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Die Macht der Drei – Teil 10

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Maitland Castle, der alte Stammsitz der Maitlands, beherbergte um die Zeit der Sommersonnenwende zahlreiche Gäste. Der alten englischen Sitte entsprechend, herrschte nur der Zwang der gemeinschaftlichen Hauptmahlzeit. Die übrige Zeit des Tages konnten die Gäste nach ihrem Belieben verwenden, und die Gastgeber nahmen die gleiche Freiheit für sich in Anspruch, die sie den Gästen gewährten. Sie tauchten einmal bei dieser oder jener Gruppe auf und zogen sich in ihre Privaträume zurück, sobald es ihnen gefiel.

Den dunklen Buchenweg, der schnurgerade von der Höhe des Schlossberges bis zum Gittertor am Ende des Parks führte, kam Lady Diana Maitland entlang. Die Sonne war schon hinter den hohen Wipfeln der Bäume verschwunden. Es begann kühl zu werden.

Fröstelnd zog Lady Diana den leichten Seidenschal enger um die Schultern zusammen. Sie bog in einen Seitenweg ab, der durch ein Rosenrondell führte.

Von der anderen Seite kam ihr eine Gestalt entgegen, in der sie den Doktor Glossin zu erkennen glaubte. Unwillkürlich hemmte sie den Schritt. Ihr Gefühl riet ihr, einer Begegnung auszuweichen. Schon wollte sie stehenbleiben und sich zu der Allee zurückwenden. Doch der Gedanke, dass Dr. Glossin sie auch erkannt habe, gebot ihr, den Weg weiterzugehen, dessen Rand mit einer Einfassung der herrlichsten Rosenstöcke besetzt war.

Nun stand Dr. Glossin dicht bei ihr.

»Ich muss gestehen, Lady Diana, dass ich selten so schöne Rosen sah wie diese hier. Sie lieben Rosen?«

»Sehr, Herr Doktor. Doch ihr Anblick ist mir lieber als ihr Geruch. Im Zimmer stört mich der berauschende Duft.«

»Oh, wie schade um die unzähligen Rosenspenden, die Ihnen allabendlich zu Füßen flogen, als Sie in der Metropolitan Opera die Zuhörer entzückten.«

Lady Diana brach eine Rose und steckte sie in ihren Gürtel, ohne die Frage zu beantworten. Sie sprach wohl selbst gelegentlich von ihrem früheren Bühnenleben, aber sie liebte es nicht, von anderen daran erinnert zu werden.

Dr. Glossin schien den Wink nicht zu verstehen.

»Die Stunden, in denen ich Ihrer unvergleichlichen Stimme lauschen durfte, gehören zu den schönsten meines Lebens. In besonderer Erinnerung sind mir die Abende, an denen Sie mit Frederic Boyce zusammen auftraten. Nie klang mir Ihre Stimme schöner als damals.«

Ein kurzes Erröten glitt über die Züge der Lady. Solche Worte aus dem Munde eines so neuen Bekannten wie Dr. Glossin konnten nur als grobe Taktlosigkeit aufgefasst werden, oder …

Sie witterte den Feind und änderte ihre Taktik.

»Sie sind ein Freund der Musik, Herr Doktor? Vielleicht auch einer der zahlreichen Rosenspender?«

Sie versuchte, ihrer Stimme einen spöttischen Unterton zu geben.

»Ich kann es nicht leugnen, Mylady, ich gehörte auch zu Ihren Verehrern. Als ich von Ihrem Abschied von der Bühne las … ich war damals in San Francisco … war ich drauf und dran, am Tag Ihres letzten Auftretens nach New York zu fliegen. Wenn ich nicht irre, war es im ,Fidelio^ dem hohen Lied der Gattenliebe.«

»Und warum kamen Sie nicht?«

Lady Diana sagte es mechanisch. Ihre Sinne arbeiteten fieberhaft. Sie fühlte, dass dies alles nur leichtes Geplänkel war. Der Hauptangriff musste von anderer Seite kommen … Aber woher?

»Warum nichts … Ein seltsamer Fall hielt mich einige Tage länger fest!«

Er machte eine Pause.

»Bitte, Herr Dr. Glossin, erzählen Sie, wenn es interessant ist.«

»Interessant? … Für die Allgemeinheit am Ende kaum. Wohl aber für die, die es angeht. Wenn ich nicht fürchtete, unangenehme Erinnerungen zu wecken …«

»Wozu die Umschweife, Herr Doktor, bitte …«

Lady Diana wusste, jetzt würde der Schlag erfolgen. Und trotz der Ungewissheit, aus welcher Richtung er kommen würde, klang ihre Stimme ruhig und fest.

»Wenn es der Wunsch Eurer Herrlichkeit ist … nun wohl … Als die berühmte Sängerin Diana Raczinska die Ehe mit dem Sänger Frederic Boyce einging, prophezeiten Eingeweihte ein schnelles Ende dieses im Kunstrausch geschlossenen Bündnisses. Alle, welche die Spieler- und Trinkernatur von Frederic Boyce kannten. Schon nach einem halben Jahr war die Ehe derart zerrüttet, dass die Scheidung eingeleitet wurde. Diana Boyce wartete nur auf den gerichtlichen Spruch, um einen neuen Bund mit Horace Clinton einzugehen …«

»Sie wollten mir eine interessante Geschichte erzählen … und bringen alte Dinge vor, die mir bei Gott zur Genüge bekannt sind.«

»Die kurze Einleitung war notwendig, Mylady. Ich kam an jenem Abend Ihres letzten Auftretens vom Strand in San Francisco und verirrte mich in dem Häusergewirr des Hafenviertels. Als ich an einer der Schenken vorbeikam, aus der Toben und Brüllen betrunkener Matrosen erklang, öffnete sich plötzlich die Tür. Von rohen Fäusten gestoßen, flog ein Mann die Stufen hinauf und schlug vor meinem Füßen hart auf das Pflaster.

Angewidert von dem hässlichen Auftritt, wollte ich weitergehen. Da sah ich im Laternenschimmer, wie sich eine Blutlache um den Körper des Betrunkenen bildete. Das Blut entströmte einer starken Wunde im Nacken, die wohl von einem Messerstich herrührte.

Nach einigem Suchen fand ich eine Patrouille, die den Verletzten zu der Polizeiwache brachte. Da ich den Unfall teilweise mitangesehen hatte, musste ich meine Zeugenaussage darüber abgeben. Inzwischen hatte der Polizeiarzt dem Verwundeten einen Notverband angelegt, ihm das Gesicht von Schmutz und Blut befreit. Der Mann war …«

»Wer?«

Lady Diana fühlte das Blut in ihrem Herzen stocken. Sie senkte unwillkürlich das Haupt. Jetzt musste der Schlag kommen, der …

»… war Frederic Boyce, Ihr tot geglaubter Gatte.«

»Frederic …«

Lady Diana begann zu taumeln und wäre zu Boden gestürzt, hätte Dr. Glossin sie nicht aufgefangen.

»Fassung, Mylady! Um Gottes willen! Ich bin außer mir. Verzeihen Sie mein Ungeschick.«

Er führte die halb Bewusstlose zu einer Bank und nahm neben ihr Platz.

»Frederic … Frederic …«

Stoßweise rangen sich die Worte wieder und wieder von den blassen Lippen.

»Frederic Boyce ist tot, Lady Diana.«

»Tot?« Die Augen der Lady öffneten sich unnatürlich weit. »Sie … sagten … eben …«

»Frederic Boyce starb zwei Stunden später. Der Stich war tödlich.«

Ein tiefes Aufatmen. Der Körper Dianas straffte sich. »Ist es die Wahrheit?«

Sie schaute den Doktor an, als wolle sie im Innersten seiner Seele lesen.

Der Doktor entnahm seiner Brieftasche ein Papier und überreichte es ihr.

Lady Diana schüttelte den Kopf und ließ das Blatt sinken.

»Was ist es?«

»Es ist eine Bescheinigung jenes Polizeiamtes in Frisco über den am 9. Mai 1950 erfolgten Tod von Frederic Boyce.«

Lady Diana kreuzte die Hände über ihre Brust und legte den Kopf an die Lehne der Bank. So saß sie lange. Das Bild einer weißen Marmorstatue.

»Erzählen Sie weiter, Herr Doktor.« Sie sagte es mit einer Ruhe und Festigkeit, die Dr. Glossin in Erstaunen versetzte.

»Bei dem Toten fand man keine Papiere. Meine Angaben über die Person wurden von der Polizei mit Zweifeln aufgenommen. Hatten doch vor genau zehn Tagen die Zeitungen über den Tod des Sängers Frederic Boyce im städtischen Spital berichtet. Ich blieb bei meiner Behauptung. Nachforschungen wurden angestellt. Sie ergaben, dass der im Hospital Verstorbene nicht der rechtmäßige Besitzer der bei ihm gefundenen Papiere gewesen war. Er hatte sie dem richtigen Eigentümer in der Trunkenheit entwendet. So wurde der 9. Mai als der Todestag von Frederic Boyce festgestellt.«

Dr. Glossin machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte auf Lady Diana abzuwarten. Vergeblich.

Lady Diana bewahrte ihre statuenhafte Ruhe.

Gereizt fuhr Dr. Glossin fort: »Es ergibt sich die eigentümliche Situation, dass Eure Herrlichkeit mit Lord Maitland oder, wie er damals noch hieß … mit Mr. Clinton getraut wurde, während Ihr erster Gatte noch lebte. Nach dem Gesetz kann Ihnen kaum ein Vorwurf gemacht werden, da Sie im Besitz der freilich falschen Sterbeurkunde waren. Aber … die Stimme der öffentlichen Meinung wiegt schwer für Angehörige des Highlife …«

Lauernd wartete der Sprecher auf die Wirkung seiner Worte.

»Sind Sie fertig, Herr Dr. Glossin?«

Glossin nickte stumm. Lady Diana maß ihn mit einem Blick.

»Wie viel verlangen Sie für Ihre Verschwiegenheit?«

Wie von einem Peitschenhieb getroffen fuhr der Doktor empor: »Mir das? … Sie wollen mir Geld anbieten … Hüten Sie sich. Ich vergesse eine Beleidigung niemals.«

Lady Diana nickte gleichmütig. »Was verlangen Sie sonst, Herr Doktor?«

»Ich bitte nicht weiter in diesem Ton. Ich könnte in Versuchung kommen, das Gespräch abzubrechen …

Nicht zu meinem Schaden.«

»Wozu erzählen Sie mir diese Geschichte, Herr Doktor?«

Glossin biss sich wütend auf die Lippen. Er glaubte, seine Schlinge gut gelegt zu haben. Ein gefälschtes Todesattest einer amerikanischen Polizeistation … für Dr. Glossin war die Beschaffung lächerlich einfach gewesen. Und er hatte Lady Diana damit einer, wenn auch unabsichtlichen Bigamie überführt. Seine Stellung schien so stark, und trotzdem fühlte er sich in die Enge getrieben.

»Es wird der Tag kommen, Lady Diana, an dem Sie diese Worte bereuen. Der Tag, an dem Sie mir freiwillig die Hand zu einem Bündnis bieten werden. Dann werde ich Sie an den heutigen erinnern.

Heute bitte ich Sie nur um eine einfache Gefälligkeit, die Ihnen keine Mühe bereitet, für mich sehr viel bedeutet.«

Lady Diana schaute sinnend auf ihre schlankem weißen Hände. Sie zweifelte, ob sie sie jemals dem Doktor Glossin zum Bündnis reichen würde.

Sie hatte in diesem Kampf gesiegt. Aber innerlich war sie bewegter und erschütterter, als es äußerlich erschien. Wenn sie dem unbequemen Gast mit einer einfachen Gefälligkeit den Mund stopfen konnte, wollte sie es tun.

»Was ist es, Herr Doktor?«

»Ich muss zur Erklärung weit zurückgehen und in die Hände Eurer Herrlichkeit eine Beichte ablegen. Ich war nicht immer amerikanischer Bürger. Im Jahre 1927 lebte ich als britischer Untertan in Mesopotamien. Ein Ingenieur war dort tätig. Er machte eine Erfindung, die dem englischen Reich gefährlich werden konnte. Ich setzte die britische Regierung davon in Kenntnis, und der Erfinder verschwand im Tower. Ihr Gemahl Lord Maitland muss darüber Bescheid wissen oder sich doch mit Leichtigkeit orientieren können. Helfen Sie mir. Ich muss wissen, ob Gerhard Bursfeld noch als Staatsgefangener im Tower lebt … er wäre jetzt 65 Jahre … oder was aus ihm geworden ist. Helfen Sie mir und seien Sie meiner Dankbarkeit versichert.«

»Gut, Herr Doktor, ich werde mit meinem Gatten sprechen. Was geschehen kann, um Ihnen die gewünschte Auskunft zu geben, soll geschehen.«