe hatten die Höhle entdeckt und überfallen, und nun soll Maka, da sie zu stolz ist, um für die Fremden zu arbeiten oder einen Rundkopf zu heiraten, auf dem Altar der Götter geopfert werden.«
»Wann?«, stieß Richard hervor.
»Beim Wechsel des Mondes findet das Fest statt – in drei Tagen.«
»Dann müssen wir sie retten! Weißt du, wo sie ist?«
Ein finsteres Lächeln umspielte die bärtigen Lippen des Höhlenmenschen.
»Ja, Karak kennt das Lager jener Rundköpfe, und er befindet sich auf dem Weg, Maka zu retten, oder, wenn es zu spät ist – als letzter Höhlenmensch alle seine Brüder und Schwestern furchtbar zu rächen.«
»Da stehe ich dir bei, so wahr ich Richard heiße.«