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Der Welt-Detektiv Band 6

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Deutsche Märchen Nr. 1

Karl Simrock
Deutsche Märchen
Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung, Leipzig, 1864

1. Die Ordnung der Natur

Ein Mann und eine Frau wohnten in einer armseligen Hütte. Der Mann ging jeden Tag aufs Feld, die Frau blieb zu Hause und kochte. Eines Tages, nach dem Frühstück, sagte der Mann zu der Frau: »Du hast es doch recht bequem, wenn du kochst, während ich mich auf dem Feld abrackern muss.«

»Sollen wir tauschen?«, fragte die Frau, »ich will aufs Feld gehen, und du kannst zu Hause bleiben und kochen.«

»Damit bin ich zufrieden«, sagte der Mann.

Und so tauschten sie die Rollen: Die Frau nahm den Karst auf die Schultern und ging aufs Feld, der Mann blieb mit dem Kochlöffel in der Hand zu Hause. Die erste Frage war nun, was er kochen sollte.

»Ei«, fiel ihm ein, »wer das Kreuz hat, der ist gesegnet; ich will meine Lieblingsspeise kochen, und das war Reisbrei. Als er aber Holz und Reisig gesammelt und Feuer gemacht hatte, hörte er die Kuh brüllen.

»Ja, brülle nur«, sagte der Mann, »ich muss erst Wasser holen, sonst brennt das Feuer umsonst.« Da nahm er den Eimer und ging zum Brunnen, um Wasser zu holen. Er goss es in den Topf und stellte ihn auf das Feuer.

Da brüllte die Kuh wieder.

»Ja, brüll ruhig«, sagte er, »du bist noch nicht dran. Zuerst muss der Reis im Topf sein, damit er aufgehen kann.«

Da lief er hin, holte den Reis, schüttete ihn in den Topf und rührte ihn mit dem Löffel um.

Da brüllte die Kuh zum dritten Mal.

»Ja«, sagte der Mann, »jetzt sollst auch du gefüttert werden.« Da ging er in den Stall zu der Kuh und sah mit Schrecken, dass sie nichts zu fressen hatte.

Blitz, dachte er, wenn ich jetzt erst Futter machen soll, dann fängt das Wasser darüber an zu kochen und der Reis läuft über, und das wäre schade um meine Lieblingsspeise. Da nahm er die Kuh und führte sie vom Berg auf sein bemoostes Strohdach und ließ sie da weiden. Als er aber in der Küche war und das überfließende Wasser abgoss und neues Wasser auf den Reis goss, dachte er: Wenn die Kuh hinfällt, könnte sie sich Hals und Bein brechen, und das wäre doch schade um die Kuh. Also lief er wieder auf das Dach, band der Kuh einen Strick um den Hals und warf das Ende des Stricks durch den Schornstein in die Küche; in der Küche aber band er es sich ans Bein und dachte: Jetzt kann ich hier in Ruhe Reisbrei kochen. Er goss auch bald das kochende Wasser ab, rührte Milch in den Brei und setzte ihn wieder auf das Feuer, rührte fleißig mit dem Kochlöffel um, damit er nicht anbrannte. Währenddessen graste die Kuh auf dem schmalen Grat des Daches und setzte vorsichtig wie ein Seiltänzer einen Fuß vor den anderen, bis sie an den First des Hauses kam. Dort streckte sie den Hals nach ein paar schmalen Gräsern aus, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte hinunter. Da aber das Seil zu kurz war, hielt es sie in der Schwebe, sodass sie nicht zu Boden fiel. Aber sie war schwer genug gewesen, um den Mann am anderen Ende des Seils hinaufzuziehen, sodass er im Schornstein zwischen Himmel und Erde hing, genau über dem Reisbrei. Als die Frau nach Hause kam, sah sie die Kuh mit herausgestreckter Zunge hängen. Zum Glück hatte sie ihr Käsemesser in der Tasche, das sie öffnete, mit der Rechten den Strick packte, mit der Linken durchtrennte und die Kuh sanft zu Boden gleiten ließ. Dann lief sie in die Küche, um mit dem Mann zu schimpfen; aber der steckte mit dem Kopf im Reistopf, und die Frau musste ihn erst wieder auf die Füße stellen. Aber auch jetzt war es noch zu früh, ihn auszuschelten, denn Augen und Ohren waren voll Brei.

So wusch sie ihm erst den Kopf und wollte nun ihre Strafpredigt beginnen; aber der Mann hielt ihr den Mund zu und sagte: »Sei still, du hast mir doch schon den Kopf gewaschen. In Zukunft bleibst du wieder zu Hause und kochst. Ich aber gehe aufs Feld und pflanze. Man soll die Ordnung der Natur nicht umkehren.«