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Die Flusspiraten des Mississippi 15

die-flusspiraten-des-mississippiFriedrich Gerstäcker
Die Flusspiraten des Mississippi
Aus dem Waldleben Amerikas

15. Das Wiedersehen

Mississippi, Riesenstrom jener fernen Welt, wild und großartig wälzt du deine mächtigen Fluten dem Meer zu, und mit den gewaltigen Armen greifst du nach Ost und West hinein, in das Herz der Tausende von Meilen entfernten Felsengebirge und in die Klüfte der kühn emporstarrenden Alleghanies. Aus den nördlichen eisbedeckten Seen holst du deine Wasser, und Bett und Bahn sind dir zu eng, wenn du deine Kräfte gesammelt und die Fluten zum wilden Kampf gegen den stillen Golf hinabführst. Wie ein zuchtloses Heer erkennen sie dann keinen anderen Herrn an als nur dich. Rechts und links durchbrechen sie Ufer und Damm, vernichten, was sich ihnen in den Weg stellt, zertrümmern, was ihre Bahn hemmen will, und plündern den weiten rauschenden Wald, der sich ängstlich zusammendrängt, dem fürchterlichen Ansturm zu begegnen. Viele Tausend Stämme und junge lebenskräftige Bäume reißen sie wie zum Hohn aus seinen Armen und führen sie im Triumph spielend und wirbelnd hinweg, ja, gebrauchen sie sogar als Waffen gegen die Schutz- und Notdämme der zitternden Menschen, schleudern sie mit entsetzlicher Kraft wider sie und durchbrechen nicht selten ihre Festen. Mit Sturmesschnelle wälzen sich dann die schäumenden Wogen durch friedliche Felder und über fruchtbare Ebenen hinaus – erbarmungslos schleppen sie hinweg, was sie tragen können, und vernichten das Übrige. Und wenn sie weichen, dann lassen sie eine Wüste zurück, in der oft selbst die letzte Spur menschlichen Fleißes vernichtet ist.

Solch fürchterliche Macht übt der Mississippi. Hat aber sein Toben geendet, künden nur noch die schlammigen Streifen an Hügeln und Bäumen, welche Höhe er erreicht, dann strömt er gärend und innerlich kochend, aber doch in sein Bett hineingezwängt, zwischen den unterwühlten Ufern hin, von denen er nur hier und da, wie aus Grimm, dass ihm jetzt die Kraft fehlt, über sie hinauszubrechen, einzelne Stücke abreißt und sie spielend in seinen Fluten verwäscht. Die gelbe, lehmige Strömung schießt reißend schnell, hier und da mit trüben Wirbeln und Strudeln gemischt, von Landspitze zu Landspitze. Schmutzige Blasen treiben auf ihrer Oberfläche, und selbst die sich weit hinüberbiegenden Weiden suchen vergebens ihr Spiegelbild in dem flüssigen Schlamm. Dazu starren, dort oben fast von keiner menschlichen Wohnung unterbrochen, die Riesenleiber der Urbäume ernst und finster zum Himmel empor, und weite undurchdringliche Rohrbrüche, von dornigen Lianen durchwoben, dehnen sich unter ihnen aus, den einzigen Raum noch füllend, der die Baum- und Strauchmassen frei lassen.

Tom Barnwell hatte auf der angeschwollenen Flut, ohne sich sonderlich anzustrengen, etwa zehn Meilen, teils rudernd, teils in seinem Kahn nachlässig ausgestreckt, zurückgelegt. Er sah jetzt eine kleine runde Insel vor sich, die, dicht mit Weiden bewachsen, fast mitten im Strom lag. Er ließ sein Boot ruhig und selbstständig gleiten und wurde bis an das westliche Ufer getrieben, wo sich der Schilfbruch so dicht an das Ufer heranzog, dass die vordersten Stangen in die Flut gestürzt waren und nun mit ihren langen starren Blättern die Schaumblasen aufgriffen und zerteilten. Gestürztes Holz lag hier so wild durcheinander, dass Tom fast unwillkürlich den Blick darauf haften ließ und noch eben bei sich dachte, wie es hier doch selbst einem Bär schwerfallen würde, durchzukommen, als fast neben ihm, höchstens zwanzig Schritt entfernt, mitten aus dem tollsten Gewirr von Rohr und Schlingpflanzen heraus, die munteren, hellen Töne einer Violine zu ihm drangen. Tom blickte erstaunt auf. Es blieb ihm aber bald kein Zweifel mehr, dass dort wirklich ein Unbekannter die Violine spiele. Der Bootsmann sah sich scheu einen Augenblick um, ob er sich auch in der Tat auf dem Mississippi und dicht neben einem Rohrbruch befinde und nicht etwa aus Versehen an irgendeine, bis dahin noch unbekannte Ansiedlung gekommen sei.

Doch es gab keinen Zweifel. Hier im Urwald von Arkansas gab jemand ein Solokonzert. Tom steuerte seinen Kahn dicht ans Ufer, band ihn hier an einen jungen Sykomorenstamm fest, der zwischen zwei größeren Stämmen eingeklemmt lag, und kletterte dann – ein Weg war nirgends zu sehen – das steile Ufer hinauf, wo er sich aber erst mit seinem Messer einen Weg zu der Richtung schlagen musste, aus der die Musik herübertönte. Mühsam arbeitete er sich durch das Dickicht und erreichte end­lich einen umgestürzten oder, wie er später fand, gefällten Baum. Er lachte laut auf, denn auf dem Stamm saß, mitten im Rohrbruch, von Schlingpflanzen und Moskitos umgeben, der einsame Musikant.

Es war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit krau­sen dunkelbraunen Haaren, nur in ein baumwollenes Hemd und eben­solche Hosen gekleidet, neben sich einen breitrandigen Strohhut und eine Axt, die an dem Stamm lehnte, an dem er noch eben gearbeitet haben musste.

Der junge Mann selbst aber, höchst behaglich an einen Ast gelehnt, drehte Tom den Rücken und strich so eifrig auf seiner Geige herum, als ob er zahlreiche Zuschauer um sich versammelt sähe und den Ruf bedeu­tender Virtuosität zu wahren hätte.

Als er hinter sich in dieser Wildnis das Lachen eines menschlichen Wesens hörte, drehte er sich, sein Spiel jedoch keineswegs unterbrechend, halb nach dem Fremden um, den er, die kurze Rohrpfeife zwischen den Zähnen,  mit »Nun wie geht’s, Sir?« anredete, als ob das jemand sei, den er schon den ganzen Morgen erwartet habe und nicht jemand, der hinter seinem Rücken, aus dem dichten unwegsamen Busch heraus, heranschleicht.

»Hallo, Sir!«, erwiderte Tom und trat zu dem Violinisten, »schon so flei­ßig heut? Ihr spielt ja, dass einem fast die Füße anfangen zu zucken. Was, Wetter noch einmal, macht Ihr denn hier mit der Violine mitten im Rohr­bruch?«

»Ich spiele den Yankee-Doodle«, meinte der Backwoodsman, »Yankee-Doodle und manchmal auch Washingtons Marsch und manches andere, ich bin vielseitig.« Und seinen Worten treu, fiel er aus dem amerikanischen Nationallied in einen kaum weniger populären Negersang ein und schien Toms Verwunderung, ihn überhaupt hier zu finden, gar nicht zu be­merken.

»Ja, aber um Gottes willen, Mann«, rief dieser endlich erstaunt aus, »habt Ihr Euch denn hier den vier Fuß dicken Baum nur umgehauen, um Euch daraufzusetzen und zu spielen? Ist denn hier nicht irgendeine Hütte, irgendein Lager in der Nähe, wo Ihr hingehört?«

»Ei gewiss«, erwiderte der junge Mann lachend, setzte zum ersten Mal die Violine ab und schaute Tom mit seinen großen dunklen Augen treuherzig an, »gewiss ist ein Haus hier – und was für eins -‚ aber seht Ihr den Pfad nicht? Der führt gleich zum Mississippi hinunter, wo er eine kleine Bucht im Ufer bildet. Dicht dabei habe ich mein Klafterholz stehen, das ich an die vorbeifahrenden Dampfboote, das heißt an die, die nicht vor­beifahren, sondern bei mir anlegen, verkaufe; aber kommt nur mit, ich muss Euch doch meine Residenz zeigen. Jetzt fällt mir’s übrigens erst ein: Wo kommt Ihr denn eigentlich her? Ihr schient zwar im Anfang wie aus den Wolken gefallen zu sein, müsst aber doch wohl irgendwo anders her­kommen.«

»Mein Boot liegt unten am Ufer«, sagte Tom.

»Wo? An meinem Haus?«

»Ich hab kein Haus gesehen, ich kam mitten durch die Dornen.«

»Hahaha, dann glaub’ ich’s Euch, dass Ihr erstaunt über mein Spiel wart, wenn Ihr durch das Dickicht gekrochen seid«, sagte lachend der junge Holzfäller. »Aber kommt nur, ich habe da drüben ein gar behag­liches Plätzchen und muss Euch doch wenigstens einen Bissen zu essen vorsetzen, dass Ihr mir nicht hungrig wieder fortgeht. Seht«, fuhr er fort, als er, dem erstaunten Tom voran, auf dem kleinen, kaum sichtbaren Pfad hinschritt, »hier den Baum hab’ ich gefällt, um ihn zu zerschlagen und die Klafterstücke zum Fluss hinunterzuschaffen. In einem fort und so ganz allein Holz zu hacken ist aber eine höchst langweilige Arbeit, und da nehm’ ich denn gewöhnlich die Violine ein wenig mit, und wenn ich müde vom Schlagen bin, spiel’ ich ein bisschen, bis mir die Arme wieder gelenkig werden. Aber hier ist mein Haus – noch wenig Land dabei urbar ge­macht, sonst jedoch ganz bequem und meinen Bedürfnissen vollkommen genügend.«

Mit diesen Worten schob der junge Mann die letzten über den Pfad hängenden Rohrstangen zurück, und Tom stand auch schon im nächsten Augenblick dicht vor der aus unbehauenen Stämmen aufgeführten Wand des kleinen Hauses, um das sie sich erst herumdrücken mussten, den schmalen niederen Eingang zu erreichen. Hier aber dehnte sich ein etwas freierer Platz vor ihnen aus, der nach dem Fluss zu offen lag und einen Überblick über den Strom gewährte.

Dicht vor der Hütte waren einige fünfzig Klafter Cotton- und Eschenholz aufgestapelt, sonst aber zeigte nichts, dass ein menschliches Wesen in dieser Wildnis gearbeitet oder seinen Wohnsitz da aufge­schlagen habe. Kein Dornbusch war abgehauen, er wäre denn dem Holz­transport im Wege gewesen: Weder Spaten noch Hacke hatte hier je eine Scholle aufgeworfen. Nur die Axt hatte ein Asyl aus dem Wald heraus­gehauen und den Bär und Leopard aus seinem Wohnsitz vertrieben, in dem sich unser munterer Musikfreund, ein Mann aus Kentucky, mutter­seelenallein niedergelassen hatte.

Ein paar große gelbe Rüden, über und über mit Narben bedeckt, waren seine einzigen Gesellschafter und lagen vor der Tür der Hütte ausge­streckt. Obgleich sie bemerkten, dass sich ein Fremder näherte, schienen sie es doch nicht einmal der Mühe wertzuhalten, auch nur den Kopf des­halb zu heben. Er kam ja in Gesellschaft ihres Herrn, und diesen nun begrüßten sie mit einem lebhaften Versuch, die außerordentlich kurzen Schwänze in eine wedelnde Bewegung zu bringen.

Was der Kentuckyer an Lebensmitteln bedurfte, musste ihm der Wald liefern. Seinen geringen Brotbedarf bezog er von den anlegenden Dampf­booten, und im Übrigen versorgte ihn der Mississippi mit Wasser und Fischen. Durch seine Axt konnte er aber ein gut Stück Geld verdienen, von dem es ihm, selbst mit dem besten Willen, nicht möglich gewesen wäre, auch nur einen Cent wieder auszugeben, und er erreichte so, wie er Tom versicherte, wenn auch nicht gerade sehr schnell, so doch ziemlich gewiss seinen Zweck, ein kleines Kapital zu sammeln, um sich später in gesünderer Gegend und »mehr unter Menschen«, jedoch mit der Bedingung, »keinen Nachbarn näher als fünf Meilen im Umkreis zu haben«, niederzulassen.

Sie traten jetzt in das kleine Haus, und einfacher, was, Möbel und Hausrat betraf, konnte allerdings keine Wirtschaft eingerichtet sein. Ein leeres Mehlfass ersetzte den Tisch, ein paar behauene Klötze dienten als Stühle – er hatte deren zwei, um, wie er meinte, nicht auf der Erde zu sitzen, wenn er einmal Gesellschaft bekäme. Sein ganzes Kochgeschirr bestand aus einem einzigen eisernen Topf, ohne Henkel und Deckel, einem Blechbecher und zwei aus Rohr geschnitzten Gabeln. Eine Art Löffel hatte er sich ebenfalls aus Holz geschnitzt, der musste aber nur bei festlichen Gelegenheiten benutzt werden, denn er steckte unberührt und mit Staub bedeckt über dem Kamin. Besser in Schuss schien jedoch sein Schießgerät zu sein: Eine treffliche Büchse lag, mit der Kugeltasche daran, über der Tür, und das sogenannte Skalpiermesser, das unsere Jäger Genickfänger nennen, war in dem Riemen derselben befestigt.

Außerdem lagen noch verschiedene Felle und eine wollene Decke auf der Erde ausgebreitet. Ein in der Ecke aufgespanntes Moskitonetz zeigte den Platz an, wo der Kentuckyer gewöhnlich schlief, denn eine Bettstelle war nirgends zu sehen. Ohne Moskitonetz hätte es hier aber kein Mensch ausgehalten, jedenfalls kein Auge schließen können.

Die Speisekammer schien am besten bestellt, denn oben im Kamin hing eine Anzahl geräucherter Hirsch- und Bärenkeulen und breite Speckseiten, ebenfalls von Bären, Vorrat also für die Zeit, wo die Arbeit ent­weder zu dringend oder die Jagd nicht besonders ergiebig war oder der einsame Mann vielleicht gar krank war.

»Nun, Fremder«, sagte jetzt der Kentuckyer, während er unter dem Mos­kitonetz eine roh aus Holz gehauene Schüssel hervorholte, die kalte, aber feiste und delikate Hirschrippen und ein paar Stücke gebratenen Truthahns enthielt. »Macht’s Euch bequem und langt zu – viel Auswahl ist nicht da – halt, da drunter liegen auch noch ein paar kleine Weizen­kuchen. Das Essen ist übrigens nicht zu verachten, das Wildbret schmeckt delikat, und der Truthahn kann auch gar nicht besser sein. Ein Tropfen Whisky fehlt nur, das Essen hinunterzuspülen.«

»Hallo, wenn’s Euch an Whisky fehlt, da kann ich aushelfen«, rief Tom lachend, »ich habe mir von Helena aus genug Vorrat mitgenommen, acht Tage damit auszukommen, und will doch nur eine Nacht unterwegs sein. Aber die Flasche liegt im Boot, da werd’ ich wohl wieder durch die Dornen zurück müssen.«

»Ei Gott bewahre”, sagte der Kentuckyer, »wenn wir den Whisky so nahe haben, so soll auch schon Rat geschafft werden, ihn herzubekommen, ohne durch diese Wildnis zurückzukriechen. Ich fahre rasch in meinem Kanu hin und hole das Boot hierher. Alle Wetter, war mir’s doch fast so, gerade ehe Ihr kamt, als ob ich Whisky räche. Entweder habe ich eine verdammt gute Nase, oder es gibt Ahnungen.«

Damit sprang er rasch die Uferbank hinunter, stieg in sein Kanu, ver­schwand damit um die kleine Landspitze, die der Fluss hier oben bildete, und kehrte schon nach wenigen Minuten mit Toms Boot zurück, das er jetzt an seiner eigenen Landung befestigte, während Tom ihm dabei zu Hilfe kam und die Whiskykruke mit hinaufnahm.

»Nun sagt mir aber in aller Welt, wo wollt Ihr so allein mit der Kruke hin?«, fragte der Kentuckyer endlich, als sie ihren Hunger gestillt hatten und einen zweiten steifen Grog in dem einzigen Blechbecher bereiteten. »Ihr gedenkt doch nicht nach New Orleans hinunter zu treiben? Das wäre ein verwünscht langweiliger Spaß.«

»Nein«, sagte Tom, »ich will nur sehen, wie die Preise in Montgomerys Point sind. Wir haben hier oben in Helena ein Flatboot, und da unser Steuermann so ein großes Wesen von jenem Ort machte, so gedachte ich einmal vorauszufahren und mich ein bisschen nach allem zu erkundigen.«

Der Holzschläger lachte und meinte: »Das war der Mühe wert, auch noch nach dem Nest einen besonderen Boten vorauszuschicken. Wenn’s noch Napoleon, an der Mündung des Arkansas, wäre; aber auch da sind keine besonderen Geschäfte zu machen, denn die Leute dort kaufen wenig mehr, als sie für ihren eigenen Bedarf nötig haben, und das ist sehr wenig. Nein, da hättet Ihr in Memphis noch viel bessere Geschäfte machen können als hier, wenn Ihr überhaupt nicht bis Vicksburg oder Natchez hinunter wollt, seid Ihr denn in Memphis gelandet?«

»Nein, unser Steuermann meinte, dort sei auch gar nichts mehr abzu­setzen, da die Kaufleute dort ihre Waren jetzt fast einzig und allein aus Kentucky bezögen.«

»Unsinn – Ihr mögt einen besonders klugen Steuermann haben, vom Handel versteht er aber, wenn er das sagt, nichts.«

»Vielleicht nur zu viel«, sagte Tom lachend. »Ich habe den Burschen in Verdacht, dass er irgendeinen guten Freund in Montgomerys Point hat, dein er die Waren zuschieben will. Da soll er aber unter dem falschen Baum gebellt haben, denn solange ich ein Wort mit hineinreden darf, be­kommt sie keiner, den er empfiehlt.«

»Soso?«, meinte der Kentuckyer, »auch möglich – in Kentucky habe ich überhaupt viel über die Mississippi-Bootsleute munkeln hören, was keines­wegs zu deren Gunsten spricht. Hier kann man freilich nichts Näheres darüber erfahren, obgleich ich mich schon manchmal gewundert habe, wie oft hier in der Nacht Boote vorbeirudern, und zwar nicht allein stromab, denn das wäre nichts Besonderes, nein, auch stromauf, und zwar ziemlich regelmäßig vor der Morgendämmerung. Weiß der Henker, wer da so große Eile hat, dass er nicht das Tageslicht und ein stromauf gehendes Dampfboot abwarten kann und sich lieber abquält und plagt, gegen die starke Flut dieses Flusses anzuarbeiten. Wahrscheinlich muss in Helena oder auch in Montgomerys Point irgendeine heimliche Spielhölle sein, zu der das alberne Volk bei Nacht und Nebel hinschleicht, um sein gutes Geld förmlich in einen Abgrund zu werfen. Gestern Nacht rief ich einmal eins an, das gerade hier unten an der Spitze und noch dazu mit umwickel­ten Riemen vorüberfuhr – es war ein Nachbar hier, der nach Victoria hinüber musste -‚ sie wollten ihn aber nicht mitnehmen und meinten, sie wären schon überdies zu schwer beladen. Ich hatte wahrhaftig das Ver­gnügen, ihn selber hinunterzufahren. Doch was kümmert’s mich, sollen sie ihr Geld verschleudern, wie sie wollen, ich weiß besser, wohin damit, und wenn jene in den Tag hineinlebenden wilden Gesellen einmal keinen Platz haben, wohin sie ihr Haupt legen können, dann sitz’ ich behaglich auf meiner guten Farm und bin für mein übriges Leben versorgt.«

»Behaltet Ihr denn aber das Geld, was Ihr verdient, bei Euch?«, fragte jetzt Tom; »dazu hätt’ ich doch kein Vertrauen, in der Hinsicht hat der Mississippi keinen besonders guten Ruf. Wenn Ihr nun einmal vom Haus fortgeht?«

»Ei, das halt’ ich gut versteckt«, erwiderte der Holzhauer lachend, »finden soll’s schon so leicht keiner. Es lässt sich aber auch nichts anderes tun, denn ehe ich’s einer von den Arkansas- oder Mississippi-Banken anvertraute, könnt’ ich’s ebenso gut verspielen, da hätt’ ich doch wenigstens ein Ver­gnügen davon, wenn auch ein schlechtes.«

»Nun, ich weiß nicht«, meinte Tom, »mit Geld hier so ganz allein im Wald zu sitzen, würd’ ich jedenfalls für gefährlich halten. Es schwimmt eine ganz schöne Zahl von Leichen in diesem Fluss.«

»Ja, das stimmt!«, sagte der Kentuckyer, »bei Victoria besonders treiben viele vorüber. Denkt aber auch daran, wie manches Dampfboot ab­sinkt. Da ist’s ja dann kein Wunder, dass die erst versunkenen Leichen auch wieder zum Vorschein kommen. Aber müsst Ihr denn schon fort?

Wenn Ihr bloß nach Montgomerys Point wollt, habt Ihr wahrlich nichts zu versäumen.«

»Ei nun, ich bin einmal unterwegs«, meinte Tom, während er aufstand und den letzten Rest aus dem Blechbecher leerte, »und da will ich doch auch hinunter. Überdies soll ich ja dort meinen Alten wiedertreffen, der hier am Ende an mir vorbeifährt. Aber hört einmal, wo gieß’ ich denn den Whisky hinein? Ich möchte ihn Euch gern dalassen, denn da Ihr hier so schlecht damit versorgt seid …«

»Gar zu gütig!«, sagte der Kentuckyer erfreut, »die Gabe nehme ich übri­gens mit Dank an. An Gefäßen fehlt’s freilich, doch habe ich hier ein paar Rohrstöcke, die halten wohl eine Pinte.«

»Ach was, da geht ja gar nichts hinein«, brummte Tom, »doch halt, gebt sie einmal her. Wie weit ist’s noch bis Montgomerys Point, und wann kann ich unten sein?«

»Ei, doch wohl noch vierundvierzig Meilen. Wenn Ihr aber bis zum Abend rudert und die Nacht hindurch Euch treiben lasst, so könnt Ihr es mit Tagesanbruch schaffen.«

»Gut, so behaltet Ihr die Kruke hier, das Rohr hält soviel, wie ich brauche, bis ich hinunterkomme, und unten gibt’s mehr.«

»Was? Die ganze Kruke?« rief der Kentuckyer erstaunt, »ei, Mann, Ihr seid großzügig.«

»Ihr seht«, sagte Tom lächelnd, »ich weiß, wie’s tut, ohne Whisky zu sein, bin’s auch schon manchmal gewesen und fühle deshalb mit jedem Menschen, der sich in gleich trauriger Lage befindet. Unser halbes Boot ist übrigens mit Whisky beladen, und da könnt Ihr wohl denken, dass es nicht gerade auf eine Gallone ankommt. Aber ade – es wird spät, und ich möchte doch noch gern morgen früh alle die Geschäfte abmachen, derent­wegen ich eigentlich heruntergekommen bin. Guten Abend denn – wie war Euer Name?«

»Robert Bredshaw – und der Eurige?«

»Tom Barnwell«, lautete die Antwort, und das schmale Boot schoss in die Strömung hinaus, drehte sich ein paar Mal, bis Tom die Riemen er­greifen konnte, und glitt dann, dem starken Arm des jungen Mannes ge­horchend, rasch über die gelben Fluten dahin.

Tom hatte sich bei seinem neuen Freund doch länger aufgehalten, als es anfangs seine Absicht gewesen, noch dazu, da er erst einen kleinen Teil seiner Fahrt zurückgelegt hatte. Bredshaws bescheidene Wohnung lag nämlich nur sieben englische Meilen zu Wasser von Helena entfernt, doch hoffte er auf die starke Strömung, die ihn wohl auch ohne große Anstrengung seinem Ziel zuführen würde.

Die Sonne lag schon auf den Wipfeln der Bäume, als Tom aus der kleinen Bucht herausglitt, und da es in Nordamerika gar keine Dämmerung gibt, sondern die Nacht sich scharf von ihrem freundlicheren Bruder schei­det, so legte er sich noch recht wacker in die Riemen, den letzten Tagesschein soviel wie möglich zu nutzen. Links von ihm lag die sogenannte runde Weideninsel, ein flaches unbewohnbares Land, dessen äußerste Ränder schon jetzt, da der Mississippi erst zu steigen anfing, unter Wasser standen, während es fast in jedem Jahr von der Flut völlig überschwemmt wurde. In der Mitte dicht mit Weiden bestanden, hatten rings um diese herum – ein Zeichen neu angeschwemmten Bodens – junge Cottonholzschösslinge Wurzeln geschlagen und bildeten nun, nach der Mitte zu höher und höher ansteigend, eine so regelmäßige Anpflanzung, die fast gar nicht aussah, als ob sie nur der wild streuenden Natur ihre Existenz zu danken hätte, sondern von Menschenhand in terrassenförmiger Ord­nung gepflanzt und gehegt sei.

Diese Weideninsel ließ Tom jetzt hinter sich, und mitten im Bett des ungeheuren Flusses zog sich die Strömung mehrere Meilen lang hin bis dort, wo eine andere Insel Nummer Einundsechzig, die Flut teilte und den größeren Teil der Wassermasse an das westliche Ufer hinüberwarf. Dies wurde noch dadurch gefördert, dass die Strömung durch eine ziemlich scharfe Biegung des linken Ufers, gerade oberhalb von Nummer Einund­sechzig, schräg fast über die ganze Flussbreite getrieben wurde. Fast alle herabkommenden Boote ließen deshalb auch diese Insel links liegen und schnitten nur bei hohem Wasser die zwei oder drei Meilen ab, die sie sonst zurücklegen mussten, um wieder zwischen dem östlichen Ufer von Nummer Zweiundsechzig und Nummer Dreiundsechzig und dem Mis­sissippistaat hindurchzufahren.

Tom nun, der den Weg des Mississippi nicht kannte und nur nach dem Überblick, den er von einer Uferspitze bis zur andern bekam, seine Fahrt regelte, sah, dass der Strom hier einen ziemlich starken Bogen zur Rechten macht, und hielt, um den abzuschneiden, scharf gegen das östliche Ufer hinüber, was auch für sein leichtes Boot der nächste und der beste Weg stromab sein musste. Immer schneller dunkelte es aber jetzt, ein leichter Nebel legte sich wie ein dünner Schleier über die trübe Stromfläche, und selbst der letzte lichte Schein an den hohen Uferbäumen hatte einer blas­seren mattgrauen Färbung weichen müssen.

In einzelnen der hohen Sykomoren und Pappeln stiegen ganze Scharen weißer und blauer Reiher nieder, um hier ihren Nachtstand zu nehmen. Quer über den Strom zogen zwitschernde Flüge von Blackbirds – die nord­amerikanischen Stare. Auch die Krähen suchten mit dumpfem Krächzen ihren gewöhnlichen Ruheplatz, während lange Ketten von Wildenten dicht über das Wasser dahinstrichen und hier und da einen scheuen See­taucher auftrieben, der dann, wenn sie vorüber waren, wieder, wie ärger­lich, mit leisen, klagenden Lauten seinen früheren Platz auf einem alten treibenden Baumstamm einnahm, mit dem er vor Tag vielleicht mehrere zwanzig Meilen stromab zurücklegte.

Aus dem Wald heraus wurden die Frösche lauter und lauter, zahlreiche Nachtfalken kreuzten dicht am Land hin, und über dem westlichen Ufer schwebte sogar, in diesen flachen Gegenden ein seltener Gast, ein weiß­köpfiger Adler und suchte, den schönen Kopf mit den großen klugen Augen scharfsichtig seitwärts gebogen, nach irgendeinem unglücklichen Truthahn, den er gern aus den Zweigen herausgeholt und seinem Horst zugetragen hätte.

Tom Barnwell musste tüchtig rudern, um nicht von der Strömung auf den oberen Teil der Insel getrieben zu werden. Als er aber die äußerste Spitze umfahren hatte, legte er, da er auch keine Snags und vorragende Baumstämme zu fürchten brauchte, von denen sich sein leichtes Boot bald selbst wieder losgeschwungen hätte, die Riemen bei, lehnte sich behaglich zurück und trieb nun, den Blick auf die hier und da hervorblitzenden Sterne geheftet, stromabwärts. Lange hatte er in dieser Stellung verharrt, der dunkle Himmel blitzte und funkelte in seinem prachtvollen Schmuck, und der Wald rauschte neben ihm, während unter den Planken des leich­ten Fahrzeugs die Flut gurgelte und murmelte. Es war eine wundervolle Nacht, und tiefe Stille lag nun über dem breiten ruhigen Strom.

Aber welch tiefer Seufzer entfloh da Toms Lippen? Hatte der junge Matrose solch geheimes bitteres Weh zu tragen? Waren das Tränen, die dem rauen Mann die Wimpern netzten?

Er sprang auf und schüttelte sich die braunen Locken halb unwillig aus der Stirn, ohne die Augen zu berühren – er wollte die Tränen nicht wahr­haben.

»Zum Henker mit den Dämmerstunden«, brummte er, »ist’s doch immer, als ob’s einem ordentlichen Kerl da gleich breiweich ums Herz werden müsste. Wenn man erst einmal in den dunklen Himmel hinaufstarrt und hier und da so ein paar glänzenden Sternen begegnet, die wie Augen zusammenstehen, da möchte man doch fast glauben, der ganze Nachttau liefe einem in den Tränendrüsen zusammen und wollte nun auch augen­blicklich wieder hinaus ins Freie. Bah – im Wald blitzen die Sterne ebenfalls, und diese tausend und tausend Glühwürmer, die umeinanderschwirren und glitzern und ein förmliches Feuernetz um die düsteren Baumschatten zu ziehen scheinen, glänzen auch wie Augen, fliegen aber doch vernünf­tigerweise umher und starren einem nicht immer so ernst und wehmütig entgegen.«

Er nahm langsam den einen Riemen auf und legte ihn ins Wasser. Er wollte sein Boot damit näher zu den rauschenden Baumwipfeln hinlenken, deren, Dunkelheit Myriaden von Glühwürmern mit einem ganz eigentüm­lichen, fast zauberhaften Licht erhellten.

»Wetter noch einmal«, murmelte er wieder vor sich hin und suchte sich augenscheinlich dabei auf andere Gedanken zu bringen, »was für ein Paradies müsste das hier in dem herrlichen Klima, unter dieser wunder­vollen Pflanzenwelt sein, wenn es keine …« Er schwieg einen Augenblick und sah trübe sinnend vor sich nieder, fuhr aber dann wieder auf und rief halblaut und finster: »Moskitos und Holzböcke gäbe – die Pest über alle Insekten, die Pest über die Kanaillen, sie wären imstande, selbst das Para­dies in eine Hölle zu verwandeln.«

Er horchte plötzlich auf, denn gar nicht weit von ihm entfernt, aus dem wildesten, das Ufer umgebende Dickicht, tönte ihm helles, fröhliches La­chen einer Mädchenstimme entgegen.

»Nun, bei Gott, das ist wunderlich«, sagte der junge Mann erstaunt, »hat sich denn hier, in dieser Wildnis, eine Einsiedlerin niedergelassen wie da oben ein Einsiedler? Die beiden sollten doch wenigstens zusam­menziehen.« Und fast unwillkürlich lenkte er sein Boot dem Ort zu, von welchem her das Lachen klang.

»Hahaha, wie sie da drinnen durch die Büsche kriechen und den ent­flohenen Vogel wieder hinein haben wollen in den goldenen Käfig«, rief da die Stimme. »Hol über Bootsmann, hol über – ans andere Ufer, Fähr­mann, es wird dunkel, und die feuchte Nachtluft dringt mir kalt durch die dünnen Kleider.«

Tom schaute erstaunt nach dem Wald hinüber und suchte unter dem Gewirr von Ästen und Stämmen hin mit den Blicken bis ans Ufer zu dringen, wo er ein menschliches Wesen erst vermuten konnte. Er befand sich jetzt an der südlichen Spitze von Nummer Einundsechzig und dicht neben dem Platz, wo die Boote der Insulaner versteckt lagen. Hier aber

dämmte ein um so wilderes Dickicht das Ufer ein, und Baum über Baum lag von innen herausgestürzt, während ihre starren Äste alles hier vorbeitreibende Driftholz aufgefangen und gegen die Strömung angestemmt hatten. Die Boote wurden dadurch völlig verdeckt, und ein Uneinge­weihter hätte den schmalen, zu ihnen führenden Einschnitt gar nicht ge­funden, hier aber auch kein menschliches Wesen vermuten können, wo sich kaum ein Eichhörnchen über die wirbelnde Flut hinauswagte. Da fesselte ein heller flatternder Schein seinen Blick: Dort, wo ein dünner Sykomorenast über den Strom hinausstarrte, oben, fast auf seiner äußer­sten Spitze, wie sich der Falke auf schwankendem Zweig wiegt, saß, von einem dünnen weißen Kleid umweht, eine weibliche Gestalt, und ihr Kichern, mit dem sie von ihrer gefährlichen Stellung aus auf den erschroc­kenen Bootsmann niederschaute, machte diesem fast das Blut vor Furcht und Entsetzen gerinnen. Er glaubte im ersten Augenblick wirklich, ein übernatürliches Wesen vor sich zu sehen.

»Hahaha, Fährmann«, rief da wieder die Gestalt zu ihm nieder, »komm, lande dein Boot – der Mond scheint mir sonst von da drüben herüber ins Gesicht, und ich bekomme Sommersprossen. So, noch ein wenig – jetzt hab acht!«

Ehe Tom der von einem ihm unbegreiflichen Gefühl ge­trieben, dem Ruf der Frau folgte, ihr die Hand reichen konnte oder im­stande war, das Boot zu befestigen, sprang sie mit kühnem Satz von oben hinein, und als er einen Schritt auf sie zuging, sie zu unterstützen, denn durch die entgegengesetzte Bewegung des Fahrzeugs taumelte sie und wäre bald wieder über Bord gestürzt, trieb der Kahn an der Südseite der Insel vorüber und mitten im Strom in reißender Schnelle dahin.

Es war dunkel, nur die Sterne verbreiteten ein mattes, ungewisses Licht.

Die Frau aber, von den Armen des jungen Mannes gehalten, verharrte in ihrer Stellung und blieb mehrere Minuten lang, den Blick fest auf die immer mehr verschwindende Insel geheftet, stehen; dann aber wandte sie sich zu ihrem Retter um, sah ihm, während sie sich mit der rechten Hand die Haare langsam zurückstrich, wenige Sekunden starr in die Augen und flüsterte dann leise und ängstlich:

»Kommt, Tom Barnwell, kommt – fahrt mich ans andere Ufer hinüber, dort muss Eduards Leiche angespült sein.«

»Marie«, schrie da\plötzlich der junge Mann und erzitterte am ganzen Körper, »Marie – bei Gott! Ihr hier – in diesem Zustand?«

»Ruhig, mein guter Tom«, bat die Verstörte, »ich weiß wohl, du hattest mich lieb, aber es sollte nicht sein. Eduard kam halt, was schwimmt da drüben im Strom? Lasst uns hinüberfahren. Ich denke, ich kenne das bleiche Gesicht, auf das die Sterne niederscheinen – das muss mein Vater sein!«

»Marie, um Gottes willen, was ist geschehen?«, fragte der junge Barn­well, während er sie langsam und vorsichtig auf den Bootssitz niederließ.«Was ist Euch Fürchterliches begegnet? Wo sind Eure Eltern?Wo ist Euer Gatte?«

»Meine Eltern? – Mein Gatte?«, wiederholte die Unglückliche, und es war augenscheinlich, sie verstand anfangs nicht einmal den Sinn der Worte, die sie nachmurmelte. Endlich aber mochten wohl all jene fast versunkenen Bilder, die ihr Hirn verwirrt, vor ihr wieder auftauchen, denn sie barg plötzlich ihr Gesicht in den Händen, und während Fieberfrost ihre Glie­der zu durchfliegen schien, stöhnte sie halblaut vor sich hin: »Alle tot – alle – alle – blutig – nein!«, rief sie dann plötzlich und sprang hoch. »Nicht blutig – der Strom wusch sie rein. Als Eduard wieder an der Seite emportauchte, sah er weiß und rein aus. Er lachte – allmäch­tiger Gott, das Lachen ist es ja gerade, was mich wahnsinnig gemacht hat.«

Zwischen ihren Fingern quollen jetzt unaufhaltsam große Tropfen hervor, und ihr Schmerz schien dadurch wohl nicht leidenschaftsloser, aber doch ihrem ganzen zerrütteten Nervensystem weniger gefährlich zu wer­den. Tom hütete sich auch wohl, diesen Ausbruch lang verhaltenen Grames zu unterbrechen. Mit krampfhaft gefalteten Händen stand er vor der Armen, und noch immer kam es ihm wie ein entsetzlicher Traum vor, dass Marie – Marie, an der früher sein ganzes Herz gehangen – jetzt hier – allein – verstört – von all den Ihren getrennt oder verlassen, in seinem Kahn saß.

Endlich fühlte er aber doch, dass hier etwas geschehen müsse, nicht allein ein Unterkommen für das kranke Wesen zu finden, sondern auch zu erfahren, wie ihr zu helfen sei und was die Ursache ihres Unglücks gewesen war. Allerlei wirre Vermutungen kreuzten dabei sein Hirn. Er ver­warf sie aber alle wieder, und nur das eine blieb ihm wahrscheinlich, dass sie hier irgendwo an jener Insel mit einem Boot verunglückt sei, vielleicht den Untergang aller Übrigen gesehen und sich dabei allein auf einem der in den Fluss ragenden Äste gerettet habe.

Einzelne, nur wenig zusammenhängende Worte, die sie später mur­melte, bestärkten ihn in dieser Vermutung, und er wusste für den Augen­blick keinen andern Rat, als sie mit sich stromab zu nehmen, bis er ent­weder ein Dampfboot fände, das imstande wäre, Helena noch vor Edge­worths Abreise zu erreichen, oder diesem selbst wieder begegnete. Der Alte kannte Marie ebenfalls von früher her und wusste wohl überdies besser, was mit der armen unglücklichen Frau anzufangen oder wo sie unterzubringen sei.

Mehrere Stunden trieb er so langsam stromab und saß noch immer, den Kopf der Unglücklichen stützend, in seiner Jolle, als er am linken Ufer ein Dampfboot liegen sah, das dort Holz einnahm. Er richtete, so gut das in aller Eile gehen wollte, mit der Jacke eine Art Lager für seinen Schütz­ling her, der teilnahmslos für alles, was um ihn her vorging, sich das auch ruhig gefallen ließ. Dann aber griff er wieder zu den Riemen und hielt nun gerade hinüber zu jenem Holzplatz, ihn noch vor Abfahrt des Bootes zu erreichen. Kaum hatte er denn auch seine Jolle daran befestigt und das arme Mädchen mithilfe einiger Matrosen an Deck gehoben, als die Maschine wieder anfing zu arbeiten und die Van Buren – das war der Name des Dampfbootes – mit rauschenden Rädern stromauf fuhr.