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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 1 – 5. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 1
Das Geheimnis der jungen Witwe
5. Kapitel

Geständnisse eines Kammermädchens

Als Sherlock Holmes am nächsten Morgen beim Frühstück saß, durchblätterte er mit einer gewissen behaglichen Ruhe die Zeitungen, welche alle Spalten über den rätselhaften Mord an dem Bankier Paul Estrade brachten.

»Die guten Reporter«, sprach Sherlock Holmes vor sich hin, »sie erschöpfen sich wieder einmal im Rätselraten! Die Daily Mail sagt, es sei offenbar, dass der Mord aus Rache ausgeführt sei; die Times behauptet dagegen ganz bestimmt, aus bester Quelle zu wissen, dass hier nur ein Selbstmord vorliege. Die Pale Male Gazette geht einen Schritt weiter als alle anderen und deutet an, dass der Bankier in eine Liebesaffäre verwickelt gewesen sei, die ihm den Tod gebracht hätte.

Alle aber sind sie darin einig, dass es der Polizei sehr schwer werden wird, den Mörder ausfindig zu machen, und dass der Fall außerordentlich schwierig und verwickelt läge.

»Schwierig – verwickelt«, stieß Sherlock Holmes mit dem ihm eigentümlichen lautlosen Lachen hervor, »das will ich glauben. Schwieriger sogar, als es den Anschein hat. Ah – hier findet sich ja eine ganze Biografie Paul Estrades! Er hat sich vom blutarmen Kommis bis zum Besitzer eines großen Börsenkontors aufgeschwungen. Er ist mit zerrissenen Stiefeln in London eingewandert; nun besaß er eine glänzende Klientel und war auf dem besten Weg, ein machtgebietender Faktor der Börse zu werden. Er hinterlasse wenigstens ein Vermögen von dreihunderttausend Pfund Sterling.«

»So – so. Das Letzte möchte ich sehr stark bezweifeln«, fuhr Sherlock Holmes in seinem Selbstgespräch fort, während er sich die Pfeife stopfte und in Brand setzte. »Die Bilanzen, die ich in dieser Nacht gesehen habe, deuten gerade auf das Gegenteil hin. Paul Estrade war ruiniert. Schon seit drei Jahren ist er vollkommen passiv gewesen, und Gott mag wissen, durch welche Manöver er sich über Wasser gehalten hat. Ah – hier findet sich ja ein kleiner Zusatz, der im Interesse der schönen Witwe mit Beifall aufzunehmen ist!«

Sherlock Holmes las mit halblauter Stimme noch eine kleine Notiz, die die Daily Mail noch an den Bericht anknüpfte.

Wie wir hören, war Paul Estrade bei der Lebensversicherung Grasham mit dem ziemlich hohen Betrag von hunderttausend Pfund Sterling versichert. Da die Versicherung schon länger als drei Jahre besteht, wird der Grasham, selbst wenn er annehmen sollte, dass der Bankier durch Selbstmord geendet hat, nicht umhinkönnen, der Witwe des Verstorbenen das Versicherungskapital glatt auszuzahlen.

Sherlock Holmes nahm eine Papierschere von seinem Schreibtisch, schnitt diese Notiz aus, faltete sie zusammen und legte sie in sein Taschenbuch.

»Eine Neuigkeit, Mr. Sherlock Holmes!«, erklang es da hinter ihm. Als er sich umwandte, stand Harry Tacon vor ihm mit einem großen Paket Zeitungen unter dem Arm und im Kostüm eines Zeitungsjungen, wie sie zu Tausenden die Straßen Londons unsicher machen.

»Eine Neuigkeit? Was gibt es?«, fragte Sherlock Holmes, »ich denke, die neuesten Nachrichten habe ich soeben in den Morgenzeitungen gelesen.«

»Die sind schon überholt, Mr. Sherlock Holmes!«, gab Harry zur Antwort. »Ich komme soeben aus dem Gebäude der Times. Ich habe mich ein bisschen in den Redaktionsräumen herumgetrieben. Da ist eben von der Polizei die Nachricht eingelaufen, dass man im Falle Estrade den Prokuristen der Firma, Charley Benson, verhaftet hat.«

»So? Wer hat denn das getan? Worauf hin hat man ihn denn verhaftet?«, fragte Sherlock Holmes, sichtlich unangenehm berührt. »Hält man ihn denn für den Mörder Estrades?«

»Aus dem Polizeibericht, den ich in dem Moment gelesen habe, in welchem ein Setzerjunge den Bürstenabzug zur Korrektur ins Redaktionszimmer tragen wollte, ging hervor, dass die Polizei in Charley Benson den Mörder zu haben glaubt.«

»Schafsköpfe!«, murmelte Sherlock Holmes vor sich hin.

»Die Polizei hat festgestellt, dass Charley Benson trotz seiner sechzig Jahre ein sehr ausschweifendes Leben geführt hat. Er unterhielt kostspielige Liebesverhältnisse, die sein Einkommen sicherlich überschreiten mussten. Er hat überdies an der Börse gespielt und auf eine Meldung des Kapitän Morris von der Ludgate-Station hin nimmt man im Polizeiquartier an, dass der Matrose, den wir heute Nacht im Privatkontor der Firma Estrade angetroffen haben, kein anderer gewesen sei als Benson.«

»So – so, das nimmt man an?«

»Er soll nämlich ein Interesse daran gehabt haben«, fuhr Harry Tacon fort, »das Geheimbuch seines Chefs zu beseitigen. Durch dieses Geheimbuch könnte nämlich festgestellt werden, dass Benson der Firma bedeutende Summen unterschlagen habe und dass die von ihm geführte Kasse absolut nicht stimme.«

»Bensons Unterschlagungen in Ehren«, rief Sherlock Holmes lachend aus, »aber Harry, ich sage dir, eher bist du der Mörder dieses Mr. Estrade, als es Charley Benson ist! Mag er ein bisschen sitzen, es wird ihm nicht allzu viel schaden; und ich will der Polizei die Freude nicht sogleich verderben; man muss ihr auch etwas zukommen lassen. Und nun, mein Junge, ein kleiner Auftrag für dich«, wandte Sherlock Holmes sich dann an seinen Gehilfen. »Es handelt sich darum, den Kutscher ausfindig zu machen, der die Leiche Mr. Estrades vom Hydepark bis zur Wohnung in der Somerset Street geführt hat. Diesen Mann muss ich unbedingt sprechen, und zwar heute noch.«

»Wissen Sie die Nummer des Cabkutschers, Mr. Sherlock Holmes?«, fragte Harry.

»O, o, Harry«, stieß Sherlock Holmes hervor und versetzte scherzhaft seinem Liebling einen kleinen Backenstreich, »würde ich dich beauftragen, den Cabkutscher ausfindig zu machen, wenn ich die Nummer wüsste? Dann wäre die ganze Angelegenheit in einer halben Stunde erledigt. Nein, du sollst eben ermitteln, welcher Cabkutscher gestern Abend zwischen neun und zehn Uhr das Geschäft zu besorgen hatte, eine Leiche vom Hydepark bis zur Somerset Street zu transportieren, und zwar mithilfe eines Matrosen, der ihm, wie ich vermute, wahrscheinlich die Leiche übergeben haben wird.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Harry, sich hinter den Ohren kratzend, »ich sehe ein, dass ich eine herzlich dumme Frage an Euch gerichtet habe. Aber bis zum Abend ist der Kutscher gefunden, ich werde alle meine guten Geister, die Schuhputzer und Zeitungsjungen, kurz, alle Straßenaraber von London aufbieten, und die sollen mir die Sache ermitteln.«

»Wenn du den Kutscher gefunden hast«, rief Sherlock Holmes, »so bringe ihn hierher. Sage ihn, er wird für seinen Zeitverlust belohnt werden. Ich bin heute Abend hier.«

Sobald Harry Sherlock Holmes verlassen hatte, durchschritt dieser, seine kurze Pfeife rauchend, das Zimmer. Dabei rieb er sich von Zeit zu Zeit die Hände wie ein Indianer, der zwei Hölzer aneinander reibt, die ihm Feuer verschaffen sollen. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, lachte er hin und wieder halblaut auf.

»Darüber besteht kein Zweifel«, murmelte er, »es gibt eine kriminalistische Mathematik, und wenn sich in unseren arithmetischen Berechnungen dieselbe Zahl zweimal in einer Kolonne zeigt, so hat dies zu bedeuten, dass wir der Lösung ziemlich nahe sind. Hier ist nun eine Zahl vorhanden, die sich mir bereits zweimal vorgestellt hat, und diese Zahl ist der Matrose. Ein Matrose bringt mit dem Cabkutscher zusammen die Leiche Mr. Estrades. Das ist um zehn Uhr abends. Um zwei Uhr nachts taucht ein Matrose in sehr geheimnisvoller Weise in den Geschäftsräumen der Firma Estrade auf, bemächtigt sich des Geheimbuches und flieht, als er sich beobachtet fühlt, nachdem er den telegrafischen Alarmapparat benutzt hat, welcher die Geschäftsräume der Firma mit der Polizeistation verbindet.

Aus dieser Gleichung der beiden Matrosen leiten wir Kriminalmathematiker folgende Formeln ab: Erstes: Wer ist dieser geheimnisvolle Matrose? Ist der um zwei Uhr nachts derselbe, der sich schon um zehn Uhr abends im Falle Estrade gezeigt hat? Zweitens: Welches Interesse hat dieser Matrose am Geheimbuch der Firma, durch welches, wie ich mich überzeugt habe, entschieden hervorgeht, dass die Firma Estrade fallit gewesen ist und den Bankerott in der nächsten Zeit nicht umgehen konnte? Drittens: Wie kommt es, dass der Matrose den Schlüssel zur Tür des großen Kontors der Firma Estrade besaß, und wie kommt es ferner, dass er von der Existenz des Polizeikontrollapparates Kenntnis hat und genau wusste, wo und wie der Apparat in Bewegung zu setzen sei?

Auf alle diese Fragen habe ich bereits meine Antworten«, fuhr Sherlock Holmes in seinem Selbstgespräch fort, »und ich glaube, das Exempel wird stimmen, wenn wir anstatt dieses jetzt noch vorhandenen x oder y die entsprechenden Namen eingesetzt haben werden. He, Madam Bonnet, was wünschen Sie?«

Diese Frage Sherlock Holmes war an eine ältere, schon ergraute Dame gerichtet, welche an der Tür erschienen war. Es war die Wirtschafterin Sherlock Holmes, welche seinem Haus, in welchem auch Harry Tacon wohnte, vorstand.

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Frau Bonnet, »aber unten steht ein junges Mädchen, welches Sie zu sprechen wünscht. Es sagt, es sei das Kammermädchen von Mrs. Estrade.«

»Ich weiß schon, weshalb das Mädchen kommt«, erwiderte Sherlock Holmes. »Lassen Sie es nur heraufkommen, Frau Bonnet.«

Die Wirtschafterin entfernte sich, und schnell zog Sherlock Holmes den Fächer, den er in seiner Brusttasche trug, heraus, entfaltete ihn und kopierte die seltsame Formel, die auf der dritten Spalte des Fächers stand – 11 – aqua destillata – Mildred – 10 – 5 – Dr. Paris – auf ein Stück Papier, das er dann sorgsam in sein Taschenbuch verschloss.

An seiner Tür klopfte es, und Sherlock Holmes rief freundlich: »Sie sind das Kammermädchen von Mrs. Estrade? Sie kommen sich wahrscheinlich zu erkundigen, ob der Fächer dieser Dame gefunden worden sei. Hier ist er, bringen Sie Mrs. Estrade meine Empfehlung und sagen Sie ihr, dass der Fächer wahrscheinlich durch eine Fußbewegung unter meinen Schreibtisch geschleudert worden war. Heute Morgen ist er beim Aufräumen gefunden worden.«

»Ich danke, Mr. Sherlock Holmes«, sagte das Mädchen, indem es den Fächer an sich nahm. Dann grüßte es und schritt zur Tür, blieb aber an derselben stehen.

»Damit erscheint die Angelegenheit erledigt oder haben Sie mir noch etwas von Mrs. Estrade auszurichten?«

»Das wohl nicht«, antwortete das junge Mädchen, auf dessen Antlitz die Farben wechselten, »aber … ich selbst … möchte Ihnen … eine Mitteilung machen.«

»So haben Sie die Güte, die Tür zu schließen, und teilen Sie mir vor allen Dingen mit, wie Sie heißen.«

»Ich heiße Betsy Blom, und ich stehe seit drei Monaten erst in den Diensten der Mrs. Estrade. Meine Herrin ist immer sehr gütig gegen mich gewesen; sie hat mich mit Geschenken überhäuft. Ich habe herzlich geweint, als gestern Nacht das große Unglück über uns gekommen ist. Der Herr war auch immer so freundlich und doch – ich bin empört, Mr. Sherlock Holmes, – ich bin entrüstet.«

Das junge Mädchen begann zu weinen. Sherlock Holmes legte ihr freundlich die Hände auf die Schulter und sagte zu ihr: »Aber weinen Sie doch nicht, Kleine, sagen Sie mir lieber, warum Sie entrüstet sind, und schütten Sie mir rückhaltlos Ihr Herz aus.«

»Ach, Mr. Sherlock Holmes«, stieß das Kammermädchen hervor, »sollte man da nicht entrüstet sein, wenn eine Frau, die von ihrem Gatten auf Händen getragen worden ist, der alles für sie getan hat, was er ihr nur von den Augen absah, und wenn dann der Mann unter so schrecklichen Umständen stirbt, sollte man da nicht entrüstet sein, wenn diese Frau in derselben Nacht, in der man ihr die Leiche ihres Gatten ins Haus bringt …«

Das Mädchen konnte vor Tränen nicht weitersprechen, sie musste ihr Taschentuch zu Hilfe nehmen.

Sherlock Holmes Augen hatten sich unheimlich erweitert, in seinen Blicken lag jene eigentümliche nervöse Spannung, die sich nur in den Augen eines Menschen widerspiegelt, der zu einem großen Schlag ausholt. Der Körper des Detektivs duckte sich förmlich zum Tigersprung, wie Sherlock Holmes von sich selbst lachend behauptete.

»So sprechen Sie nur weiter«, sagte er dann mit erzwungener Ruhe zu Betsy, »Sie können versichert sein, dass ich meinen Mund halten werde. Ich will durchaus nicht, dass Ihre Mitteilungen Sie um diese gute Stellung bringen.«

»O, was meine Stellung anbelangt«, antwortete Betsy, »so ist es damit ja überhaupt aus. Mr. Estrade hat mir schon mitgeteilt, dass sie um keinen Preis der Welt länger in London bleibt. Sie will nach dem Begräbnis ihres Gatten, welches übermorgen stattfindet, sofort London verlassen und nach dem Süden gehen. Sie behauptet, sie würde wahnsinnig werden, wenn sie in dieser Stadt bleiben sollte, in der man ihr das Teuerste auf Erden ermordet hat.«

»So, Mrs. Estrade will auf Reisen gehen?«, fragte Sherlock Holmes scheinbar gleichgültig. »Das wäre im Grunde genommen ihr nicht zu verdenken. An London knüpfen sich für sie furchtbare Erinnerungen, und sie erhofft wahrscheinlich von einem längeren Aufenthalt im Süden Stärkung ihrer Nerven. Da sie aber doch nicht ohne Bedienung bleiben kann und mit Ihnen zufrieden ist, so sollte es mich wundern, wenn Mrs. Estrade Sie nicht mitnehmen würde.«

»Das hat mich auch gewundert, aber Mrs. Estrade sagte zu mir: ›Niemand, der in meinem Dienst gestanden hat, darf mich begleiten. Es tut mir leid, Betsy, aber ich werde Ihnen das Gehalt für ein halbes Jahr auszahlen und Sie, wenn auch ungern, aus meinem Dienst entlassen müssen.‹ Ebenso ergeht es dem Kutscher und dem Diener, ganz natürlich auch dem Portier, dem Stubenmädchen und der Köchin.«

»Also mit einem Wort«, rief Sherlock Holmes, und es lag etwas Triumphierendes in seiner Stimme, »Mrs. Estrade legt Wert darauf, ganz allein aus London herauszukommen?«

»Ja, darauf legt sie Wert«, erwiderte Betsy, und plötzlich weinte sie nicht mehr, sondern aus ihren Augen zuckten hasserfüllte Blicke. »Ja, darauf scheint sie großen Wert zu legen, ich aber weiß auch den Grund, weshalb sie es tut.«

»Und Sie wollen mir den Grund mitteilen?«

»Ja, das will ich, denn Sie wenigstens, Mr. Sherlock Holmes, sollen es erfahren, dass diese Frau Komödie spielt, wenn sie an der Leiche ihres Mannes Tränen vergießt. Sie hat Mr. Estrade niemals geliebt. Sie hat ihn hintergangen.«

»Ah, eine kleine Ehebruchskomödie?«

»Was werden Sie sagen, Mr. Sherlock Holmes«, fuhr die Kammerzofe mit großer Zungengeläufigkeit fort, »wenn ich Ihnen erzähle, nein, wenn ich Ihnen schwöre, dass in der vergangenen Nacht, lange nachdem Sie sich entfernt hatten – warten Sie, ich habe ja nach der Uhr gesehen – es war 3 Uhr 45 Minuten – ein Mann im Schlafzimmer der Mrs. Estrade gewesen ist. Ein Mann, den sie geküsst, umarmt, mit dem sie minutenlang geflüstert hat.«

Sherlock Holmes spielte, um das Kammermädchen zu weiteren Mitteilungen zu veranlassen, den höchlichst Entrüsteten.

»Aber dergleichen habe ich ja noch niemals in meinem Leben gehört! Das hätte ich der schönen blonden Frau niemals zugetraut. In derselben Nacht, in der man ihren Gatten ermordet nach Hause bringt, in demselben Haus, in welchem die Leiche ruht, wirft sie sich in die Arme eines Liebhabers? Wahrscheinlich hat dieses Verhältnis schon längst hinter dem Rücken des armen Mr. Estrade bestanden?«

»Das ist es eben, Mr. Sherlock Holmes, was mich so befremdete«, entgegnete Betsy. »Ich schwöre Ihnen, dass ich dergleichen niemals bemerkte, so lange Mr. Estrade noch lebte, und wir Kammermädchen beobachten ziemlich scharf!«

»Das weiß ich«, gab Sherlock Holmes lachend von sich, »mitunter schärfer als wir Detektive.«

»Aber niemals habe ich wahrgenommen, dass Mrs. Estrade sich anderen Männern gegenüber das Geringste vergeben hat. Niemals habe ich sie bei einem zärtlichen Rendezvous entdeckt, niemals nur einen Brief fortgetragen, der im Geringsten zweifelhaft gewesen wäre, und gerade heute Nacht, in der Todesnacht ihres Gatten, ah, das ist abscheulich! Wenn diese Dame ein Verhältnis mit einem anderen Mann hätte beginnen wollen, hätte sie sich doch eine geeignetere Zeit dazu aussuchen können.«

»Das ist sehr richtig«, antwortete Sherlock Holmes, »indessen ist es ja möglich, dass der Liebhaber der Mrs. Estrade erst in der vergangenen Nacht nach London gekommen ist. Aber erzählen Sie mir jetzt mehr von dem, was Sie gesehen haben. Wie kam es denn überhaupt, dass Sie noch zwischen drei und vier Uhr nachts wach waren, warum haben Sie denn nicht geschlafen?«

»Wie kann ich schlafen, Mr. Sherlock Holmes«, rief Betsy, »wenn ich weiß, dass eine Leiche im Haus ist! Nicht ein Auge konnte ich schließen, obwohl ich mich auf das dringende Verlangen der Mrs. Estrade zu Bett begeben hatte. Sie wollte nichts davon hören, dass ich mit ihr wache, wie ich ihr angeboten hatte. Sie wollte allein an der Leiche ihres Gatten weinen und beten. So zog ich mich denn auf mein Zimmer zurück.«

»Wo liegt Ihr Zimmer im Estradeschen Haus?«

»Kammermädchen pflegen gewöhnlich in der Nähe ihrer Dame zu schlafen,« antwortete Betsy. »Zwischen dem Schlafzimmer der Mrs. Estrade und dem meinen befindet sich nur das Badezimmer und das Toilettenzimmer, dann kommt ein einfenstriger, aber hübsch eingerichteter Raum, über den ich verfüge. Alle diese Zimmer gehen mit ihren Fenstern auf den Garten hinaus, Mr. Sherlock Holmes. Das müssen Sie wissen, um zu verstehen, was ich Ihnen jetzt erzählen werde.«

»Die Sache sieht also ungefähr so aus«, sagte Sherlock Holmes, indem er auf einen Bogen Papier mit Bleistift eine Skizze entwarf: »Schlafzimmer, Badezimmer, Toilettenzimmer, Zimmer des Kammermädchens – und hier der Garten.«

»Ganz recht, Mr. Sherlock Holmes, nur müssen Sie noch die Terrasse einzeichnen.«

»Welche Terrasse?«

»Nun, die Terrasse, die sich unterhalb des Schlafzimmers der Mrs. Estrade befindet. Von dieser Terrasse führt eine bequeme Treppe in den Garten hinab, während eine Wendeltreppe andererseits wieder in das Schlafzimmer meiner gnädigen Frau leitet, sodass Mrs. Estrade in schönen Mondsommernächten, wenn sie die Lust dazu anwandelte, direkt vom Schlafzimmer auf die Terrasse gelangen konnte. Auch haben die Herrschaften dort sehr oft das Frühstück eingenommen.«

»Jetzt verstehe ich die Situation vollkommen – fahren Sie fort, Miss Betsy, was geschah nun also in der vergangenen Nacht?«

»Ich konnte, wie gesagt, nicht schlafen, stand auf und setzte mich halb angekleidet ans Fenster. Wie ich nun in den Garten blickte, der mit seinen herbstlichen dürren Ästen einen gespenstigen Eindruck machte, da hörte ich plötzlich Schritte, die durch den Garten kamen und sich der Treppe näherten, die zur Terrasse emporsteigt. Ich fuhr entsetzt auf und taumelte vom Fenster zurück. Zuerst hatte ich eine wahnsinnige Vision, die aber sehr leicht durch meine abergläubische Furcht zu erklären ist. Denken Sie nur, Mr. Sherlock Holmes, mir war es, als sähe ich den seligen Herrn durch den Garten kommen.«

»Mr. Estrade?«, stieß der Detektiv lachend hervor, »haha, welch eine Idee, den armen Mr. Estrade, der mit einem Dolchstoß im Herzen tot auf dem Diwan in seinem Zimmer liegt!«

Aber während der Detektiv diese Worte sprach, rieb er sich seine hageren Hände und ließ seine Finger knacken, was er tat, wenn er eine angenehme Nachricht erhielt.

»Im nächsten Moment kam ich natürlich wieder zu mir«. fuhr Betsy fort, »ich sagte mir, dass der Tote nicht auferstehen könnte, und dass der Mann mit dem langen Mantel und einer Reisemütze auf dem Kopf ein anderer sein müsse. Ein Einbrecher, sagte ich mir – am Ende gar der Mörder, der Mr. Estrade über den Haufen gestochen hat und jetzt vielleicht kommt, um uns alle zu töten. Ich wollte schreien, aber das Entsetzen lähmte mir meine Zunge, und wie ich mich endlich soweit aufgerafft hatte, dass ich mich über die Brüstung des Fensters beugen konnte, um mich zu überzeugen, dass der entsetzliche Fremde auch wirklich existiere und dass ich ihn nicht nur in der Einbildung gesehen habe, – da – denken Sie sich, Sherlock Holmes, da stand er schon auf der Terrasse, und über die Wendeltreppe hinab vom Schlafzimmer aus huschte Mrs. Estrade. Sie streckte dem Fremden beide Hände entgegen, sie zog ihn an ihre Brust, sie küsste ihn und dann verschwanden sie beide im Schlafzimmer.«

»Und wie lange waren sie im Schlafzimmer, die schöne Mrs. Estrade und der fremde Herr?«, fragte Sherlock Holmes.

»Lange genug, um eine schwere Sünde zu begehen«, rief das Mädchen weinend, »es mögen ungefähr fünf Minuten gewesen sein, vielleicht sogar zehn. Sie können sich denken, Mr. Sherlock Holmes, dass ich in diesen schrecklichen Momenten nicht die ruhige Überlegung hatte, auf die Uhr zu sehen. Aber nach etwa zehn Minuten hörte ich oben eine Glastür klirren. Der Fremde eilte über die Wendeltreppe hinab, blieb noch eine Sekunde auf der Terrasse stehen, verließ auch diese dann und verschwand durch den Garten auf die Straße hinaus.«

»Und konnten Sie denn bei dieser Gelegenheit das Gesicht nicht sehen?«, fragte Sherlock Holmes.

»Jetzt, da er ging, noch weniger, denn er hatte die Mütze so tief ins Gesicht hineingezogen und den Kragen des Mantels aufgestellt. Auch wandte er mir sogleich den Rücken, als er das Haus verließ.«

»Sagen Sie mal«, fragte Sherlock Holmes, »haben Sie ungefähr eine Schätzung dafür, wie groß dieser Fremde gewesen ist?«

»Er war groß und schlank«, antwortete Betsy.

»Und ist Ihnen vielleicht aufgefallen«, forschte der Detektiv nachdenklich, »dass dieser Fremde ungewöhnlich große Füße hatte?«

»Mr. Sherlock Holmes, man sieht in solchen schrecklichen Momenten den Menschen nicht auf die Füße.«

»Selbstverständlich nicht«, antwortete Sherlock Holmes, »und nun – wie fanden Sie Ihre Herrin heute Morgen?«

»Mrs. Estrade saß an der Leiche ihres Gatten, als ich um sechs Uhr früh das Zimmer betrat. Sie sah totenbleich und abgespannt aus. Auch war sie unruhig und klagte über krampfhaften Kopfschmerz. Sobald das Begräbnis vorüber sei, wiederholte sie nochmals, müsse sie fort, denn hier im Haus würde sie den Verstand verlieren. Aber nicht wahr, Mr. Sherlock Holmes?«, fügte Betsy im weinenden Ton hinzu, »Sie werden über all das, was ich Ihnen mitgeteilt habe, nicht reden? Ich habe Ihnen gegenüber mein Herz ausgeschüttet, das Geheimnis hätte mich sonst erdrückt. Ich möchte aber nicht von Mrs. Estrade in Unfrieden scheiden, es ist schon wegen des Gehaltes, das sie mir noch bezahlen will, und dann versprach sie auch, mir noch eine Menge alter Kleider von sich zu schenken!«

»Nichts soll Ihnen entgehen, gar nichts, liebe Betsy, ich werde schweigen wie – ein Kammermädchen, – wollte sagen – wie ein Fisch.

Und nun kehren Sie zu Ihrer Herrin zurück und überbringen Sie ihr den Fächer.«

Sherlock Holmes reichte dem Mädchen die Hand und Betsy verließ ihm

fünf Minuten später saß Sherlock Holmes in einem Cab.

Er hatte dem Kutscher befohlen, ihn zur Somerset Street zu bringen, aber nicht vor dem großen Tor des Hauses zu halten, sondern rückwärts in der Nähe des Gartens.

Sobald der Wagen stand, verließ ihn Sherlock Holmes und näherte sich vorsichtig dem eisengeschmiedeten Gitter, das den Garten umgab.

Nur durch eine einzige Tür konnte man durch die Seitenstraße in den Garten hineingelangen.

Hier aber war das Gitter verschlossen.

»Es wird auch heute Nacht verschlossen gewesen sein«, sagte sich Sherlock Holmes, »und jener Fremde, der Mrs. Estrade besucht hat, muss unbedingt einen Schlüssel zum Gitter besessen haben, ebenso wie der Matrose heute Nacht ihn zum Kontor in der Ludgate Street hatte.

Mir wird es keine Schwierigkeiten machen, die Tür zu öffnen.«

Sherlock Holmes zog seinen Nachschlüssel hervor und öffnete das Gitter.

Er betrat den Garten, und mit einem schnellen Blick überzeugte er sich, dass sämtliche Vorhänge an den Fenstern des Hauses, die in den Garten gingen, zugezogen waren. Er war also unbeobachtet.

Mit seinen Blicken suchte der Detektiv nun den Boden ab.

Am Nachmittag des vergangenen Tages war ein heftiger Regen niedergegangen. Der Boden besaß daher immer noch eine gewisse Weichheit, und selbst jetzt noch prägte sich jeder Schritt, den er tat, in den Boden ein.

Plötzlich blieb Sherlock Holmes stehen, warf sich dann auf die Knie nieder, bückte sich tief und betrachtete den Abdruck einer Stiefelsohle, die sich ganz genau auf dem Boden abzeichnete.

Im nächsten Moment zog er das Metermaß hervor, legte es an die Spur an und mit der größten Befriedigung stieß er wenige Sekunden später die Worte hervor: »Genau 37 – das beweist viel. Denn nun steht es für mich fest. Er war heute Nacht bei seiner Frau!«