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Deutsche Märchen und Sagen 20

Johann Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

20. Ohneseele

Es war einmal ein junger Bursche, der hieß Körper-ohne-Seele oder auch schlechtweg Ohneseele. Das war ein Menschenfresser, und er mochte anders nichts als junge Mädchen. Es war aber Brauch im Land, dass alle Mädchen ums Los zogen. Welche es traf, die musste ihm übergeben werden. Nun geschah es einmal, dass das Los auf die Königstochter fiel. Der König war darüber außermaßen betrübt, aber er konnte nichts gegen das Gesetz machen. Man führte die Königstochter zu dem Schloss, auf welchem Ohneseele wohnte. Der sperrte sie in ein Kämmerchen ein und trug ihr alle Tage gut Essen auf, um sie recht fett zu machen.

Obwohl sie nun schon in den Händen von Ohneseele war, verlor der König doch noch nicht alle Hoffnung. Er ließ ein Gebot im Land ausgehen und überall verkünden: Wer die Königstochter erlösen werde, der solle sie zur Frau haben. Es waren aber nicht viel, die sich zu dem Wagstück anboten, denn ein jeder fürchtete, dem Menschenfresser zwischen die Zähne zu kommen. Endlich aber kam doch ein ganz einfacher Soldat. Der sprach, er wolle es unternehmen und die Königstochter erlösen. Da war der König froh und schenkte ihm einen ganzen Sack voll Geld für die Wegzehrung auf der Reise. Der Soldat machte sich auf den Weg. Indem er nun so dahinmarschierte, sah er auf einem Stück Land zur Seite der Heerstraße vier Tiere sitzen, eine Fliege, einen Adler, einen Bären und einen Löwen. Die zankten sich um ihr Anteil an einem toten Pferd.

Der Soldat ging auf sie zu und fragte sie: »Was zankt ihr euch da?« Da schrien sie alle vier zugleich, aber der Soldat sprach: »Pst, pst, einer vor und der andere nach.« Er hörte sie alle vier einzeln an. Als er wusste, warum es sich handle, nahm er sein Käsemesser aus der Scheide und teilte ihnen das Pferd, sodass sie alle zufrieden waren.

Als er darauf wieder weitergehen wollte, riefen sie ihm nach: »Warte doch, wir wollen dir alle etwas geben für den Gefallen, den du uns getan hast.«

Da lachte der Soldat und sprach: »Was könntet ihr mir wohl geben wollen. Ihr habt ja alle vier nichts.«

»Das kannst du nicht wissen«, sprach der Adler. »Sieh hier, da hast du zum Beispiel eine Feder von mir. Damit kannst du dich, so oft du willst, in einen Adler verwandeln.«

»Das ist nicht schlecht«, sprach der Soldat, »man kann nicht wissen, die könnte mir zugutekommen.«

Nun sprach die Fliege: »Da ist ein halbes Pfötchen von mir, damit kannst du dich, so oft du willst, in eine Fliege verwandeln.«

»Das ist auch eine schöne Kunst«, erwiderte der Soldat.

Der Löwe und der Bär wollten ihm auch was zum Lohn geben, aber er bedankte sich und sprach, er habe schon genug.

Des Abends machte er sich zum Adler und flog auf einen hohen Baum. Da schaute er ein bisschen um sich, aber er sah nichts als Bäume. Des anderen Morgens flog er in der Gegend umher und sah von fern ein großes Schloss. Darauf flog er zu. Am Tor fand er ein großes, schwarzes Brett. Darauf stand geschrieben: Hier wohnt Herr Ohneseele. Als er das las, da war er froh und verwandelte sich sogleich in eine Fliege, um das Schloss ein wenig auszuspionieren. Er flog von einem Fenster zum anderen und schaute in jedes hinein, bis er endlich auch an das Fenster kam, wo die schöne Königstochter gefangen saß. Der gab er sich alsbald zu erkennen und sprach: »Ich komme, um Euch zu erlösen, aber dazu muss ich wissen, wo eigentlich die Seele von Ohneseele sitzt.«

Da sprach die Königstochter: »Das weiß ich nicht, aber ich will es fragen.«

»Gut«, sprach der Soldat, »ich komme morgen wieder.«

Als nun der Menschenfresser kam und ihr Essen brachte, da sprach sie: »Ach, ich möchte doch noch etwas wissen, bevor ich sterbe.«

»Was denn?«, fragte der Menschenfresser.

»Wo deine Seele ist.«

Da sprach der Menschenfresser: »Da werde ich mich wohl hüten, dir das zu sagen, denn wenn du das wüsstest, dann wärest du erlöst.« Und damit ging er weg.

Des Abends flog der Soldat wieder zu dem Fenster und fragte die Königstochter: »Wisst Ihr nun, wo seine Seele ist?«

»Ach nein«, sprach sie, »er will es mir nicht sagen.«

Da sprach der Soldat: »Ihr müsst ihm ein wenig schmeicheln und einen Fußfall tun. Dann wird er es Euch schon sagen und dann kann ich Euch erlösen.«

Am anderen Tag, als Ohneseele ihr das Essen wieder brachte, schnauzte er sie an: »Da ist dein Essen. Du hast nun noch dreizehn Tage zu leben, dann fresse ich dich.«

Da fiel sie vor ihm auf die Knie und sprach flehentlich: »Ach, ich möchte gern sterben, wenn ich nur wüsste, wo deine Seele wäre.«

Da sprach er: »Nun ja, du kannst es wissen, aber du darfst es keinem weitersagen.« »Wem sollte ich das wohl sagen können?«, fragte sie. »Ich sehe hier ja niemand.« »Nun ja, anders sagte ich es dir auch nicht. Sieh, meine Seele sitzt in einem Kistchen. Das steht auf einem Felsen, mitten in der roten See.«

»Nun sterbe ich noch einmal so gerne«, sprach die Königstochter.

Ohneseele ging weg.

Des Abends kam der Soldat wieder in Gestalt einer Fliege an das Fenster und fragte wieder: »Wisst Ihr nun, wo seine Seele ist?«

»Jawohl«, sprach sie, »in einem Kistchen auf einer Klippe inmitten der roten See.«

»Nun weiß ich genug«, sprach der Soldat, »nun braucht Ihr nicht lange mehr auf Eure Erlösung zu warten.« Damit flog er wieder weg, verwandelte sich in einen Adler und ging in einem hohen Baum schlafen. Morgens früh schaute er einmal um sich und sah von Weitem ein anderes Schloss stehen. Darauf flog er zu. Als er nicht weit mehr davon war, verwandelte er sich wieder in seine gewöhnliche Menschengestalt und ging zum Tor des Schlosses. Da sah er ein großes Schild auf dem Tor, auf welchem geschrieben stand: Hier wohnen die vier Winde. Er klopfte und ein steinaltes Mütterlein machte ihm die Tür auf. Das hatte nur ein Auge, nämlich auf der Stirn.

»Ach, Frauchen, könnte ich nicht heute hierbleiben, um etwas auszuruhen?«, fragte er. »Ich bin nur ein armer Soldat und ich habe kein Geld.«

Das Mütterchen sprach: »Jawohl, ich bin es zufrieden, wenn nur meine Söhne es zufrieden sind. Aber dafür bin ich sehr bang, denn wenn die kommen und dich finden, dann fressen sie dich.«

»Ach Gott, lasst mich doch ein«, bat der Soldat, »ich will mich gleich ins Bett legen.« Da ließ das Mütterchen ihn ein und er ging gleich auf den Speicher.

Noch keine fünf Minuten war er da, als der Südwind nach Haus kam und zugleich auch schrie: »Mutter, ich rieche Menschenfleisch.«

»Ja, da riechst du gut«, sprach die Alte, »aber lass den armen Teufel nur noch Leben. Es liegt noch ein ganzer halber Mensch in Salz und Pfeffer.«

»Nun, ich bin es zufrieden«, sprach der Südwind, »wenn meine Brüder es nur auch zufrieden sind.«

Ein wenig danach kam der Nordwind und brummte: »Mutter, ich rieche Menschenfleisch.«

Da sprach die Alte: »Deine Nase ist nicht schlecht, aber es ist ein ganz magerer Kerl, an dem nichts als Haut und Knochen zu sehen ist. Darum lass ihn nur in Ruhe, es kommt wohl noch ein Fetterer.«

»Hm, hm, hm«, brummte der Nordwind, »nun ja, ich will ihn leben lassen, aber dann muss er morgen so schnell fliegen wie wir.«

Wo blieben denn die anderen Winde? Die kamen nicht, oder wenn sie kamen, dann gaben sie sich doch zufrieden; denn der Soldat blieb am Leben und schlief ruhig fort auf dem Speicher, dass er schnarchte.

Am anderen Tag morgens ging die Alte schon ganz früh zu ihm auf den Speicher, gab ihm ein Hütchen und sprach zu ihm: »Da nimm das Hütchen und setze es auf, dann hast du Kraft, so schnell zu fliegen wie meine Söhne.«

Der Soldat bedankte sich schön, setzte das Hütchen auf und sprach: »Ich will ein Adler sein.« Im selben Augenblick wurde er zum Adler. Er flog mit den Winden aus weit über die See. Als sie schon lang zusammen geflogen waren, da hielten sie auf einem Felsen.

Da sprachen die Winde: »Nun sag uns, was du haben willst und alles soll dir gewährt werden.«

Der Soldat wünschte nichts Besseres und sprach: »Ich möchte gern ein Kistchen haben, das mitten in der roten See auf einem Felsen steht.«

»Das sollst du haben«, sprachen die Winde. Sie beschworen die See, dass sie stillstand, riefen die Fische zusammen und befahlen ihnen, dass sie das Kistchen holen sollten. Die Fische schwammen alsbald nach allen Seiten weg, suchten und suchten, aber sie konnten es lange nicht finden. Endlich kam ein Krüppel von Weißling ganz zufällig in die Nähe des Felsens, schlug einmal tüchtig mit seinem Schwänzlein und war in zwei Sprüngen oben. Da packte er das Kistchen mit dem Maul, sprang wieder ins Wasser und schwamm guten Mutes zu dem Felsen, wo der Soldat mit den Winden stand. Der Soldat hatte seine Freude! Herr Gott, er wedelte mit seinem Adlerschwanz, schlug mit den Flügeln und sprang mit seinen dünnen Beinen, dass die Winde sich halb kranklachten. Dann nahm er das Kistchen zwischen die Klauen, bedankte sich noch aus Herzensgrund bei den Winden und dem krummen Weißling und flog, dass es rauschte, auf das Schloss von Ohneseele zu. Da klopfte er, als wenn es gebrannt hätte. Ohneseele wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, kam und machte selbst die Tür auf. Da stand der Soldat wieder in Menschengestalt davor.

Ohneseele wurde blitzböse, als er ihn sah, und schrie: »Was hast du hier so zu klopfen? Gleich fresse ich dich mit Haut und Haar.«

Der Soldat aber lachte ihn aus und sprach: »Das würde dir schlecht bekommen, denn hier habe ich deine Seele in dem Kistchen.«

Als der Menschenfresser das hörte, da fiel ihm sein ganzer Mut in die Waden. Er bat und flehte den Soldaten, ihm doch die Seele zu geben, versprach ihm auch Gott weiß was noch. Aber der Soldat kehrte sich nicht daran, schloss das Kistchen schnell auf, nahm die Seele und warf sie hinterrücks über seinen Kopf. Im selben Augenblick fiel der Menschenfresser hin und war stockmausetot. Der Soldat ging nun zu dem Zimmer, wo die Königstochter gefangen saß. Sie fielen einander in die Arme und waren alle beide froh. Danach verließen sie das Schloss und gingen zum König. Da heirateten sie und lebten noch sehr lang zufrieden und glücklich. Da kroch eine Maus in des Pastors Haus und das Erzählchen ist aus.