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Drachenfeuer

Drachenfeuer

»Und ich sage dir, sie kommt wieder!« Centhei verzog unwillig das Gesicht. »Glaubst du mir etwa nicht?«, fragte Lykaon mit einem spöttischen Unterton in der Stimme.

»Dieses Mal nicht.« Der Drache stieß ein belustigtes Schnauben aus und Centhei sprang von seinem Felsen, um der Rauchwolke zu entgehen.

»Du bist kein Pferd mehr, Lykaon! Wann merkst du dir das endlich?«

Das Lachen des Drachen klang wie entfernter Donner. »Weißt du, Centhei, man kommt irgendwann durcheinander, wenn mal als Elf geboren und zur Verwandlung in einen Wolf bestimmt wird, und dann nach mehr Jahren, als andere überhaupt leben, ein Drache ist. Und dann ein Pferd wird und schließlich wieder ein Drache. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich morgen wieder als Wolf aufwachen würde.«

»Dir traue ich alles zu«, murmelte Centhei. Der Magier setzte sich auf den sandigen Boden der Höhle und lehnte sich gegen die Felswand. Er hatte das Erscheinen dieser jungen Frau noch immer nicht verarbeitet, da wollte ihm Lykaon schon erzählen, dass sie wiederkommen würde.

 

Sie war in diese Höhle gestolpert, einfach so. Nicht nur in das Elfendorf, sondern geradewegs in Lykaons Höhle. Ein menschliches Wesen unter Elfen war schon ungewöhnlich genug, aber eine von ihnen in einer Drachenhöhle? Centhei hatte schon damit gerechnet, ihre Knochen brechen zu hören, er hatte nur darauf gewartet, dass Lykaon sie zermalmen würde, doch der Drache hatte sie nur etwas überrascht angeblinzelt. Centhei hatte sich tiefer in die Dunkelheit der Höhle zurückgezogen. Was ging denn nun schon wieder im Kopf dieses Drachen vor? Eine Weile waren nur Lykaons Atemzüge zu hören gewesen. Dann hatte das Menschenwesen das Wort ergriffen.

»Bist du ein Drache?«, hatte sie leise gefragt. Immerhin, Menschen und Drachen mochten sich nicht und begegneten sich eigentlich nie. Centhei war noch immer vollkommen verwirrt von dem Umstand, dass sich Lykaon überhaupt dazu herabließ, mit einem Menschen zu sprechen, noch dazu mit einem so jungen! Kaum erwachsen, und unterhielt sich hier mit einem Drachen! Hatte ihr denn niemand erklärt, dass Drachen gefährlich waren? Menschen, die sich in ihre Höhlen verirrten, waren Futter, mehr nicht. Doch bei diesem Menschen machte Lykaon offenbar eine Ausnahme. Er hatte sie am Ende tatsächlich …

 

»Du hast sie gehen lassen!«

»In der Tat, das habe ich. Aber nur keine Angst, sie kommt wieder.«

»Sag mir nur eins, Lykaon: Warum?«

Der Drache schüttelte den Kopf, als würde er sich mit einem unwissenden Kind unterhalten, gab dem Magier aber immerhin eine Antwort. »Sie kann sehen, Centhei. Wir haben unter Menschen gelebt und erlebt, wie blind und taub sie sind. Athara nicht, weder das Eine noch das Andere.«

Centhei schüttelte unwillig den Kopf. »Das kann doch nicht alles sein. Es ist ungewöhnlich, aber kein Grund, sie am Leben zu lassen.«

»Kein Grund für mich, meinst du wohl?«

Centhei wich seinem forschenden Blick nicht aus. Er war einer von wenigen Elfen, die diesem Blick standhalten konnten. Es stimmte, seit dem Fehler mit Necromace, der Lykaon die Zeit als Pferd eingebracht hatte, war er regelrecht gnadenlos geworden. Einige Elfen, wenn Centhei ehrlich war, die meisten, hatten Angst vor ihm.

»Du hast recht, das war nicht alles«, gab Lykaon zu.

Centhei schaute ihn erwartungsvoll an. »Also?«, fragte er schließlich mit hochgezogenen Brauen.

»Hast du nicht gespürt, dass sie kein normaler Mensch ist?«

Centheis Augen wurden größer. »Ich … habe nicht …«

»Du hast es nicht einmal versucht, nicht wahr?« Centhei schüttelte betreten den Kopf. Nach der langen Zeit mit Lykaon hätte er wissen müssen, dass es etwas Besonderes mit diesem Menschen auf sich haben musste – und hatte trotzdem nur eine von Lykaons Launen vermutet. »Du dummer Junge!«, seufzte der Drache.

»Bist du bald damit fertig, mir ein schlechtes Gewissen einzureden?« Immerhin, auch wenn der Drache ein gutes Stück älter und klüger war als er selbst, änderte das nichts daran, dass Centhei einer der größten Elfenmagier war. Er würde sich nicht einmal von Lykaon ausschimpfen lassen.

Der Drache pustete ihm eine kleine Rauchwolke entgegen, die einen leichten Schwefelgeruch in sich trug. »Das wäre bei dir so oder so Zeitverschwendung. Also pass auf: Athara ist eine von den Unsichtbaren. Ist das Grund genug?« Centhei wurde erst nach einer Weile bewusst, dass er den Drachen mit offenem Mund anstarrte.

Die Unsichtbaren waren magische Wesen, noch mächtiger als die Elfen, so stark, dass sie nicht als das durch die Welt gehen konnten, was sie wirklich waren – wenigstens nicht von Anfang an. Sie wurden als Elfen oder Menschen geboren, noch seltener in anderen Gestalten. Was sie tatsächlich waren, wussten sie nicht, sie spürten höchstens den Unterschied zu den anderen. Oft taten sie auch Dinge, die andere Menschen oder Elfen nicht tun würden, wie zum Beispiel geradewegs in eine Drachenhöhle zu laufen.

»Einen besseren Grund gibt es wohl nicht«, stimmte Centhei mit einiger Verspätung zu. »Aber was ist sie denn genau?«

Lykaon schüttelte seine Flügel, rollte sich auf eine Art zusammen, die an eine Katze erinnerte, und schloss die Augen. »Ich sagte doch, sie wird wiederkommen.«

Centhei wusste, dass das für eine Weile Lykaons letzte Worte sein würden. Den Drachen vom Schlafen abzuhalten, wagte selbst Centhei nicht. So leise wie möglich schlich er sich aus der Höhle.

 

Athara ließ sich in den nächsten Tagen nicht mehr blicken und Centhei begann ernsthaft, an Lykaons Worten zu zweifeln. Er hätte hinterher nicht mehr sagen können, wer an dem regnerischen Morgen, an dem sie schließlich zurückkam, überraschter war: er selbst oder sie. Tatsache war, es regnete in Strömen. Der Geruch nach Wasser hatte die Luft durchtränkt und das Licht war verschwommen und erinnerte mehr an Dämmerung als an Mittag.

Centheis Umhang war fast völlig durchnässt, als er in Lykaons Höhle ankam. Fluchend schlug er die Kapuze zurück. »Da ist man ein Magier, und was nutzt es? Einen ordentlichen Spruch zu wirken lohnt sich nicht für den kurzen Weg, aber es reicht, um nass zu werden!« Unwillig strich er sich eine Strähne seiner saphirblauen Haare aus dem Gesicht. Er bemerkte das belustigte Funkeln in den Augen des Drachen und hielt mitten in der Bewegung inne. »Was?«, fragte er ungehalten. Er musste sich zur Seite drehen, um Lykaons Blick folgen zu können und starrte fassungslos auf das, was er sah. Er hatte Athara vorher nur von Weitem gesehen, jetzt stand sie unmittelbar vor ihm, nur ein paar Schritte entfernt gegen die Felswand gelehnt. Sie war ein Stück kleiner als er, kein Wunder bei einem Menschen. Sie trug einen dunkelroten Umhang, der nicht trockener war als Centheis eigener. Einzelne Strähnen ihrer schwarzen Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und fielen lose um ihr schmales Gesicht. Centhei stellte mit Erstaunen fest, dass ihre Haare nicht völlig schwarz waren, auf der linken Seite wurden sie von einer einzelnen feuerroten Strähne durchzogen. Blaue Augen betrachteten Centhei so aufmerksam, dass er sofort glaubte, dass sie tatsächlich sehen konnte.

»Athara, das ist Centhei, Centhei – Athara.« Centhei nahm nur am Rande zur Kenntnis, dass Lykaon ihn mit dem Spitznamen vorgestellt hatte, der sonst nur von dem Drachen benutzt wurde, statt mit seinem vollen Namen, Centhei-ware.

Centhei und Athara nickten einander zu, über Atharas Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln und das Eis war plötzlich gebrochen, Centheis Misstrauen verflogen. Dieses Mal beteiligte er sich an der Unterhaltung zwischen Lykaon und Athara, und als sie sich verabschiedete, war er sich sicher, dass sie irgendetwas verändert hatte.

»Was denn?«, fragte Lykaon. »Steht es mir so deutlich ins Gesicht geschrieben?«

»Seit dem Moment, als sie sich umgedreht hat.«

Centhei seufzte. »Die wird noch Probleme machen.«

Täuschte er sich, oder hatte er Lykaon tatsächlich zum Kichern gebracht?

»Tja, dasselbe könnte sie wohl von dir sagen«, stellte der Drache fest. Centhei schaute ihn fragend an. »Sie hing mit Blicken an dir, Centhei.«

»Sie hat wohl noch nie amethystfarbene Augen gesehen«, entgegnete Centhei.

»Wenn du meinst, dass es alleine daran lag …« Würde dieser vielsagende Unterton jemals wieder aus Lykaons Stimme verschwinden? Centhei seufzte. Ausnahmsweise war er froh darüber, nicht zu wissen, was dem Drachen durch den Kopf ging.

 

Athara kam von da an regelmäßig zu Lykaons Höhle. Centhei bezweifelte, dass er sich jemals an den Anblick dieses zerbrechlichen Wesens gewöhnen würde, das sich ganz selbstverständlich mit dem Drachen unterhielt. Drachen waren keine Schoßtiere und Lykaon war vielleicht noch eine Spur gefährlicher als andere seiner Art. Doch so weit Centhei wusste, war das Athara bekannt. Wie konnte sie sich dann immer noch in seiner Nähe aufhalten, ohne sich zu fürchten? Centhei war das ein Rätsel und er nahm sich vor, es zu lösen. Vielleicht auch nur, um eine Ausrede dafür zu haben, sich noch länger und ausgiebiger mit Athara zu beschäftigen, doch das würde er nicht einmal vor sich selbst zugeben.

 

Nach einem ihrer Besuche begleitete er sie noch ein Stück durch den Wald. Hin und wieder knackte ein Zweig unter ihren Füßen, Centhei selbst konnte sich wie alle Elfen völlig lautlos bewegen.

»Hast du eigentlich keine Angst vor Lykaon?« Er musste ihr die Frage einfach stellen, sobald sie außer Hörweite waren.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Vielleicht klingt es merkwürdig, aber ich wüsste keinen Ort, wo ich mich sicherer fühlen würde. Was sollte mir in dieser Höhle noch passieren?« »Abgesehen davon, dass er dich auffressen, verbrennen oder einfach zertreten könnte?«, fragte Centhei verblüfft. Sicher? Wer, außer einem Magier, fühlte sich in der Nähe eines Drachen schon sicher?

»Das würde er nicht tun«, entgegnete Athara schlicht und einfach. Centhei stimmte ihr innerlich zu, doch er fragte sich, was sie da so sicher sein ließ. Sie hatte Lykaon noch nicht so erlebt wie er. Sie war noch nicht dabei gewesen, wenn er dunkle Magier zerrissen hatte wie Spielzeug. Sie hatte ihm dabei nicht in die Augen gesehen.

Centhei überlief es kalt, wenn er daran dachte. Manchmal fragte er sich, ob ihm Lykaon als vergleichsweise harmloses Pferd nicht lieber gewesen war. Aber ein Drache war und blieb eben ein Drache und jede Verwandlung in etwas anderes war …

»Es ist einfach falsch.«

»Was?«

Centhei schaute Athara verblüfft an. »Das mit der Verwandlung.« Centhei war überrascht von sich selbst, dass er seine Gedanken einfach so verraten hatte. Noch dazu einem Menschen! Nun gut, genau genommen war sie das nicht. Aber davon hatte Lykaon natürlich nichts erzählt. Diese verdammten Geheimniskrämer! Sie hatten ja keine Ahnung, wie es war, einem Wesen gegenüberzustehen, das einem selbst dermaßen überlegen war, dass man es schon fast körperlich spüren konnte. Dass sie dann aus allem ein Geheimnis machten, machte es nur noch schlimmer. Wenn es einem Magier wie ihm schon so ging, wie musste sich dann erst Athara fühlen? Umso erstaunlicher, dass sie dann trotzdem immer wieder zurückkam. Vielleicht spürte sie, dass sich im Dorf der Elfen etwas für sie offenbaren konnte.

 

Sie erreichten den Waldrand und Athara verabschiedete sich widerwillig. Täuschte Centhei sich, oder lag etwas wie Angst in ihrem Blick? Er musste den Wunsch unterdrücken, die Ursachen dafür augenblicklich an Lykaon zu verfüttern. Was war denn überhaupt mit ihm los? Vielleicht wollte er das gar nicht wissen. Was er wissen wollte, war, ob Athara in der Welt, in der er sie jetzt gehen lassen würde, sicher war.

»Hast du eigentlich eine Waffe bei dir?«, fragte er sie unvermittelt. Sie zog einen Dolch aus einem ihrer Stiefel, ohne sich weiter über seine Frage zu wundern.

»Gib mal her.« Centhei kramte in seinem Gedächtnis nach dem passenden Zauberspruch und reichte Athara die Waffe schließlich zufrieden zurück.

»Was hast du getan?«

»Es ist ein Schutzzauber. Diese Klinge wird dich selbst nie verletzen, also falls ihn dir jemand wegnimmt …« Sie schaute ihn überrascht und dankbar zugleich an.

»Das«, Centhei legte ihr unwillkürlich einen Finger an die Lippen. »Das ist für einen Magier nicht besonders schwierig. Pass einfach auf dich auf!«

»Sicher, bis dann.« Und damit war sie verschwunden. Centhei hatte das Gefühl, dass sich etwas in sein Leben einschlich, was dort nichts zu suchen hatte. So ähnlich, wie sich der Geruch nach den Blumen, die hier in der Dämmerung blühten, in den Geruch nach Holz und Blättern mischte. Nur – würde dieses Etwas wesentlich mehr verändern als eine blühende Blume.

 

Centhei blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Mitten in der Nacht wurde er von einem Aufruhr im Dorf geweckt, aus dem er zwei Dinge deutlich heraushören konnte: die Rufe der Wachen und Atharas Stimme. Er war schneller aus dem Bett, als jemals zuvor in seinem Leben.

»Centhei!« Sie rief nach ihm und dieses Mal hatte sie eindeutig Angst.

»Lasst sie los, ihr verdammten Baumkäfer!« Die Wachen waren zu erstaunt, um sich über die Beleidigung zu wundern. Oder darüber, dass ein Mensch es wagte, einen ihrer Magier mit seinem Spitznamen anzusprechen. Centhei riss den Wachen Athara förmlich aus den Händen. »Wann merkt ihr euch das endlich! Wenn Lykaon sagt, ihr könnt sie durchlassen, dann gilt das für Tag und Nacht!«

Athara klammerte sich einen Moment an Centhei. »Bitte, hilf mir! Sie haben Jonathan und sie werden ihm etwas antun!« Centhei sah die Angst in Atharas Augen und zögerte nicht.

»Wo? Und wer ist Jonathan?« Er ließ sich von ihr mitziehen. Noch im Laufen erklärte sie ihm, dass Jonathan noch ein kleiner Junge war, der sie mochte und sich hin und wieder Geschichten von ihr erzählen ließ.

»Und jetzt haben Conrads Leute ihn und werden ihn …« Athara schlug sich erschrocken eine Hand vor den Mund. Centhei wusste nicht, was ihn wütender machte, ihre Angst oder die Art dieser Menschen, mit Geschöpfen umzugehen, die sich nicht wehren konnten. Sie erreichten schließlich den Waldrand und Athara führte Centhei noch ein Stück auf das Dorf zu, zu einer alten Scheune. Ein unterdrücktes Wimmern drang heraus und Centhei wünschte sich, Lykaon wäre hier.

Ein Rauschen in der Luft ließ ihn zusammenzucken. Hatte der Lärm im Dorf den Drachen geweckt? Höchstwahrscheinlich, aber sie hatten keine Zeit gehabt, um nachzusehen.

Ein Schatten verdunkelte die Sterne, die über ihnen am Himmel standen. Einen Moment später landete Lykaon nur wenige Meter von ihnen entfernt.

»Seht zu, dass ihr da rein kommt und das Kind rettet!«, knurrte er. Centhei beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Mit denen, die den Jungen bedroht hatten, hatte er kein Mitleid, auch wenn er wusste, was sie erwartete. Er fragte sich vielmehr, ob das, was gleich geschehen würde, Atharas Meinung über den Drachen ändern würde. Es kostete Centhei nicht viel Mühe, mit ein paar Menschen soweit fertig zu werden, um das Kind zu retten. Er brachte den Jungen nach draußen, wo er sich in Atharas Arme flüchtete.

Lykaon war anschließend nicht mehr zu halten. Eine Wand der Scheune riss er kurzerhand nieder, von den vielleicht fünf jungen Männern entkam ihm keiner.

Athara drückte Jonathan fest an sich, damit er nichts sehen konnte, und hielt ihm obendrein die Ohren zu. Sie selbst schien weniger erschrocken über das zu sein, was sie sah. Centhei fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie das Kind auf den Arm nehmen und losrennen würde, doch sie blieb stehen wie festgewachsen. Obwohl die Schreie der fünf Menschen zu Wimmern wurden, bevor sie verstummten, obwohl man Knochen brechen hörte, als wären es trockene Zweige und obwohl plötzlich ein Geruch in der Luft lag, den Centhei überall erkannt hätte: eine Mischung aus Schwefel und verbranntem Fleisch.

Als weder von der Scheune noch von Conrad und seinen Anhängern viel übrig war, ließ Athara Jonathan langsam wieder los.

»Geht es dir gut?«, fragte sie den Kleinen besorgt. Er nickte eingeschüchtert und schielte zu dem Drachen hinüber. »Dann lauf. Du weißt, wo die anderen sind!«, befahl Athara ihm mit zitternder Stimme.

»Kommst du nicht mit?« Sie schüttelte traurig den Kopf. Centhei runzelte die Stirn. Etwas sagte ihm, dass diese Sache noch nicht ausgestanden war. Athara gab Jonathan einen aufmunternden Klaps und er rannte los, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Athara wartete, bis er außer Sicht war, dann ging sie auf Lykaon und Centhei zu.

»Danke, dass ihr ihn gerettet habt!« Sie umarmte Centhei kurz, ihre Lippen strichen so flüchtig über seine Wange, dass er fast schon glaubte, sich die Berührung nur eingebildet zu haben. Sie trat einen Schritt zurück, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie hielt Centhei den Dolch hin, den er selbst verzaubert hatte. »Und jetzt nimm diesen Spruch zurück.« Centhei schaute von der Klinge in Atharas Augen und wieder zurück. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz.

»Erstens wirst du das lassen, was du da gerade denkst. Und zweitens, warum denkst du überhaupt daran?« Athara wich seinem Blick aus.

»Ich habe … ihn umgebracht. Einen von denen. Deshalb haben sie Jonathan …« Ihre Stimme versagte, Centhei streckte eine Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück. Von der Nähe, die einen kurzen Moment zwischen ihnen geherrscht hatte, war schon nichts mehr übrig. Wenigstens gerade jetzt nicht.

»Einer von ihnen war schon länger hinter mir her und heute dachte er wohl, er kann sich einfach nehmen, was er will. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich mich wehren würde, dass ich mich so wehren würde.«

»Er hat Glück, dass er schon tot ist«, knurrte Lykaon im Hintergrund. Athara fuhr zu ihm herum.

»Ich kann nicht damit leben! Ich weiß nicht einmal, warum, aber ich kann es nicht! Ich wollte nicht werden wie sie und jetzt habe ich damit angefangen und was wird denn aus mir, wenn ich so weiter lebe?«

Centhei verstand, was sie meinte; und Lykaon schien es noch besser zu verstehen.

»Na schön, wenn du da so sicher bist, dann sollte man dich so wohl nicht weiter leben lassen.« Athara trat noch einen Schritt auf den Drachen zu. »Mach der Sache ein Ende, bevor es zu schlimm wird.« Das Zittern war aus ihrer Stimme verschwunden. Lykaon richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Centhei schaute von einem zum anderen.

»Seid ihr denn jetzt beide wahnsinnig?«, brüllte er. Er wollte sich zwischen den Drachen und Athara werfen, doch etwas hielt ihn fest, wo er war. Lykaons Magie, ohne Zweifel. Der Drache warf ihm einen fast schon bedauernden Blick zu, als Centhei vergeblich gegen die magischen Fesseln ankämpfte. Dann wandte er sich wieder Athara zu und holte tief Luft. »Nein!« Centheis verzweifelter Schrei ging im Brausen des Feuers unter, mit dem Lykaon Athara einhüllte. Die Verzweiflung verlieh Centhei eine Kraft, von der er bis dahin noch nichts geahnt hatte. Irgendetwas geschah mit ihm. Die Fesseln schienen ihn nicht mehr halten zu können, der Boden war plötzlich so nah und er fühlte so viel davon gleichzeitig. Und dann etwas anderes, Heißes. Etwas zischte. Kam dieses Zischen etwa aus ihm selbst?

Centhei erschrak und der Schreck hob die Verwandlung auf.

»Alle Achtung, du hast es also doch noch gemerkt!« Centhei schaute den Drachen einen Moment nur verständnislos an. Dann hatte er sich wieder weit genug gefangen, um sich auf Lykaon zu stürzen. Auch wenn er wusste, wie dumm das war, in diesem Moment war ihm das egal. Es kostete den Drachen keine Mühe, ihn wieder auf magische Art zu fesseln.

»Wirst du mir denn endlich zuhören, du dummer Junge? Du bist wie sie. Oder sie ist wie du, egal, wie du es sehen willst.«

»Sie ist tot! Du hast sie umgebracht, du verdammter Bastard!«

Lykaon schüttelte den Kopf. »Erstens ist das nicht wahr. Und zweitens ist dir klar, was du gerade getan hast? Du bist zu Wasser geworden und hast die Asche abgekühlt!«

»Erzähl mir doch nicht solchen Unfug, um abzulenken!« Bevor Lykaon noch etwas sagen konnte, wurde Centheis Aufmerksamkeit von einer Bewegung in der Asche gefesselt, die von Athara übrig geblieben war. Er traute seinen Augen kaum. Etwas … erhob sich daraus. Und nahm die Gestalt eines Menschen an, oder einer Elfe? Oder etwas ganz anderes … Das konnte doch nicht …«

Schlagartig wurde Centhei klar, was er vor sich hatte. Athara war ein Phönix, ein Geschöpf des Feuers. Das war ihre wahre Natur. Es dauerte wirklich nicht mehr lange und sie stand vor ihm, als wäre ihr nie etwas passiert. Nun ja, nicht ganz, denn die Haare waren nicht mehr schwarz, sondern sahen aus wie Flammen, die ihr Gesicht umtanzten.

»Willkommen zurück, Flamma.« Sie beachtete Lykaon gar nicht, sondern stolperte unsicher auf Centhei zu. Er hätte nichts lieber getan, als sie zu umarmen, doch er war noch immer unfähig, sich zu bewegen. Und Athara wurde von Lykaon vorsichtig festgehalten.

»Nicht anfassen!«, befahl der Drache.

»Was?«, fragten Centhei und Athara gleichzeitig.

Lykaon seufzte. »Es tut mir leid, ihr beiden, wirklich. Aber ihr seid Feuer und Wasser, ihr dürft euch nicht berühren. Niemals.«

»Aber …« Centhei fragte sich, ob in seinem Blick dieselbe Fassungslosigkeit lag, die er in Atharas Augen lesen konnte. Fassungslosigkeit, Schmerz und noch mehr Verzweiflung. »Wofür das alles? Wofür sind wir das, was wir sind, wenn uns das ewig voneinander fernhält?«, hätte er am liebsten gefragt und zuckte zusammen, als Athara die Frage laut stellte. Lykaon senkte bedauernd den Kopf. »Feuer und Wasser«, murmelte er nur. Natürlich, eines der ältesten Gesetze der Magie, und trotzdem …

»Warum ausgerechnet wir?«, flüsterte Athara kaum hörbar.

»Vielleicht, weil die Welt ein Ort ist, an dem alle schönen Dinge enden, bevor sie richtig anfangen können«, vermutete Lykaon.

Centheis Blick fiel auf die nasse Asche auf dem Boden. Mehr als das blieb also nicht übrig für Athara / Flamma und ihn. Alles verloren, bevor es überhaupt eine Chance bekommen hatte … Was blieb, war die Magie in ihnen. Magie und Asche und eine Leere, die sich nie wieder füllen würde.