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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Der Fluch des Pharao – Teil 2

Dorkas fuhr aus dem Schlaf hoch. Etwas musste ihn geweckt haben. Und es hatte ihn nicht auf sanfte Weise geweckt. Denn als er den ersten Gedanken fassen konnte, saß er aufrecht im Bett. Die Dunkelheit war vollkommen. Sie war so dicht, dass sie nicht außen zu sein schien, sondern schon hinter seinen Augen begann. Alles war still. Sein Herz pochte und ließ seinen Körper schwanken. Das Blut sauste und summte in den Ohren. Dorkas saß wie gebannt.

Langsam ließ die Spannung, aufgebaut durch einen unbewussten Schrecken, nach. Er wollte sich schon wieder in die Kissen sinken lassen, da hörte er es wieder.

Ein hartes Klopfen an der Haustür. Jemand hieb mit schwerer Faust gegen das Holz. So schwer, dass selbst die Wände zu zittern schienen.

Ein Säufer im lebensbedrohlichen Stadium sinkenden Blutalkoholspiegels, hoffte Dorkas. Dann schaute er auf die Uhr. Es war halb drei. Es musste etwas anderes sein. Aber jedenfalls nichts, das ihn anging. Das Klopfen verstärkte sich und ging in einen Rhythmus über, der an eine große Trommel erinnerte. Die Schläge ließen die Schwärze vibrieren.

Langsam gewann Dorkas den Eindruck, dass nicht jemand vor der Tür stand, sondern etwas. Etwas, das Einlass begehrte und kein Mensch war. Unfug, er schüttelte den Gedanken ab, schimpfte sich selbst einen abergläubischen Idioten und stand dann doch auf. Es war besser aufzustehen. Er tastete sich zur Tür, stolperte über seine Schuhe und bekam die Klinke zu fassen.

Der Flur war durch das Licht, das aus der Schankstube drang, erhellt. Zögernd schlurfte Dorkas auf den Treppenabgang zu. Er wollte nicht vorwärts, aber etwas zwang ihn dazu.

Das Pochen an der Tür war schnell, laut und hart wie von einer Eingeborenentrommel, die zu Jagd oder Krieg ruft. Der Klang verband sich mit dem Pochen des Herzens, sickerte in die Nervenbahnen und trieb Dorkas weiter. Alles in ihm wehrte sich, er fürchtete sich wie ein Mann, der hinter einer Ecke den Krach eines Unfalls gehört hatte, um diese Ecke zu gehen und seinen Augen den Anblick der Katastrophe zuzumuten. Stufe um Stufe trieb es Dorkas die Treppe herunter. Die Schankstube war erleuchtet.

Gray stand in der Stube wie ein unbewegtes Standbild drei Meter von der Tür entfernt und fixierte mit stierem Blick das Schloss. Unter der Wucht der Schläge bebte die Türfassung. Lange konnte sie nicht mehr standhalten.

Mit mechanischen Schritten schlurfte Dorkas von der Treppe heran und stellte sich neben Gray.

»Nicht aufmachen«, flüsterte Gray tonlos. »Um Gottes willen, nur nicht aufmachen. Da – sehen Sie nur!«

Deutlich erkannte Dorkas eine grünliche Schleimbrühe, die unter der Tür durchsickerte. Kein Schleim, Regenwasser, sagte er sich. Und es war auch kein Schleim, es war etwas, das sich nach freiem Willen bewegen konnte, das sich die Fugen zwischen den Fußbodenfliesen entlang tastete und immer tiefer in den Raum drang.

Dorkas versuchte mit aller Kraft, die Ruhe zu bewahren. Er musste die Situation unter Kontrolle halten, er durfte seinem Geist nicht die Zügel schießen lassen, ihm keine Panik erlauben. Aber es war zu spät. Der Rhythmus der Schläge hatte beide Männer in der Gewalt. Sie begannen zu schwanken wie Marionetten und starrten gegen die Tür. Und zugleich starrten sie nach innen, in ihre Köpfe, in ihr Bewusstsein, und dort sahen sie, was vor der Tür war. Sie sahen das grünlich-eitrige Schimmern blasig verfaulten Fleisches unter der Lampe, sahen die bläulich aufgedunsenen Glieder der Ertrunkenen, die schwarz um den Schädel geschrumpfte ledrige Haut eines Verbrannten. Sie hörten das schartige Röcheln, das aus der Kehle eines monströsen Wesens drang und wie ein Kältehauch zwischen den gefletschten Zähnen hervorpulste. Und sie sahen noch mehr.

Die Angst ließ die Männer gefrieren. In hypnotischem Zwang bewegte sich Dorkas zur Tür.

»Nein«, presste Gray mit letzter Kraft hervor. »Sie verdammter Idiot, nicht öffnen …«

Aber Dorkas legte die Hand auf die Klinke und drehte den Schlüssel um.

Gray riss sich aus seiner Starre und stürzte mit einem Satz vorwärts. Er legte einen Arm von hinten um Dorkas Hals und würgte und zerrte nach Kräften. Aber Dorkas hatte den Schlüssel fest in der Hand.

Röchelnd drehte er weiter, bis das Schloss aufschnappte.

Gray ließ los und warf sich heulend hinter einen Tisch.

Dorkas öffnete die Tür.

Die Tür schwang quietschend auf. Das Licht aus dem Schankraum fiel auf einen leeren, nassen Vorplatz. Dorkas schaute auf die Pfütze zu seinen Füßen. Draußen war – niemand.

Dorkas reckte seinen Körper. »Kommen Sie«, rief er Gray zu.

Gray schob Stühle zur Seite und kletterte unter dem Tisch hervor. Er rieb sich die schmerzenden Knie und stellte sich neben Dorkas.

Für einen Moment betrachteten sie die Ringe, mit denen die Regentropfen in die Wasserlachen einschlugen und lauschten auf das Prasseln des Regens. In einem Nachbarhaus begann ein Hund zu heulen.

»Warum haben Sie die Tür aufgemacht«, fragte Gray.

»Sieh dem Tiger in das Auge und er springt dich nicht an, sagte schon Omar Shaiyin. Was haben Sie gesehen?«

»Gesehen? Fürchterlich zugerichtete Leichen, Zombies, Monster – die gesamte Besetzungsliste mieser Horrorschmöker.«

»Ja, das habe ich auch gesehen. Aber dann sah ich mein Kindermädchen. Die hat mich früher immer unter die eiskalte Dusche gezerrt, mich saure Milch trinken lassen und mich verprügelt, wenn meine Eltern auf Reisen waren. Diese widerliche Sumpfkuh. Aber damit haben sie einen Fehler gemacht.«

»Wer sind sie, und was für einen Fehler meinen Sie?«, fragte Gray. Er hatte sich einen Schnaps eingegossen und kippte das scharfe Zeug mit einer heftigen Bewegung des Halses herunter.

Dorkas schüttelte den Kopf, als Gray die Flasche fragend in seine Richtung hielt.

»Der Fehler war das Hausmädchen. Sie war ein absolutes Schreckensobjekt für mich, aber ihr Erscheinen machte mir klar, dass hier die Projektionen meiner Ängste vor der Tür standen. Und damit hatten sie verloren. Aber wer diese sie sind, weiß ich nicht.«

***

Der Traktor ruckte an und bewegte sich hoppelnd auf die Hauptstraße zu. Der infernalische Motorenlärm weckte die Schläfer in der weiten Umgebung, und die Hunde heulten und zerrten an ihren Ketten.

Gray steuerte den Traktor aus dem Ort heraus, ein Stück die Straße entlang, und bog dann auf einen Feldweg. Ein Stück weiter hielt er an. Im Licht der starken Scheinwerfer waren zwei der Figuren zu sehen.

Dorkas stockte der Atem.

Es waren blockartige graue Steingestalten, die im Schein der vibrierenden Traktorenlampen erregt zu zittern schienen. Die Gliedmaßen waren nur grob angedeutet – stämmige kurze Beine und Arme, die vor der Brust gekreuzt waren. Die vordere Figur hatte ein menschliches Antlitz, mit grimmig geschürzten Brauen und einem Mund, der einen Fluch oder ein endgültiges Urteil auszustoßen schien. Die hintere Figur hatte eine stark ausgeprägte Nase und ließ den Betrachter bewusst im Unklaren darüber, ob das Gesicht noch zu einem Menschen oder schon zu einem Tierwesen gehörte. Die langen Schatten der Figuren lagen schwer auf dem Gras und schienen vor geballter, kaum gebändigter Energie zu beben.

Dorkas schaute sich um. Er konnte außer der Weidefläche und einigen Buschgruppen nichts entdecken. Der Regen zog glasige Streifen quer durch die Lichtkegel.

»Da vorne beginnt die Spirale.« Grays Hand deutete die Richtung an. »Sehen Sie, die nächste Figur ist schon zur Seite versetzt.«

»Gut. Dann legen wir diese beiden Figuren um, und dann die nächsten beiden in der anderen Richtung.«

Dorkas trieb zur Eile.

Gray fummelte in halbtrunkener Tranigkeit mit einer schweren Eisenkette, während Dorkas unruhig in die Dunkelheit spähte. Endlich konnte er das Ende der Eisenkette nehmen und um die erste Figur herumführen. Er zuckte zurück, als seine Hand zufällig den Stein berührte. Die Oberfläche war warm. Viel wärmer als es bei der Kühle der Nacht, nach einem kalten und verregneten Tag, zu erwarten gewesen wäre. Und bei der sekundenkurzen Berührung hatte er unter den Fingerspitzen nicht die Empfindung von rauem Stein gehabt. Es fühlte sich an wie die Haut eines Reptils.

»Sarah, du Drecksstück«, fauchte Dorkas zwischen den Zähnen hervor und beeilte sich, die Kette an den Zughaken zu hängen. Dann erklomm er seinen Sitz, was mit den glitschigen, schlammbedeckten Schuhen gar nicht leicht fiel.

Gray schaltete im Untersetzungsgetriebe, und der Traktor kroch langsam aber beständig vorwärts. Die riesigen Hinterreifen mahlten sich in die nasse Erde, griffen wieder und schoben die Maschine vorwärts. Zugleich bewegte sich die Steinfigur.

Dorkas registrierte mit Befriedigung, wie sich das Gesicht der Figur, in einer Geste der Demut scheinbar, zentimeterweise nach vorne neigte. Ein Aufschrei Grays ließ ihn herumfahren.

Im Lichtkegel der Scheinwerfer erschienen drei Hunde. Es waren große schwere Bullenbeißer.

»Was zum Teufel machen die Köter hier«, brüllte Gray und brachte den Traktor zum Stehen. Dann schrie er die Namen der Hunde, und immer wieder »Pfui«, »Sitz« und »Platz« .

Die Frage, was die Hunde hier wollten, erübrigte sich in der nächsten Sekunde. Das erste Tier setzte zum Sprung an und schleuderte seinen schweren Körper hoch zum Fahrersitz. Es schnappte knurrend zu, erwischte Grays klatschnassen Jackenärmel und stürzte im gleichen Moment wieder rückwärts neben die stampfende Maschine.

Gray schrie auf, der Stoff des Ärmels riss mit einem Knirschen. Aus einer klaffenden Fleischwunde strömte Blut, und Gray verteilte einen Regen roter Tropfen, als er in Panik den Arm zurückwarf.

Der Hund krümmte sich zusammen und katapultierte sich wie eine losschnellende Stahlfeder erneut nach oben.

Dieses Mal hatte Gray etwas in der unverletzten Hand. Es war die Schnapsflasche. Er schlug zu, als der Hund das Maul nach seiner Kehle aufriss. Er hämmerte mit der fast leeren Flasche auf die Hundenase ein und brüllte dabei vor Panik, Schmerz und Wut, während die Vorderkrallen des Tieres seine Jacke und seine Haut zu Streifen rissen. Die beiden anderen Tiere umschlichen knurrend den Traktor.

Dorkas war im Moment der ersten Attacke auf seinen Sitz auf den zitternden Kotflügel geklettert und sprang von einem Fuß auf den anderen wie ein hysterisches Schulmädchen beim Anblick einer Maus. Dann rammte etwas seine Waden und warf ihn zwischen Kotflügel und Fahrersitz. Für einen Moment war Dorkas dort eingeklemmt und bekam einige Tritte des wie wild strampelnden Gray gegen die Schulter. Wie ein Ertrinkender mit den Armen schlagend rappelte er sich halb auf und wurde im nächsten Moment von einem von hinten anspringenden gegen das Instrumentenbrett geschmettert. Er schrappte mit dem Gesicht über einen Hebel, und die Drehzahl des Motors steigerte sich zu einem Brüllen. Dorkas schnappte nach Luft. Über ihm war das nasse, stinkende Hundefell, er spuckte Haare aus und schaffte es, das Tier etwas wegzudrücken. Er bekam einen Haltegriff zu fassen und zog sich hoch, während der Hund hechelnd zu einer Drehung ansetzte, um an Dorkas Kehle zu kommen, aber auch für das Tier war es zu eng. Es sprang vom Traktor, um einen neuen Anlauf zu machen.

Glas splitterte. Gray hatte die Flasche an der Motorhaube entzweigeschlagen und drückte jetzt den scharfkantigen Rest seinem tierischen Gegner in ein Auge. Der Hund heulte kurz auf, erwischte aber Grays Hals und zog mit einem Reißzahn eine blutende Spur quer über dessen Adamsapfel.

Gray kreischte schrill, warf sich instinktiv herum und stach dem Hund mit einer verzweifelten Bewegung das verbliebene Auge aus. Der starke Kiefer schnappte zu, erwischte Grays Jacke noch einmal riss ihn fast aus dem Fahrersitz.

Strampelnd arbeitete sich Dorkas zurück auf den Beifahrersitz. Er hörte neben dem Knurren der Hunde ein ersticktes Keuchen im Ohr und erkannte in einem Moment der Klarheit, dass er es selbst war, der so keuchte. Die Hunde waren wild vor Blutdurst und behinderten sich gegenseitig, sodass Dorkas tatsächlich auf den nassen, plastikbezogenen Sitz rutschen konnte, so als wäre dort das »Frei-O« der Kinderspiele.

Ein Hund plumpste von der Maschine und klatschte in den aufgewühlten Matsch. Der andere erwischte Dorkas’ Schuh und zerrte mit ungestümer Kraft daran.

Dorkas klammerte sich an das Geländer, das um den Sitz lief, und krallte sich mit der anderen Hand an eine Blechkiste. Der Deckel der Kiste öffnete sich dabei mit einem Ruck, der Dorkas fast von der Maschine geworfen hätte. Dabei rutschte der Hund ab, und seine Zähne rissen die Sohle von Dorkas’ Schuh. Sein Bein war frei, er drehte sich und griff in die Kiste nach dem Ersten, was ihm in die Hände kam. Bevor er bewusst zugreifen konnte, wurde ihm fast die Wirbelsäule gebrochen, als ihm ein Hund in den Rücken sprang, wobei Dorkas gegen den kämpfenden Gray gestoßen wurde. Die Bestie fand aber Halt auf dem Sitz hinter Dorkas.

Dorkas fühlte ein schweres Werkzeug in den Händen, und während das Untier noch mal kurz den Halt auf dem nassen Blech des Kotflügels verlor, führte Dorkas dieses Werkzeug hinter dem Rücken zwischen die Hinterbeine des Hundes und drückten die beiden Griffe zusammen.

Der Hund jaulte auf und schoss in die Höhe.

Dorkas stieß sich von Gray ab. Er hob die schwere Zange über den Kopf.

Gray wurde wieder angegriffen und wehrte sich nur noch sehr lahm. Die Kräfte verließen ihn.

Dorkas sah das Tier und schlug gezielt zu. Der Hundeschädel zerbarst unter der Wucht des Schlages, die Zange verschwand zur Hälfte in der Wunde. Dorkas riss sie heraus. Der Hund konnte nicht mehr leben. Er musste tot sein, so wollten es alle Regeln der Natur. Aber der Hund lebte noch – jedenfalls war er nicht tot und er starrte Dorkas hasserfüllt aus blutunterlaufenen Augen an, während er sich und Grays Kleidung krallte.

Dorkas war für eine Sekunde wie gelähmt. Die Ausdünstungen einer blinden Wut, eines Vernichtungswillens, der nicht zu dieser Welt, nicht zu dieser Schöpfung gehörte, trafen ihn wie das Rauschen eines Störsenders.

 

Ein Wunsch wuchs in seinem Inneren. Der Wunsch, alles geschehen zu lassen, den Mühen des Lebens zu entsagen, sich in die Unabänderlichkeit der Vernichtung zu ergeben. Einfach alles mit sich geschehen lassen. Es würde nur ein kurzer Moment sein, zu kurz, um überhaupt dem Schmerz ein Gewicht zu geben; ein vorüberflirrendes Krachen von Knochen, Reißen von Haut und Adern – und dann könnte er die süße Milch des Nichts trinken, die bergende mütterliche Schwärze der Vernichtung aufsaugen. Schweißtropfen rannen brennend in sein linkes Auge. Wie mühsam war das doch alles, wie unendlich lästig und mühsam. Und er brauchte nur eine Sekunde stillzuhalten und alles wäre vorbei.

»Nein«, schrie Dorkas und riss erneut seine Waffe hoch. Blut und der quallige Schleim des getroffenen Hirns tropften von dem Eisen. Dorkas begann, wütende Schreie auszustoßen wie ein Krieger in einer Schlacht, der sich in jedem Moment seines Zorns, seiner Kraft und seiner Lebendigkeit vergewissern muss, und er prügelte auf den Hund ein. Er trieb das Tier zurück, aber es setzte immer wieder zum Sprung an, krallte sich an den erschöpften Gray und rutschte dann endlich langsam von ihm herab.

Dorkas kletterte ächzend nach unten, umrundete den Traktor und erschlug den Hund, der sich in die Kurbel des Schwungrades verbissen hatte. Die Maschine raste mit einem unglaublichen Lärm.

Auch Gray war vom Traktor hinabgeklettert und wankte jetzt zu Dorkas. Er hielt immer noch die blutigen Reste der Schnapsflasche in der Hand. Schwankend ließ er seinen ungläubigen Blick auf der Szene ruhen. Er hatte dem Hund, den Dorkas kastriert hatte, die Kehle aufgeschlitzt. Aber einer der Hunde lebte noch. Mit blinden Augenhöhlen, aus denen Blut rieselte, umkreiste er den Platz, verschwand hinter dem Traktor und erschien knurrend, mit offenem Maul, aus dem Geifer in weißen Fäden troff, auf der anderen Seite.

Die beiden Männer drängten sich aneinander. Ihr Atem ging keuchend und stand als weiße Wolke über ihren Köpfen. Ihre Kleider waren zerrissen und klebten völlig durchnässt an der Haut. Dorkas drückte Gray die rot verschmierte Zange in die Hand.

Gray schrie in das Getöse des heulenden Motors: »Jack, komm her, Jack.«

Und der Hund kam. Er sprang dorthin, von wo er die Stimme gehört hatte.

Gray trat ihm in die Rippen und ließ die Zange auf den Rücken des Hundes sausen. Das Rückgrat zerbrach. Aber der Hund kroch weiter, schob sich mit den Vorderpfoten näher an Gray heran. Der schaute hilflos zu Dorkas.

»Das ist kein Hund, nun machen Sie schon, schlagen Sie zu«, schrie Dorkas. Seine Stimme kam krächzend und rau aus der Kehle. Und so schlug Gray zu, erschlug seinen geliebten Hund, den er als Welpen mit der Flasche gefüttert hatte, bis er schluchzend, von Weinkrämpfen geschüttelt, vor einem unförmigen Haufen von schmutzigem Fell, zerrissenem Fleisch und zerborstenen Knochen stand. Dann ging er müde zum Traktor und stellte das Gas zurück. Die Maschine beruhigte sich und erstarb dann ganz. Das Scheinwerferlicht wurde gelblich. Nur noch der Regen rauschte.

»Mein Gott, was war das? Ich muss zu einem Arzt. Ich blute aus allen Knopflöchern!« Gray zitterte vor Kälte, Kraftlosigkeit und Blutverlust.

»Ich weiß, was das war«, sagte Dorkas. »Und Sie wissen ebenfalls, was das war. Und genau darum führen wir jetzt unsere Arbeit zu Ende. Aber vorher verbrennen wir die Kadaver. Der Arzt muss warten.« Gray setzte sich wieder in Bewegung.

***

Tony Tanner betrachtete missmutig die Wüste bei Abu Simbel. Er sah auf eine endlose, leicht gewellte und von kleineren Tafelbergen überragte Ödnis. Der Sand war von einem stumpfen Braungelb, aber das Gesamtbild der Landschaft wurden von ausgedehnten Geröllfeldern bestimmt. Die Steine waren meist dunkel, oft sogar schwarz, und dann wirkte es, als wären die Ölteppiche eines fernen Tankerunglücks in diese gottverlassene Gegend gespült worden.

Hat sich was mit sattgelben Dünen unter einem krachend blauen Himmel, dachte er. Hier ist keine Kulisse für malerische Karawanen, nichts mit romantischen Abenteuern von freiheitsliebenden Helden mit Omar-Sharif-Gesicht und dunkel glühenden Augen. Das hier wirkte wie ein verlassener Müllplatz, der schäbige Hinterhof eines Kontinents. Der Arsch der Welt, Anus Mundi. Und dies war exakt die Position, auf der sich Tony Tanner in diesem Moment befand.

Nach dem Anschlag hatte es von Soldaten förmlich gewimmelt. Die Truppen waren ausgeschwärmt, in dem Versuch, die Attentäter zu finden, hatten das Wrack des Busses gelöscht und die Leichen weggetragen. In einem seltenen Anfall von Geistesgegenwart hatte sich Tony sofort wieder in Richtung auf das Flughafengebäude zurückgezogen und wirkte jetzt wie ein verschreckter Tourist in wenig passender Kleidung und nicht wie ein Augenzeuge. Oder war er mehr als ein Augenzeuge? War er vielleicht gar das Ziel des Anschlags gewesen? Er durfte diesen Gedanken nicht näher an sich heranlassen. Trotzdem, dieses »was wäre gewesen, wenn« hämmerte im Hintergrund seinen Rhythmus.

Der Taxifahrer, der ihm unwissentlich – oder war es nicht unwissentlich? – das Leben gerettet hatte, fuhr wieder vor. Aber dieses Mal kümmerte er sich nicht um Tony, sondern saß in seinem Peugeot-Kombi und schien selbst wie erstarrt.

Tony überlegte kurz, schaute auf die beiden Militärlastwagen, die vorüberdröhnten, und fasste einen Entschluss. Er schritt zu dem Taxi und stellte dem Fahrer eine Frage.

»Ich dich fahre, wo du wolle«, war die Antwort. »Ich dich fahre auch Bir Tarfawi.«

 

Nagib brauchte eine halbe Stunde, um die Vorbereitungen für eine Fahrt von etwa 250 Kilometern durch Wüstengebiet zu treffen. Er fuhr mit Tony in das Dorf, hielt vor einer Hütte, die sich anhand einiger Reifenstapel als Technologiezentrum der Ansiedlung identifizieren ließ, und begann, Treibstoffkanister, Taschen, Seesäcke, Bündel und Wasserbehälter zu laden.

Jedes Mal, wenn Nagib eine Last hochwuchtete und dann stöhnend auf die Gepäckfläche fallen ließ, schaukelte der Wagen, und die Federung quietschte und knarrte. Zuletzt kamen zwei Sandbleche auf das Wagendach, und Nagib meldete sich zur Abfahrt bereit.

Tonys schüchterne Anfrage nach Navigationsmitteln wurde zunächst mit Unverständnis quittiert. Dann hellte sich Nagibs Miene auf.

»Du Neugier, wie Nagib finde Weg?« Er wühlte im Handschuhfach und förderte einen Kompass zutage, den er, so vermutete Tony, an einer Schießbude gewonnen haben musste. Vermutlich war es müßig, an dieser Stelle des Globus auf ein Fahrzeug mit Satellitennavigationsanlage zu hoffen. Aber dann klopfte sich Nagib auf den umfänglichen Bauch und erklärte: »Nagib kenne Wüste. Weg finde Nagib mit Gefühl.«

Das war dann allerdings eine Beruhigung für Tony, den in diesem Bauch war sehr viel Platz für sehr viel Gefühl dieser praktisch-navigatorischen Art.

Nagib umfuhr den Militärkordon in einem weiten Bogen und schlug dann eine nordwestliche Richtung ein. Der Wagen war völlig überladen und setzte immer wieder laut scheppernd mit dem Bodenblech auf. Die Dieselkanister hinter Tony verbreiteten einen durchdringenden Gestank und schlugen bei jeder Wagenbewegung krachend gegeneinander.

Trotz dieser wenig erquicklichen Umstände war Tony bald klar, dass er mit dem fetten Nagib einen Glücksgriff getan hatte. Der Ägypter saß lässig hinter dem Lenkrad, dessen unterer Teil an seinem Bauch entlangschubberte, und lenkte den Wagen mit instinktiver Sicherheit auf der günstigsten Linie, vorbei an Schlaglöchern, Sandbänken oder zackigen Felsblöcken.

Es gab Stellen, an denen der Wind den Untergrund zu einer Folge waschbrettartiger Rillen geformt hatte. Der erste Versuch, eine solche Stelle mit höherer Geschwindigkeit zu durchqueren, endete damit, dass beide Insassen Kopfberührung mit dem Wagendach hatten, weil das Auto unkontrolliert hüpfte und sprang. Danach vermied Nagib diese Hindernisse oder fuhr so langsam, dass Tony an jene Form von »verkehrsberuhigenden« Barrikaden dachte, die eine besonders boshafte Art europäischer Terroristen, Stadtplaner genannt, zu ihren Anschlägen verwendet.

 

Nagib fluchte ständig temperamentvoll vor sich hin, als würde er sich zur Hauptverkehrszeit durch eine Großstadt kämpfen. Er nahm die Wüste persönlich. Jedes Sandloch wurde auf die übelste Weise beleidigt, einfach weil es existierte, jede felsige Erhebung musste sich Tiraden der Verachtung anhören, aus Rache über ihre Frechheit, in Nagibs Weg zu liegen. Immer wieder griff Nagib hoffnungsvoll nach dem Schalthebel, um kurze Zeit später wieder in einen kleineren Gang wechseln zu müssen. Sie fuhren so langsam, dass die Tachometernadel sich nicht aus der Ruheposition bewegte. Aber vielleicht war der Tacho ja auch schlicht kaputt, denn auch der Kilometerzähler verweigerte die Arbeit.

Schließlich versackten sie doch in einem der unzähligen Sandlöcher, und Nagib drückte wütend und anhaltend auf die Hupe, während der Vorderwagen langsam einsank. Sie banden die Sandbleche los und legten sie vor die Räder. Der Versuch, auf diese Weise aus dem Sandloch zu kommen, misslang, und der Wagen wühlte sich unter wütendem Motorenheulen und ständigem Hupen noch tiefer in den Sand. Nagib schleifte die Sandbleche an eine andere Stelle und schickte Tony, das Werkzeug zu holen. Der suchte in dem schmierigen Seesack, der ganz hinten auf der Ladefläche lag, und fand eine Klappschaufel. Aber er fand auch noch etwas anderes. Tony hielt den Gegenstand im ersten Moment für einen Wagenheber oder ein Ersatzteil für die Auspuffanlage. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass Nagib ihm nicht zusah, sondern unleidlich brabbelnd an den Sandblechen ruckelte.

Mit einem schnellen Griff zog Tony an dem Rohr, das sich zu ihm hin etwas erweiterte. Er entdeckte ein klappbares Visier, einen Handgriff mit Abzug – und am anderen Ende einen dicken, birnenförmigen Sprengkopf. Man brauchte keine besonderen Kenntnisse auf militärischem Gebiet, um dieses Gerät als Panzerfaust zu identifizieren.

Tony schob die Waffe zurück und schaute auf den schweißnassen Rücken seines Fahrers. Hatte Nagib nicht sofort, als der Bus explodierte, gesagt, hier wäre eine Panzerfaust eingeschlagen? Ein Kenner der Materie also! Hatte sich Tony, ohne es zu wissen, neben einen fundamentalistischen Terroristen gesetzt? Welche Gründe Nagib auch immer für die Auswahl seines Werkzeugs haben mochte, die beste Taktik war in diesem Falle wohl, sich unwissend zu stellen. Tony klappte die Schaufel auseinander, schraubte sie fest und begann, den puderfeinen Sand fortzuschaffen.

 

Es kostete viel Zeit und noch mehr Schweiß, den Wagen wieder flott zu bekommen.

Inzwischen waren die Schatten schon merklich länger geworden. Nagib wurde durch das schräg einfallende Licht irritiert. Er umfuhr ein Hindernis, das sich hinterher als Schatten herausstellte, und setzte dafür den Wagen krachend gegen einen Steinblock, den er als bloße Sinnestäuschung angesehen hatte. Schließlich stellte er fluchend den Motor ab.

»Mache Pause bis morge, dann weiter«, verkündete er und begann, ein Lager aufzuschlagen.

Tony kletterte inzwischen zu einer kleinen Anhöhe hinauf. Der glühenden Farben des Sonnenunterganges waren stumpf geworden. Aus den Mulden stieg schnell die Dunkelheit.

Wie hieß diese Wüstengegend doch noch auf den alten Karten der Kolonialzeit? »Das leere Viertel« wurde sie genannt. Landschaften, die nichts zu bieten hatten als die Wahrscheinlichkeit eines Todes in Wahnsinn und Umnachtung. Was hatte einen Pharao dazu getrieben, in diese Gegend zu ziehen, in dieses Nichts aus Geröll und Sand? War er einer Vision gefolgt, oder gab es vielleicht einst tatsächlich eines dieser legendären Wüstenkönigreiche, wie sie die Träume der alten Fremdenlegionäre vergoldeten?

Tony seufzte. Mit ziemlicher Sicherheit war der Pharao weitaus weniger blöde als er selbst. Er stockte. Nein, das war keine Täuschung. Deutlich erkannte er einen Lichtkegel, der in einiger Entfernung vorbeizog. Tony stürmte herunter und berichtete Nagib von seiner Beobachtung.

Nagib pumpte gerade Druck auf einen Benzinkocher und nickte bedächtig zu Tonys Bericht. Er war wenig beeindruckt.

»Ist Piste nach El Shab. Fahre morge El Shab, dann fahre Bir Kurayim, dann fahre Bir Safsaf, dann fahre Bir Tarfawi. Vielleicht morge Bir Tarfawi, so Allah will, und Allah ist groß, vielleicht morge nach morge, vielleicht erst später. Inschallah.«

Tony verbrachte die Nacht auf einem Feldbett und stellte wieder einmal fest, dass der alte Spruch: Die Wüste ist ein sehr kalter Ort, an dem es tagsüber sehr heiß wird seine Berechtigung hatte. Er bibberte unter seiner Decke und war dankbar über sein gut gefüttertes Jackett, das ihn vor dem Erfrieren rettete.

Nagib schnarchte unverdrossen. Subkutanes Fett isoliert bekanntlich sehr gut.

 

Am nächsten Morgen frühstückten sie ausgiebig, brachen das Lager ab und überquerten die Anhöhe. Nach einer knappen Stunde hatten sie die Piste erreicht und folgten den Reifenspuren in Richtung Südwest bis El Shab.

Nagib entwickelte die Qualitäten eines finnischen Rallyeprofis, während sich Tony an den Taxifahrer in Bombay erinnert fühlte und mit Händen, deren Knöchel weiß waren, einen improvisierten Haltegriff umklammerte. Der Wagen schwankte immer wieder und drohte auszubrechen und sich querzustellen, wenn die Reifen aus den tief eingefahrenen Spuren in lockeren Sand rutschten. Dann ließ Nagib das Lenkrad wirbeln und stieß Laute aus, als müsste er ein nervöses Pferd beruhigen. Auf jeden Fall kamen sie nun schneller vorwärts.

In El Shab vereinigte sich die Wüstenpiste mit einer anderen, die aus Richtung El Kharga kam, und führte weiter in Richtung Sudan.

Nagib hielt sich nicht lange auf. Er wirkte unruhig und misstrauisch, während Tony den Anblick grüner Palmenwipfel ebenso genoss wie die Gelegenheit, seine gemarterten Bandscheiben etwas zu dehnen.

»Müsse weiter, nicht mache Gymnastik«, befand Nagib, nachdem er den Tank gefüllt und den Motor gewartet hatte. Erst einige Kilometer hinter El Shab wurde Nagib wieder entspannter.

Tony merkte es daran, dass nun wieder die so wenig autofreundliche Landschaft beschimpft wurde. Er hatte einen Verdacht, warum Nagib so schnell aus der Ansiedlung verschwinden wollte. Ansiedlungen bedeuteten Menschen, Funkgeräte, Polizeiposten, Steckbriefe, Suchlisten – zumindest war das eine Theorie.

Am Ende dieses Tages schlugen sie einige Kilometer hinter Bir Safsaf das Lager auf.

Nagib war nicht bereit gewesen, die Nacht in der Oase zu verbringen, obwohl Tony seine gesamte Überredungskunst aufgeboten hatte.

Aber Tony hatte überhaupt nicht mit einem Erfolg seiner Argumente gerechnet. Es war eher ein Test gewesen. Er verbrachte die zweite kalte Nacht in der Wüste, lauschte auf das Schnarchen Nagibs und betrachtete den Sternenhimmel. Wenn man eine Verbindung zwischen gutem Gewissen und Schlaffähigkeit ziehen wollte, dann war an Nagibs Moral mit Sicherheit nichts auszusetzen. Vielleicht hatte er ja auch nur Angst gehabt, wegen schnarchender Ruhestörung der Oase verwiesen zu werden.

Es waren am folgenden Tag nur noch wenige Stunden Fahrt bis zu ihrem Ziel, als es geschah. Der Untergrund war über eine lange Strecke steinhart und fast ohne Geröll, eine vom ständigen Wind blank gefegte Ebene. Nagib nutzte die Chance und fuhr so schnell wie bisher noch nie auf ihrer Reise. Der Motor dröhnte rau vor sich hin, eine gewaltige Staubfahne markierte ihren Weg.

Plötzlich bemerkte Tony Tanner ein seltsames klimatisches Phänomen – eine Reihe kleiner Staubwirbel sprang auf der Seite auf und näherte sich rasend schnell dem Wagen.

Er stieß Nagib an und fragte nach der Ursache, aber Nagib bekam lediglich große Augen, brüllte mehrfach Allah u akbar und riss den Wagen in eine enge Kurve. Das Gepäck rutschte krachend auf eine Seite, der Wagen neigte sich, fuhr auf zwei Rädern, Tony rutschte von seinem Sitz, packte vergeblich nach einem Halt und musste sich in Nagibs Wanst abstützen.

Irgendwie schaffte es Nagib, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Er beteuerte die Größe Gottes unvermindert mit höchster Lautstärke, krallte sich an das Lenkrad und zog den Kopf ein, als würde er dadurch die Windschnittigkeit des Gefährts erhöhen. Mit Vollgas raste er auf eine Anhöhe zu, die mit großen Steinbrocken übersät war.

Jetzt ist mein Fahrer verrückt geworden, dachte Tony und rappelte sich mühsam wieder hoch. Dann sah er etwas, das seine Meinung über Nagibs Geisteszustand schlagartig zum Positiven wendete.

Hinter einer Geländefalte stieg ein Hubschrauber auf. Es war ein MIL 24 sowjetischer Bauart mit schwenkbarer Bugkanone und Raketenstationen unter den Stummelflügeln.

Deutlich konnte Tony den Piloten und den Waffenoffizier in ihren Kuppeln am Bug der Maschine erkennen. Und er sah deutlich, wie das MK-Rohr auf sie zuschwenkte.

Die nächste Salve sprang auf sie zu und stichelte wieder eine saubere Reihe von Sandfontänen aus dem Boden.

Nagib konnte ausweichen und erreichte die Anhöhe. Der Wagen bremste in einer Staubwolke, Nagib und Tony sprangen aus dem Wagen und sprinteten in Deckung hinter die nächsten Steinblöcke.

Tony war trotz seines besseren körperlichen Zustandes etwas langsamer, denn er hatte als Tribut an seine Erziehung die Wagentüre ganz automatisch wieder geschlossen, nachdem er herausgesprungen war, und dann war ihm klar geworden, dass das Schließen einer Wagentüre in dieser Situation so ziemlich das Blödeste war, was ein Mensch machen konnte, und er hatte die Tür wieder aufgerissen.

Er blickte sich vorsichtig um.

Der Hubschrauber flog niedrig und war jetzt fast auf einer Höhe mit ihrem Versteck. Der Waffenoffizier feuerte eine Salve. Die Schüsse kamen so schnell, dass man sie nicht mehr unterscheiden konnte. Es klang wie das Schnarren einer Kinderratsche. Die Einschüsse lagen weit oberhalb Tonys Deckung und schlugen nur Steinsplitter los, die auf ihn herunterprasselten. Dann erklang durch das Hämmern des Rotors ein Fauchen, und einen Herzschlag später nahm ihm eine Explosion den Atem. Die Rakete war ganz in seiner Nähe eingeschlagen, nur ein schwerer Felsblock, der zwischen ihm und dem Einschlag lag, hatte ihn davor bewahrt, in tausend Fetzen gerissen zu werden. Trotzdem warf ihn der Druck der Detonation nach vorne, sein Gesicht grub sich in den Wüstenstaub. Sand geriet in seinen Mund, in die Nase, in die Ohren.

Wieder das Fauchen, gefolgt von einem Heulen, als die Rakete vorbeizog, das sofort in das ohrenbetäubende Krachen des Einschlags überging.

Eine Staubwolke stieg pilzförmig auf, breitete sich aus und hüllte die Anhöhe ein. Sand rieselte herunter. Durch den Motorenlärm vernahm Tony Nagibs Hilferufe. Er raffte sich auf, schaute nach der MIL, die soeben einen Bogen flog, und hetzte gebückt in Richtung von Nagibs Stimme.

Der Ägypter lag halb unter einem Felsblock. Ein Splitter hatte seinen rechten Oberarm aufgeschlitzt. Der Sand war nass von Blut.

Tony riss sein Hemd auseinander und band die Wunde ab. Mehr konnte er nicht tun. Er hob vorsichtig den Kopf über die Kante des Felsblocks. Direkt unter ihm stand der Wagen, noch mit laufendem Motor.

Der Hubschrauber schwebte niedrig über der Ebene, sein Rotor wirbelte den Sand auf beiden Seiten zu zwei riesigen Kreisen aus Staub hoch. Dann kippte die Maschine scharf nach vorne, nahm Tempo auf und dröhnte direkt über ihnen über die Anhöhe hinweg.

Nagib begann leise zu wimmern.

Tony warf sich zu Boden und drückte sich in die Spalte unterhalb des Felsens.

Nagib hielt sich den Arm und fluchte in allerhöchster Lautstärke. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Als der aufgewirbelte Staub herabgerieselt war, herrschte eine überraschende Stille.

»Sie sind weg«, sagte Tony.

»Nicht weg, solang’ wir noch lebe«, antwortete Nagib. Er behielt recht.

Wieder wummerte der Rotor, als der Hubschrauber überraschend hinter einer Kuppe hervorstieß. Die Luft vibrierte. Der Helikopter glitt lauernd über das Trümmerfeld, in dem sich Tony und Nagib versteckt hielten, und setzte dann zu einer eleganten Kurve an. Es wirkte auf Tony wie die arrogante Vorstellung einer Bande von Motorradrockern. Diese Piloten wollten ihren Spaß haben. Sie wollten ihre Opfer, die sich wie lichtscheue Insekten in den Schatten der Felsblöcke drückten, erledigen, und sie wollten sich dabei selbst ihre Geschicklichkeit beweisen.

In Tony Tanner stieg eine besondere Art von Wut auf. Eine Wut, derer er sich nicht schämte. Eine Wut, die sein Gehirn blitzschnell Vorschläge entwickeln ließ.

Bevor er weiter rebellische Gedanken pflegen konnte, hörte er aus der Luft ein leises Fauchen und sah die weißen Streifen, die sich von den Raketenbehältern des Helikopters lösten und blitzschnell auf ihn zuwuchsen. Er zog den Kopf ein, harrte den Bruchteil einer Sekunde ebenso hilflos wie ergeben der Entscheidung, und wurde dann fast taub von der Explosion. Die Einschläge trafen nur zehn Meter unterhalb ihres Versteckes. Staubwolken wurden mit Wucht zwischen die Steine gepresst, Splitter jaulten umher und prasselten gegen den Fels.

 

Tony sprang auf. Nagib schrie etwas hinter ihm her, aber Tony verstand es nicht. Er rannte, geschützt durch den hochgeworfenen Staub auf den Wagen zu. Der Hubschrauber drehte von ihm ab. Genug

Zeit, um aus der Deckung hervorzuspringen, sich hinter den Wagen zu werfen und zum Heck zu robben. Von hier aus lugte Tony zu der Maschine.

Den Piloten ging so langsam die Geduld aus. Der Waffenoffizier ließ die Maschinenkanone schnarren. Systematisch, als wäre es eine chirurgische Sonde, wanderten die Einschläge über die Felsbrocken und in die Zwischenräume.

Tony schlug auf den Knopf der Heckklappe. Das Ding klemmte. Halb gebückt musste er ruckeln und zerren, bis die Tür aufschwang. Er riss den Werkzeugsack von der Ladefläche, wollte ihn sich über die Schulter werfen, wurde von dem Gewicht umgeworfen, raffte sich auf und schleifte den Sack in die nächste Deckung. Dort schüttete er den gesamten Inhalt heraus und packte sich die Panzerfaust.

Es war ein gutes Gefühl, sich wehren zu können, stellte er fest. Aber wie sollte er das Ding bedienen? Er musste zurück zu Nagib, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Tony griff sich die Panzerfaust und sprang gebückt zwischen den Steinen hangaufwärts.

Der WO musste die Bewegung zwischen den Schatten bemerkt haben. Die Einschläge der Maschinenkanone kamen näher und verfolgten Tony, während er am Boden zwischen den Felsblöcken kroch und seine Last hinter sich herzerrte.

»Komme hier«, hörte er Nagibs staubheisere Stimme.

Er wagte zwei, drei Sprünge, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und warf sich neben Nagib auf den Boden. Er deutete fragend auf die Waffe.

»Ist russische RPG 7«, erklärte Nagib ohne weitere Umstände. »Klappe auf Visier, lege um Sicherungsbügel, ziele durch Fadenkreuz, drücke ab und schließe Auge, weil Feuer viel hell.«

Tony folgte den Anweisungen. Dann drückte er sich hoch, legte sich das Rohr der Panzerfaust auf die Schulter, stützte den linken Arm auf die Kante des Felsblocks und nahm Ziel. Die MIL 24 stand bewegungslos in der Luft, ihnen genau gegenüber.

Die Besatzung schien zu beratschlagen, von wo sie den Todesstoß ansetzen sollte.

Tony erkannte, wie der Waffenoffizier mit dem Finger auf das Versteck deutete. Er zeigte genau in Tonys Richtung.

Tony hielt die Luft an, fixierte das Ziel, krümmte den Abzugsfinger und schloss die Augen. Er rechnete mit einem harten Rückstoß und war überrascht, als sich das Geschoss mit lautem Fauchen und fast ohne Druck auf seine Schulter löste. Das grelle Licht brannte sich durch seine geschlossenen Lider und tauchte alles in ein blutig helles Rot. Dann schlug Tony die Augen wieder auf. Farbige Punkte tanzten auf seiner Netzhaut, aber er konnte noch das weiße Licht erkennen, mit dem die Panzerfaust auf ihr Ziel zuraste. Er hatte auf die beiden Lufteinläufe der Turbinen gezielt. Er sah, wie das Licht in dem rechten Lufteinlauf verschwand und dabei Stücke der Turbinenschaufel losschlug.

Dann geschah eine Sekunde lang nichts, eine endlos lange Sekunde schwebte der Hubschrauber weiterhin über der Senke. Der Rotor hämmerte in der heißen Luft, die Turbinen heulten.

Und dann zerfetzte eine Explosion das Oberteil des Helikopters, Teile des Rotors lösten sich und wurden mit boshaftem Pfeifen fortgeschleudert, das Turbinengeräusch ging in ein schrilles Kreischen über und wurde von einer Reihe von Detonationen übertönt. Die MIL bäumte sich auf wie ein getroffenes Tier und sackte nach unten. Sie traf mit dem Schwanz auf den Boden auf, der Heckrotor wühlte sich in den Boden und spie Steine und Staub zur Seite, bevor er zerbarst. Dann schlug der Rumpf auf, eine weißliche Wolke wirbelte hoch, in die sich der ölige Rauch brennenden Kerosins mischte.

 

Nagib stand auf und stellte sich neben Tony. Beide Männer waren von Staub überpudert.

Ihre Gesichter wirkten seltsam starr, als wären sie für ein traditionelles asiatisches Bühnenstück geschminkt. Nur die Augen waren lebendig und zeugten von Anspannung, Furcht, und nun von Triumph. Schweißbäche malten Muster auf die staubige Haut.

»Ist gut Treffer«, konstatierte Nagib. »Halte nur Kopf unte, weil gleich alles explodiere.«

Das Wrack war jetzt klar zu erkennen. Das Heck war zusammengeschoben, der Rumpf lag halb im Boden eingegraben auf der Seite, aus der zerborstenen Turbine quoll Rauch. Das Krachen und Knistern der Flammen war deutlich zu hören.

Tony stieß einen überraschten Ruf aus. Die Seitentür wurde aufgeschoben, ein Mann zog sich hoch, stürzte über die Kante des Rumpfes auf den Boden und kroch strampelnd von dem Wrack weg. Tony drehte sich zu Nagib. »Wir müssen zu ihm hin.«

»Nicht nötig zu ihm, stirbt schon von alleine.«

Tony brauchte kurze Zeit, um zu verstehen, was Nagib meinte. »Ich will ihn nicht umbringen, ich will ihm helfen.«

Nagib schüttelte den Kopf über so viel Sentimentalität. »Du bleibe hier, gleich gehe hoch Munition das ist an Bord.«

Aber Tony war schon auf dem Weg nach unten. Der schwarze Rauch drang jetzt überall aus den Löchern und Spalten des geborstenen Rumpfes, kleine schwarze Fäden, die sich wie eine Flüssigkeit über die Metallhaut schlängelten. Im Innenraum prasselten die Flammen hoch. Die Hitze bildete einen Ring aus glasig trüber Luft um das Wrack.

Tony legte eine Hand schützend vor das Gesicht und zwang sich selbst Schritt für Schritt näher an den Mann. Er erreichte ihn, packte ihn am Kragen und schleifte ihn im Rückwärtsgang fort, bis er einen

Stein erreicht hatte, in dessen Deckung er den Mann ablegte. Er blickte zurück zum Wrack und wünschte im nächsten Moment, er hätte sich diesen Blick erspart. Denn er sah die eingeklemmte menschliche Gestalt, die sich in der vorderen Glaskanzel, oberhalb der Maschinenkanone zusammenkrümmte und gegen das Panzerglas hämmerte. Es war nur eine Sekunde, ein unwirklicher Moment, als würde ein Film in die Wirklichkeit eingespielt, dann wehte wieder Rauch vorbei und nahm Tony die Sicht.

Tony stand mit hängenden Armen da. Zu seinen Füßen lag der Pilot und stöhnte. Sein Gesicht war rauchgeschwärzt, aber er schien äußerlich unverletzt zu sein. Tony kniete sich und schaute das Gesicht genauer an. Asiatische Züge stellte er fest, ein ehemaliger Sowjetsoldat vielleicht. Ein Söldner – aber wer wollte beurteilen, welche Umstände ihn angetrieben hatten?

Tony zögerte, dann rannte er zu dem Seesack, aus dem er die Panzerfaust geholt hatte. Die Werkzeuge waren im Sand verstreut, Schraubenschlüssel, Zangen, ein undefinierbarer Gegenstand in einer Hülle aus schmutzigem olivfarbenen Tuch, Isolierband, Drähte und anderes. Er griff sich ein Brecheisen und rannte zurück, auf die Überreste des Hubschraubers zu. Die Hitze, die das Wrack umhüllte, war wie eine solide Mauer. Zwei, drei Mal krachte es, als erste Patronen der Maschinenkanone explodierten.

Alles in Tony drängte zur Flucht, aber als wäre er eine frisch aufgezogene mechanische Puppe, schritt er steifbeinig weiter. Es war kein Mut, der Tony Tanner antrieb, sondern eher eine Art spießbürgerlicher Halsstarrigkeit. Er hatte sich etwas vorgenommen, und das führte er nun zu Ende.

Die vordere Kuppel des Helikopters war mit grauem Rauch gefüllt. Durch dessen Schleier waren die dunklen Umrisse eines Mannes erkennbar, der sich wie eine Schlange drehte und wendete. Das waren keine Fluchtversuche mehr, sondern nur noch die hilflosen Zuckungen eines Erstickenden. Tony ließ sein Brecheisen auf die Kuppel niederkrachen. Das beschussfeste Material zeigte keinen Kratzer, stattdessen wurde das Brecheisen zurückgeschleudert und flog ihm fast aus der Hand. Er versuchte es an einer anderen Stelle. Wieder nichts.

Tony keuchte. Der Gestank verbrennenden Gummis machte das Atmen schwer und legte sich wie eine erstickende Hand auf Nase und Mund. Er wechselte den Griff und schlug gezielt mit der Spitze gegen die Kuppel. Wieder kein Erfolg. Aber neben seinem Bein krachte es, und eine Kugel durchschlug die Außenhaut des Hubschraubers, ein zackiges Kraterloch zurücklassend und pfiff davon.

Es hatte keinen Sinn, weiterhin wie wild auf die Kuppel zu hämmern. Er musste nachdenken. Aber wie sollte er nachdenken, wenn jetzt schon wieder eine Folge von Schüssen krachte und Löcher in den Rumpf hämmerten, aus denen Rauch quoll.

Seine Augen tränten. Fast blind tastete er an der Kuppel entlang. Dann war unter seinen Fingerspitzen ein Rand, eine Leiste, dann ein Spalt. Tony zwinkerte mit den Augen, bis er durch Rauch und Tränenflüssigkeit die Stelle sehen konnte. Durch den Aufprall hatte sich hier zwischen Kuppel und Rumpf ein Spalt aufgetan. Tony schob das Brecheisen in den Spalt, drückte es tiefer hinein und warf sich mit seinem gesamten Gewicht auf das Werkzeug.

Die Kuppel knackte und knisterte, dann sprang sie mit plötzlicher Wucht auf. Er beugte sich durch den aufquellenden Rauch nach vorn, seine Hand quirlte den stinkenden Rauch, schlug schmerzhaft gegen harte Gegenstände und schnitt sich an einer messerscharfen Zacke. Aber er machte weiter und bekam etwas Weiches zu fassen.

Tony zog, zuckte, zerrte und konnte den Oberkörper des Eingeschlossenen nach vorne ziehen. Er warf das Brecheisen weg, schob seinen Kopf unter die Achsel des Mannes und trug ihn schwankend von dem Hubschrauber weg. Die Last drückte ihn fast zu Boden. Mit jedem Schritt schien er fast bis zu den Knien einzusinken. Er biss die Zähne zusammen, und innerlich heulte er vor Wut wie ein ganzes Wolfsrudel über seine verdammte körperliche Schwäche. Jetzt wollte er nicht mehr aufgeben, jetzt nicht mehr. Noch ein Schritt, dann darf ich zusammenbrechen, fuhr es ihm durch den Kopf und dann … Ätsch, reingefallen, jetzt noch ein Schritt. Er presste sich Schritt für Schritt ab, wie eine Mutter, die Löffel für Löffel ekelhaften Spinatbrei in die unwilligen Münder ihrer Bälger praktiziert. Er taumelte, bekam seine Bewegungen wieder unter Kontrolle – dann explodierte ein Raketengeschoss, zündete die restlichen Geschosse und brachte den Treibstoff zur Detonation. Es war ein betäubender Lärm, eine Welle von Feuer und Hitze und eine Druckwelle, die Tony mitsamt dem Mann auf seiner Schulter fortschleuderte wie Strohpuppen und ihnen damit das Leben rettete. Denn als Tony wieder zu sich kam, lag der Mann immer noch über ihm, aber über dem Mann war eine schwere Schicht von Sand, Staub und kleinem Geröll, und darüber lagen zerfetzte, glühende Teile des Hubschraubers.

Tony spuckte Sand und schnaubte sich unter Missachtung seiner guten Kinderstube in die Handfläche. Dann bemühte er sich, das Gesicht des Mannes vom Staub zu befreien. Der Mann atmete noch, aber die schwarze Rußschicht unter seinen Nasenlöchern machte unmissverständlich klar, dass seine Lunge von dem giftigen Rauch angegriffen war.

Der Hubschrauber war verschwunden. Ein qualmender schwarzer öliger Fleck markierte die Absturzstelle. Überall in der Senke und auf den anliegenden Höhen lagen Trümmerteile.

Tief atmete Tony die Luft ein, die heiß und stickig war, aber frei von dem beißenden Gummigestank, der ihm noch immer auf der Zunge haftete wie ein bräunlicher Belag. Er richtete den Oberkörper des Mannes auf, fasste ihn unter den Achseln und schleifte ihn zum Wagen. Dann stockte er, schaute sich um, ließ den Mann fallen und rannte auf den Wagen zu. Er rannte auf Nagib zu der, sich immer noch den blutenden Arm hielt und mit dem anderen wütende Gesten der Abwehr machte und dabei lauthals fluchte. Und er sah den Piloten, der einen schweren Schraubenschlüssel schwang und Nagib zu treffen versuchte.

Nagib wich geschickt aus, aber es war dennoch deutlich, wer in diesem Kampf die Initiative innehatte.

Tony näherte sich den beiden Männern. Seine Knie waren weich wie Pudding. Ihm war klar, dass er keine Chance gegen den Piloten hatte, egal, in welchem Zustand der auch sein mochte.

Nagib machte erneut einen Sprung nach hinten, wobei sein Bauch wie ein absurdes Anhängsel schwabbelte. Er erblickte Tony und begann zu schreien: »Nehme Pistole aus Werkzeug. Mache schnell.«

So schnell er konnte stolperte Tony zu dem Werkzeug, das immer noch auf dem Boden verteilt war. Wo sollte darin eine Pistole sein? Er hatte doch den gesamten Seesack geleert und keine Pistole gefunden. Inzwischen trottete Tony nur noch wie ein erschöpfter Tanzbär, während die Gedanken wie zähflüssiger Sirup durch sein Hirn rannen. Wenn Nagib sagte, er solle die Pistole nehmen, dann musste eine Pistole da sein. Wenn er keine Pistole bemerkt hatte, dann musste die Pistole nicht so aussehen, wie eine Pistole sonst aussieht, die einer Pistole ähnelt, sondern die Pistole musste aussehen wie etwas, das nicht wie eine Pistole aussieht. Aber eine Zange sah nicht nur nicht aus wie eine Pistole, sie war auch keinesfalls eine Pistole, also fielen bei der Suche schon die meisten Gegenstände aus – Tony starrte auf die verstreuten Dinge im Sand. Da – das Tuch – er beugte sich danach, kippte in seiner Erschöpfung fast vornüber und bekam einen Tuchzipfel zu fassen. Er zog, und aus dem Tuch wickelte sich eine schwere, mattschwarz schimmernde Pistole.

 

Hinter sich hörte er Nagib schreien. Tony nahm die Waffe in die Hand und wog das Gewicht mit der Handfläche. Nagibs Schreie wurden dringlicher. Tony fuhr herum und sah den Piloten, den Schraubenschlüssel über den Kopf schwingend, auf sich zulaufen. Er hob die Waffe und drückte ab. Der Hahn fuhr klackend herab, kein Schuss löste sich. Sein Gegner hatte sich in den Sand geworfen, als er die Pistole erblickt hatte, sprang jetzt aber wieder auf.

Plötzlich wirbelten die Gedanken wieder durch Tonys Kopf. War die Waffe überhaupt geladen? Man musste die Waffe entsichern – aber wie? Es gab nur den einen Hebel auf der rechten Seite der Waffe, den er umlegen konnte. Man musste eine Waffe durchladen. Er zupfte am Oberteil der Pistole und zu seinem Erstaunen ließ sich der Schlitten zurückziehen und sprang zurück in seine Position, als Tony losließ. Aus den Augenwinkeln sah er den Schatten des Gegners auf sich zukommen. Es gab keine Zeit zum Überlegen. Tony hob die Pistole, umklammerte mit der linken die rechte Hand, zielte über Kimme und Korn und drückte ab.

Der Schuss bellte los. Der Mann, der knapp zwei Meter vor Tony war, wurde an der Schulter getroffen. Der Schuss warf ihn zurück und schleuderte ihn zugleich in die Luft, als hätte ihm jemand von hinten die Beine weggetreten. Der Mann schrie.

Auch Tony schrie, denn nach dem Schuss war die Pistole nach oben gesprungen und hatte ihm mit ihrem brutalen Rückschlag fast den Daumen gebrochen. Er ließ die schmerzenden Handgelenke sinken, und die Waffe wäre zu Boden gefallen, wäre nicht in diesem Moment Nagib da gewesen, um sie an sich zu nehmen, zu entsichern und mit liebevoller Sorgfalt in ihr Tuch einzuwickeln.

»Was du warte? Helfe lieber aufräume, stehe rum, du mache später, wenn Bir Tarfawi«, rief Nagib.

Also machte sich Tony ans Aufräumen. Dazu gehörte es auch, dem Piloten, den er abgeschossen, gerettet und wieder angeschossen hatte, zu verbinden. Der Mann hatte einen glatten, aber ziemlich großen Durchschuss an der rechten Schulter. Die Wunde an sich war nicht einmal gefährlich, aber der Blutverlust konnte dem Mann das Leben kosten.

Nagib hatte einen erstaunlich gut sortierten Verbandkasten – sozusagen das menschenfreundliche Pendant zu seiner Waffensammlung, wie Tony sich selbst sagte, und so gab es genügend Mull, um die Blutung aufzuhalten und einen provisorischen Verband anzulegen. Dann verstaute Nagib die beiden Verletzten auf den Vordersitz. Tonys Platz war jetzt im Gepäckraum.

»Du wolle rette diese Kerlen – du ihnen gebe deine Platz«, befand Nagib und gab noch eine Anweisung. »Wenn Kerlen aussehe mache Ärger, dann du spalte Schädel mit Werkzeug. Und nicht erst diskutiere, du schlage sofort! Und danach nicht eine dritte Mal rette Kerlen! Bringt Unglück!«

Auf der Fahrt schaute Nagib zu Tony zurück, der sich auf den schmerzenden Daumen blies. »Guter Schuss du mache. Ist Pistole ist Colt Kaliber .45. Ist gute Waffe, Waffe für Männer.« Sein Daumen wurde langsam dick und zeigte eine interessante Farbskala, die von Grün nach Blau verlief. Zumindest Tonys Daumen war nicht genug Männer-Daumen für diese Form von tragbarer Artillerie. Aber es gab wichtigere Körperteile, an denen sich Männlichkeit beweisen ließ, meinte zumindest Tony. Jedenfalls nahm er sich vor, im weiteren Verlauf seines Lebens den Handfeuerwaffen Kaliber .45 mit größerer Vorsicht zu begegnen.

 ***

Bir Tarfawi war nach einigen Stunden erreicht. Es gab eine medizinische Station, in die sie die beiden verletzten Hubschrauberpiloten brachten. Nagib überschwemmte den Mann, der sich als eine Art von Verwaltungschef herausstellte, mit einer Flut von Erklärungen und Gesten. Es war allerdings Tony, der mithilfe einer Scheckkarte und der schriftlichen Erklärung, dass er im Namen des Scheckhalters alle Behandlungskosten übernehmen würde, die düstere Miene des Bürokraten heiter werden ließ. Die Verwundung Nagibs wurde mit einigen Stichen genäht.

Inzwischen zog Tony Erkundigungen über die Ausgrabungen an. Das stellte sich als wesentlich leichter heraus, als er befürchtet hatte. Wenn von Puttkammer auch in der übrigen Welt ein Geheimnis um seine Ausgrabungen machte, aus Bir Tarfawi rekrutierte er seine Arbeitskräfte und unterhielt ein kleines Lager mit Versorgungsgütern.

Man erklärte Tony, dass in drei Tagen ein Lastwagen zur Ausgrabungsstelle fahren würde. Es handelte sich um den regelmäßigen Versorgungsdienst, mit dem auch Arbeiter zur Ausgrabungsstelle gebracht wurden.

Drei Tage in dieser Oase zu warten, schien Tony keine gute Idee zu sein. Nachdem die Aufregung der Fahrt und des Kampfes sich langsam legte, nachdem er ausführlich geduscht hatte und sich seinen Mitmenschen nähern konnte, ohne Angst zu haben, schon weit außerhalb der Sichtweite am Geruch erkannt zu werden, und nachdem er sich eine Mahlzeit von noch größerer Ausführlichkeit gegönnt hatte, spürte er eine nagende Unruhe. Etwas pochte und trieb ihn vorwärts, ohne dass er diese Unruhe in Worte fassen konnte.

Zu seinem Schrecken fand er Nagib in einem Krankenbett liegend wieder. Die Wunde hatte sich entzündet, und nun hatte sein Fahrer starkes Fieber. Zuerst sorgte Tony mit einigem Bakschisch dafür, dass Nagib wie in einem erstklassigen Hotel versorgt würde.

Der Ägypter lag in seinem Bett, den Oberkörper von einigen Kissen gestützt. Als Tony das Zimmer betrat, ließ Nagib die Illustrierte, die er gerade durchgeblättert hatte, blitzschnell unter der Decke verschwinden. »Ah, du bist«, stellte er dann bei Tonys Anblick befriedigt fest und holte das Heft wieder heraus. Es handelte sich um ein Exemplar des Hustler aus dem Jahre 1981, dem man ansah, dass es schon durch mehrere Generationen hormonverscheuchter schwitziger Männerhände gereicht worden war. Nagib sah trotz dieser anregenden Lektüre schlecht aus. Die wenigen Haare waren von Schweiß wie angeklebt, in seinem Gesicht waren tiefe Falten, die Tony bisher noch nicht bemerkt hatte, und unter den Augen lagen dunkle Ringe.

»Ich Fieber«, erklärte Nagib. »Fieber weg in zwei, drei Tage, dann Nagib wieder stark wie Hengst von Kamel.« Er schaute Tony an und schien seine Gedanken zu erforschen. »Du nicht wolle warte und ich nicht könne fahre. Nicht schlimm. Nagib kenne Mann, der dir vermiete Land von Rover. Dann du fahre allein. Piste ist markiert mit Stöcken, du nicht könne dich verirre. Fahrt nicht lang, vier Stunde, wenn viel. Kein Problem. Du fahre allein. Du gehe zu Mann, und sage, du komme von Nagib. Dann er dir nicht gebe Schrottauto, sondern Land von Rover.«

 

Der Landrover war nicht so neu, wie Nagib es beschrieben hatte, aber er wirkte vertrauenswürdig genug.

Tony stellte den Wagen vor dem Haus ab, in dem er die Nacht verbrachte, und machte sich am nächsten Morgen ohne Verzögerungen auf den Weg. Allerdings erkundigte er sich vorher noch nach Nagibs Befinden. Man machte ihm klar, dass Nagibs Appetit groß war. Sehr groß. Er esse und esse. Tony verstand, und zwei mittlere Geldscheine wechselten die Besitzer. Daraufhin versicherte man ihm, dass sich auf baldige Besserung Nagibs hoffen ließe. Die beiden anderen Männer waren in einem weniger guten Zustand. Der eine hatte viel Blut verloren, bei dem anderen musste sich das gesamte Atemsystem erst erholen. Ihr Zustand war nicht rosig, aber stabil.

Tony steckte den Kopf zu den beiden herein. Der eine erkannte ihn, wandte aber seinen Blick nach innen und zeigte keine weitere Reaktion.

 

Tony Tanner hatte sich niemals der typisch männlichen Eitelkeit überlassen, sich für einen guten Autofahrer zu halten. So stieß er bald an die Grenzen seiner automobilistischen Ambitionen, als ihm der Wagen ständig aus der Spur lief, das Lenkrad gegen seinen demolierten Daumen schlug, und jedes Schlagloch seine Bandscheiben zu irreparablen Schadensfällen zusammenzustoßen schien. Er reduzierte die Geschwindigkeit und kroch mehr, als dass er fuhr. Aber er hatte für die Fahrt genügend Zeit, und nun ließ sich die Piste besser ertragen. Er brauchte keine Angst haben, sich zu verfahren, denn der Weg war durch Reifenspuren deutlich gekennzeichnet. Zudem standen längs der Piste hohe Holzpfähle, sodass er immer mindestens zwei dieser Peilpunkte vor sich hatte, egal ob er sich in einer Senke oder auf einer Anhöhe befand.

Nach drei Stunden Fahrt hielt er auf einer Höhe an und schaute sich um. Die Wüste erstreckte sich in eintöniger Weite bis an den Horizont. Es gab nichts, was dem Auge einen Halt gegeben hätte. Der Blick glitt über dunkelbraune Wellen bis an den Horizont, als würde er auf einer glatten Eisfläche ins Rutschen kommen. Man konnte hier sein, aber auch woanders – auf der nächsten Geländefalte oder hinter dem Horizont – es würde keinen Unterschied machen. Man konnte gehen, tagelang, und sich dennoch nicht weiterbewegen, denn die Wüste veränderte sich nicht. Man konnte gehen und die einzigen Veränderungen, die sich abspielten, fanden in der Seele des Wanderers statt. Vielleicht gewann er an Stärke, an Einfachheit, vielleicht schliff er allen überflüssigen Zierrat von sich ab, jede eitle Hoffnung, jeden morschen Traum, jedes verlogene Bild von sich selbst, so wie der Wind der Wüste die Felsen auf ihre nackte Form reduzierte.

Am Ende mochte dieser Wüstenwanderer zu etwas werden, was einem wertvollen Schwert ähnelte – hart, glänzend, unbestreitbar in seiner Einfachheit und Vollkommenheit. Ein Mensch, an dem sich die Umstände des Daseins teilten wie eine reife Frucht. War es ein Zufall, dass drei große Religionen in der Wüste entstanden waren? Nun ja, sagte sich Tony Tanner, die größere Wahrscheinlichkeit war wohl, dass die Menschen abstumpften, sich in die sicheren Hürden der eigenen Tradition zurückzogen oder schlichtweg verrückt wurden. Es fiel ihm nicht schwer, wenn er auf dieser Anhöhe stand und die Einsamkeit in sich einsickern ließ, von Ferne das erste Wimmern des Wahnsinns zu hören. Es brauchte nicht viel in dieser Stille, durch die der Wind winselte, in dieser Landschaft, in der er ein Eindringling war, allein schon, weil er ein lebendiges Wesen war.

Die Frage stieg wieder in ihm hoch. Was hatte einen ägyptischen Herrscher in dieses Land getrieben? Und was hatte seine Leute bewogen, ihrem Herrn zu folgen, selbst wenn er sie in dieses grauenerregende Nichts aus Hitze, Wind, Sand und Geröll führte? Vielleicht würde er es einmal erfahren. Er ging zurück zu seinem Wagen und blieb dann wie angewurzelt stehen.

Der Horizont hatte sich verdüstert. Über den halben Himmel verlief ein Vorhang von dunkelbrauner, schmutziger Farbe, und dieser Vorhang schwebte näher und näher an ihn heran. Ein Sandsturm, dachte es in Tony Tanners Kopf, und dann hörte er, wie seine Gedanken alles Mögliche herunterrasselten, was er je über Sandstürme gelesen oder gehört hatte. Aber all das fand in einem anderen Zimmer stand und es war, als stünde Tony in einem Nebenraum und höre das Gemurmel der eigenen Gedanken, während er selbst nur, gebannt, erstarrt, auf diesen gigantischen Schleier sah, der auf ihn zuschwebte.

Er spürte etwas Gigantisches, eine Kraft von unaussprechlicher Heftigkeit, die jeden menschlichen Fluchtversuch durch seine schiere Lächerlichkeit schon im Ansatz vereiteln musste. Tony empfand die Schlaffheit, die durch seine Glieder rieselte, das Weiche, sich Ergebende eines Tieres, das sich unrettbar in den Krallen seines Jägers weiß. Es hatte doch alles keinen Zweck mehr. Der Schleier schleifte über die Wüste, langsam, aber mit einer Notwendigkeit, die jenseits aller Bestreitbarkeit lag. Tony sah, wie Sandwirbel aus dem Boden schossen, wieder zusammensanken und sich dem Schleier einschmiegten. Dann riss er sich aus seiner Lethargie, sprang in den Wagen, startete den Motor und fuhr herunter in die enge Senke, in der er etwas Schutz zu finden hoffte.

Er hatte eben die Senke erreicht, den Wagen in Richtung auf den nächstgelegenen Markierungspfahl ausgerichtet und den Motor abgestellt, als der Sturm über ihn kam. Tony hatte nicht mit dieser Plötzlichkeit und nicht mit dieser Heftigkeit gerechnet. Es wurde schlagartig dunkel, der Wagen begann unter der Wucht der Windstöße leicht zu schwanken. Das Heulen des Windes steigerte sich zu einem schrillen Kreischen und Wimmern. Durch die Ritzen der Türen drang Sand.

Bald spürte Tony Sandkörner im Mund und auf der Nasenschleimhaut. Er zog sich eine Decke, die auf dem Rücksitz lag, über den Kopf und wartete ab, in dieser lächerlichen Verkleidung, die ihn wie eine alte Bettlerin an einer Straßenecke aussehen ließ, die schon längst aufgegeben hat, um Mitleid zu buhlen und sich nur noch resigniert dem Vergehen der Zeit anheimgibt.

So saß Tony Tanner und wartete auf das Ende des Sturmes. Das Warten hatte noch etwas von einer Tätigkeit, einer Aktion, einer bewussten Handlung. Aber das Heulen des Windes hielt an, schien sich sogar noch zu steigern. Es schmerzte in den Ohren, es verwirrte die Gedanken, es griff nach den Bildern im Kopf und begann, diese Bilder neu zu formen.

Schließlich wurde der Lärm zur Stille, zum Hintergrund, zu einer weißen Wand kreischender Geräuschlosigkeit, vor der die Schemen verdrängter Ängste zu tanzen begannen.

Und Tony Tanner hörte auf zu warten. Er hörte auf, weil es nichts mehr gab, was er tun konnte, weil er ebenso erstarrt, gelähmt, fixiert war wie beim Anblick der Sturmfront.

Der Sturm griff nach ihm. Er setzte sich mit seinem Sand in Tonys Augen fest, er bildete einen Belag auf der Zunge, knirschte zwischen den Zähnen, klebte unter den Nasenlöchern, saß in den Ohren. Es gab keine Fluchtmöglichkeit, kein Schwimmen gegen diese Strömung. Es gab nur den Sand, als würde der Sturm die Landschaft bis auf das Skelett ausweiden und das Fleisch in kleine Sandkörner verwandelt über die Welt verteilen. Es gab nur den Sturm, die Welt mit seinen Regeln überzog, Regeln, die ein Mensch nicht begreifen konnte, Regeln, die den Menschen ignorierten. Für den Menschen gab es nur das Nichts, die Vernichtung, die Verneinung jeden Lebens, jeden Gedankens, jeder Empfindung.

 

Die hoffnungslose Gewissheit seiner völligen Fremdheit in dieser Welt überkam Tony. Er konnte sich an das bisschen Verstand klammern, das ihm noch geblieben war. Er konnte versuchen, sich Gedichte in die Erinnerung zu rufen oder sich den Weg von seiner Wohnung bis zu der nächsten U-Bahn-Haltestelle vorzustellen. Aber was garantierte ihm, dass er nicht in Wirklichkeit schon wie ein Säugling vor sich hinbrabbelte? Er saß hier wie in einer Raumkapsel, ohne Verbindung zu irgendeinem anderen Menschen. Aber was dort draußen stattfand, war kein Weltraum mit eindeutig festgelegten Gesetzen. Es gab dort draußen, in dem Imperium des Sturmes, keine Gewissheit, keine Gesetzmäßigkeit, keine Wahrscheinlichkeit, keine Berechenbarkeit, keine wissenschaftliche Wahrheit. Es gab da draußen eine Kraft, die tobte, zerstörte und zerschlug, weil es ihr so behagte.

Hinter die Bilder, die er sich vor Augen rief, hinter das Gesicht von Francine, hinter die Stimme von Dorkas mit seinen Theorien und Deutungen, drängte sich etwas anderes.

Tony versuchte, es zu ignorieren, aber es wurde fester und deutlicher. Er schüttelte den Kopf, öffnete die Augen und schaute in die Dunkelheit. Aber da war es auch. Er konnte ihm nicht entfliehen. Was er sah, war die Fratze eines Dämons, die er einmal in einem Museum gesehen und dann wieder vergessen hatte. Nun erinnerte er sich wieder, die verzerrte Fratze eines assyrischen Sturmdämons. Die Karikatur eines menschlichen Gesichtes – löwenartig, als wären zwei Fotografien übereinander geschoben worden – von ungehemmter Boshaftigkeit, der die Anklänge an menschliche Züge nur als letzte Bestätigung dienten. Glückliche Zeiten, in denen er, den Katalog unter dem Arm, an derartigen Exponaten vorbeigehen konnte, um sie alsdann bei einem Kaffee in dem Museumsrestaurant zu vergessen. Aber vielleicht war es ja ganz anders. Vielleicht waren die Besucher die Ausstellungsstücke und die uralten Dämonen und Götterstatuen die Betrachter. Vielleicht hatte der Sturmdämon Tony nicht vergessen.

Vielleicht war er jetzt gekommen.

Aber auch dieses Bild verschwand und bald sehnte sich Tony nach dieser Fratze, nach diesem fassbaren, festen, anschaulichen Bild. Denn nun blieb nichts mehr, nur das Wissen um das Nichts, das draußen tobte und das ihn vernichten würde. Es würde ihn vernichten, weil er das Nichts nicht ertragen könnte. Er würde sich selbst auflösen, aus Furcht, aus Entsetzen, aus Verzweiflung. Und dann begann Tony Tanner, etwas zu verstehen.

Eine Ahnung überkam ihn, warum sich die Menschen dieser Wüsten den harten Gesetzen ihrer Religion so willig unterworfen hatten. Er konnte ihre Bitten vernehmen: Lass uns deine Geißel verspüren, oh Herr, denn der Schmerz macht uns lebendig. Fessele uns mit deinen Geboten, fordere das Opfer der Erstgeborenen, dürste nach dem Blut, das wir uns dir zu Gefallen aus den Armen schneiden, knechte uns mit Regeln und Vorschriften und Tabus, beuge uns unter das Joch deiner harten Gesetze, die uns die Tage sauer machen – aber überlasse uns nicht diesem Nichts, treibe uns nicht in die Formlosigkeit, weise uns nicht aus dem Garten deiner Zwänge in das Reich dessen. Und Tony verstand, was sie mit dessen meinten. Seth, den Herrscher der Wüste, dessen Gesetz die Gesetzlosigkeit ist, den Leugner aller heiligen Gebote, den Zertrümmerer der Städte und den Verwüster der Felder. Seth, der viele Namen trägt und keinen, Seth, der viele Gesichter hat und keines. Seth, der die Erde zum Schrecken macht und der die Unterwelt beherrscht, wenn die Seelen der Unvorbereiteten ihren Weg suchen. Seth, der Verschlinger.

 

Langsam drang eine Stille in Tonys Bewusstsein, die anders war. Er lauschte und war sich unsicher, ob es das Dröhnen in seinem Gehör war oder das Toben des Sturmes oder die Stille.

Er warf die Decke zur Seite. Sand rieselte auf den Sitz. Es war dunkel. Aber es war auch still. Er schaute auf die Fenster und stellte fest, dass der Wagen unter Sand begraben war. Die Türen ließen sich nicht öffnen. Er warf sich gegen die Türen, drückte mit den Beinen dagegen. Aber sie bewegten sich keinen einzigen Millimeter.

Wie tief mochte er im Sand stecken? Eine dünne Schicht, die gerade nur das Dach bedeckte? Oder war er unter einer neu entstandenen Sanddüne eingeschlossen? In diesem Fall war er verloren. Dann brauchte er nur noch abzuwarten, bis er erstickte, oder wenn wider Erwarten genügend Luft zu ihm durchdränge, dann hätte er die Gelegenheit, sein eigenes Verhalten während des Verdurstens zu studieren. Er brach den Gedankengang ab, wie ein Techniker, der ein Stromkabel kappt, und begann, wieder an der Tür zu rütteln. Er riss und zerrte, bis ihm die Muskeln schmerzten und die Hände kraftlos wurden. Unter Wasser hätte er die Scheiben herunterdrehen und einen Druckausgleich herbeiführen können, um dann die Türen zu öffnen.

Unter Wasser! Der Durst brannte in seiner Kehle, bei jedem Lidschlag schien Sandpapier über seinen Augapfel zu reiben. Tony Tanner riss, zerrte, hämmerte, trat. Aber er blieb eingeschlossen.

Ihm wurde langsam schwarz vor den Augen.

Wie lange mochte er in Bewusstlosigkeit verharrt haben, als schließlich die Halluzinationen kamen. Er sah vor sich das Gesicht eines Mannes, eines rotgesichtigen Mannes mit einem gewaltigen blonden Schnurrbart, das sich an die Seitenscheibe drückte.

»Das ist unter Garantie ein Engländer. So bedauernswert blöde kann nur ein Engländer sein.« Die Halluzination sprach mit ausgeprägtem schottischem Akzent. »Natürlich kann das nur ein Engländer sein, Schotten sind doch so doof, dass sie auf ihre hässliche Fresse fallen, sobald sie sich auch nur einen Schritt aus den Highlands herauswagen.«

Diese Stimme war derart snobistisch englisch, wie man es sonst nur auf Studentenbühnen in der Umgebung von Oxford hörte.

»Dann wollen wir mal«, sagte die schottische Halluzination.

Tony hörte das Geräusch von Schaufeln an der Blechhaut des Landrovers und das Ächzen angestrengter Arbeit. Schließlich riss jemand die Seitentür auf. Tony Tanner atmete mehrmals tief ein.

»Kommen Sie junger Mann, hereinspaziert in diese schöne Welt.«

Die Sonne stand schon tief, dennoch blendete ihre Helligkeit Tonys Augen. Er hielt sich die Hand schützend vor das Gesicht und schaute sich um. Er sah eine Gruppe von Männern, zwei Frauen und drei Geländewagen. Die Leute schauten ihn erwartungsvoll an.

Tony zuckte die Schultern. »Ich hatte noch eine halbe Stunde auf der Parkuhr. Da konnte ich doch nicht einfach losfahren.«

Es waren zwanzig Zentimeter der Funkantennen gewesen, die Tony gerettet hatte. Soviel ragte noch aus dem Sand heraus. Aber das reichte, um den Blicken des Adrian Mac Morley (»Mac Morley von DEN Mac Morleys, Herr Tanner!«) aufzufallen und die Rettungsaktion einzuleiten. Es gab der Geschichte eine gewisse Würze, dass zu den gewaltigen Funkantennen kein Funkgerät mehr vorhanden war und der Besitzer sie nur aus ästhetischen Gründen – um den Begriff Angeberei zu vermeiden – am Wagen gelassen hatten.

Man zog Tonys Landrover aus der Düne, dann setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung. Tony sollte sich anschließen, was er auch dankbar tat. Nach einer Stunde bogen die vor ihm fahrenden Wagen von der Piste ab und bildeten einen Kreis, den Tony mit seinem Wagen vervollständigte. Nun standen sie wie die alten Pioniere mit ihren Planwagen. Tony wurde zum Abendessen eingeladen, zu dem er außer einigen Litern lauwarmen Wassers nichts beisteuern konnte. Aber Wasser war wertvoll genug, um als vollwertiger Beitrag anerkannt zu werden. Er setzte sich in den Kreis zu anderen, bekam seine Suppe, die aus nicht näher bestimmbaren Trockenrationen zusammengekocht war, aber dennoch akzeptabel schmeckte, und schaute sich seine Begleiter an.

Bisher hatte er dazu wenig Gelegenheit gehabt. Es gab zu viele Dinge zu erledigen, und dann drängte der Führer der Gruppe zum Aufbruch. Das war der Mann mit dem Studentenbühnen-Zungenschlag. Er hatte sich als Hal Hornsby vorgestellt. Hornsby bildete dem Aussehen und dem Alter nach so etwas wie das statistische Mittel seiner Reisegruppe. Er ging auf die Vierzig zu oder hatte zumindest die jugendlich-frischen Ufer der Dreißig schon verlassen, er war schlank mit jener Taillenweite, die verriet, dass ihm diese Schlankheit schon etwas Mühe abverlangte. Er war unrasiert. Die Stoppeln gaben seinem Gesicht weder einen Anflug von Männlichkeit, noch wirkte diese Kinnbehaarung abenteuerlich, sondern sie hatten eher etwas Peinliches, wie ein übersehener Dotterfleck vom Frühstücksei auf der Seidenkrawatte eines Lateinlehrers.

Tony Tanner brauchte dreißig Sekunden, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass ihm der Anblick eines Eishockey-Feldes in dieser Wüste weniger absurd erschienen wäre, als das Auftauchen – so sehr er es in jeder Sekunde segnete und pries – eines Mannes wie Hal Hornsby. Die anderen Männer passten in dasselbe Schema. Die Frauen boten auch keinen Lichtblick. Vielleicht waren sie einmal hübsch gewesen – Tony Tanner benutzte in seinem Selbstgespräch den Begriff knackig – aber das war mindestens fünfzehn Jahre her, und in der Zwischenzeit schien nichts geschehen zu sein, was diese Knospen zum Blühen gebracht und ihre frauliche Frische über die kritischen Klippen der 35 hinaus erhalten hätte. So wie sie mit den anderen im Kreis saßen, konnte Tony förmlich den faden Keksduft ihrer einsamen Sonntagnachmittage wittern, das Rascheln unrettbar altmodischer Seidenkleider hören, die an Sommertagen aus dem Schrank geholt und nach einiger Überlegung mit einem unterdrückten Seufzen zurückgehängt wurden.

Obwohl die Frauen keine Schwestern waren, ähnelten sie sich sehr – beide verblüht, ohne je wirklich geblüht zu haben, mit einem Zug um den Mund, der Bitterkeit verriet, mit dunklen Ringen unter den Augen, in denen manchmal so etwas wie eine mühevolle Koketterie aufblitzte, und mit Figuren, die nicht mehr schlank waren, sondern hager, trocken und mumienartig.

Einzig Adrian Mac Morley entzog sich diesem Gruppenbild. Schon sein Schnurrbart, der wie der Schwanz einer fetten Katze über die Oberlippe verlief, dann Kurs auf das Kinn nahm, um daraufhin die Ohren anzusteuern, wirkte unter diesen Leuten so passend wie Indianerschmuck auf dem Börsenparkett.

Und es dauerte auch nicht lange, dann wurde Tony klar, dass Mac Morley auch gar nicht zu der Gruppe gehörte, jedenfalls nicht wirklich. Mac Morley löffelte stumm sein Abendessen, wartete dann höflich fünf Minuten, in denen Tony kurz sein Woher und Wohin darlegte und entsprechend über seine neuen Begleiter informiert wurde, und wandte sich dann an Hornsby.

»War ja wohl nichts«, stellte er bissig fest.

Hornsby zuckte leicht zusammen, als hätte er diesen Schlag schon erwartet. Dann setzte er sich gerade hin und antwortet genauso bissig. Zumindest in dieser Hinsicht übertraf Hornsby Tonys Erwartungen. Der Mann konnte richtig giftig sein, als wäre der Dreitagebart doch mehr als eine unglückliche Folge mangelnder Rasiermöglichkeiten. »Die Tatsache, dass Ihnen hier noch kein Supertanker begegnet ist, würde Ihnen wohl reichen, um die Existenz dieser Schiffe zu leugnen?«

»Ich bin aber nicht hier, um Schiffchen zu gucken, sondern weil laut Ihrer Theorie, Sie erinnern sich Herr Hornsby, das Auftauchen von UFOs geradezu zwangsläufig war.«

»Ich erinnere mich allerdings. Und ich bin mir auch bewusst, dass wir keine Beobachtung solcher Flugobjekte machen konnten. Aber …« Hornsby hob die Stimme und bekam etwas von einem Prediger. »dennoch ist meine Theorie von der Linearität energetischer Kurse voll bestätigt.«

»Eine sich selbst bestätigende Theorie, nehme ich an?«, raunzte Mac Morley.

»Dieser Sandsturm bestätigt meine Theorie. Sowohl seine ungeheure Stärke – ich habe über Funk mit El Kharga gesprochen, die haben mir bestätigt, dass sie einen derartigen Sturm seit einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt haben – als auch seine Zugrichtung.«

»’n bisschen konkreter, wenn es dem Herrn Hornsby möglich wäre.«

»Was zum Teufel gibt es da noch zu erklären? Wir haben keine UFOs gesichtet, weil keine Energie da war. Die Energie wurde von der Atmosphäre aufgesaugt und in diesen Sturm transferiert, dem Herr Tanner fast zum Opfer gefallen wäre.«

»Soll das heißen«, mischte sich Tony ein, »dass es Ihrer Meinung nach so etwas wie Schienen aus Energie gibt, auf denen, mmmh, UFOs sich entlang bewegen?«

Hornsby klatschte erfreut in die Hände. »Sie haben es erfasst, und das Bild von den Schienen gefällt mir ausnehmend gut! Es gibt, und deshalb sind wir hierhin gekommen, statistisch relevante Häufungen von UFO-Sichtungen in bestimmten Gebieten. Das hat mich zu meiner Theorie geführt. Und der Sturm, wie gesagt, bestätigt das.«

Mac Morley war zu seinem Wagen gegangen und kam mit einem Armvoll Bierflaschen zurück. »Es lebe der gasbetriebene Kleinkühlschrank. Aber demnächst saugen wie unsere Energie nicht mehr aus Butanflaschen, sondern aus den Energieschienen von Herrn Hornsby.«

 

Es stellte sich heraus, dass die Gruppe am Tag vorher an der Ausgrabungsstätte von Puttkammers gewesen war, auf dem Rückweg befindlich sich aber entschlossen hatte, noch einmal tiefer in die Wüste vorzustoßen und daher denselben Weg wie Tony genommen hatte.

Eigentlich hätte Tony ihnen begegnen müssen, aber sie hatten sich, per Funk vor dem Sturm gewarnt, in die schützende Schlucht eines niedrigen Felsmassivs zurückgezogen. Sie waren von Puttkammer selbst nicht begegnet, der hielt sich in der neu entdeckten Grabkammer auf, aber der Assistent war sehr zuvorkommend gewesen und hatten ihnen die Ausgrabungsstätte so weit wie möglich gezeigt.

Hornsby holte ein Polaroid-Foto aus der Tasche und reichte es Tony.

Der beugte sich nach vorne, um den hellen Schein der Petromax-Lampe auf das Bild zu lassen.

»Mr. Herbert Bruce war zwar zuvorkommend, hat aber offensichtlich viele Dinge für sich behalten. Wissen Sie, er hat einen Aluminiumkoffer, in dem wohl die wichtigsten Fotos und Aufzeichnungen gesammelt werden. Und da er gerade abgelenkt war und der Koffer offen und dieses Foto daneben lag, habe ich die Gelegenheit genutzt.«

Was Tony in den Händen hielt, war also das Foto von einem Foto. Eindeutig war eine schlecht erhaltene Wandmalerei zu erkennen.

»Beachten Sie die drei Gegenstände auf der rechten Seite. Der Gedanke an Raketen drängt sich geradezu auf. Ganz links kann man noch so einen Gegenstand erkennen«, lenkte Hornsby Tonys Interpretation in die gewünschten Bahnen.

»Raketen?«, murmelte Tony zweifelnd.

»Zumindest Gegenstände, deren Form die Vermutung aufdrängt, dass sie technisch und seriell hergestellt wurden.«

»Vielleicht ein Reserverad vom UFO«, kicherte Mac Morley vorlaut dazwischen.

In das peinliche Schweigen sagte Tony: »Das erscheint mir durchaus als wahrscheinlich. Wenn wir von der Existenz von UFOs ausgehen, dann müssen Gegenstände, die aus irgendwelchen Gründen von diesen Flugobjekten herabfielen, für die Leute der damaligen Zeit also vom Himmel fielen, besonderes Interesse wachgerufen haben. Man hätte sie dann wohl für Gegenstände der Götter gehalten, aufbewahrt und ihre Form so weit wie möglich kopiert.«

Mac Morley brabbelte unzufrieden und nahm einen weiteren Schluck Bier. »Sie glauben wohl auch an diesen Kram?«, fuhr er Tony an. Der fühlte sich nicht fähig, jemanden, der ihn vor kurzer Zeit aus seiner Sanddüne gebuddelt hatte, um etwas mehr Respekt zu bitten.

»Ich habe lediglich gesagt, wie es sein könnte«, antwortete er dann pikiert. »Aber etwas anderes fällt mir auf.«

Hornsby und Mac Morley streckten neugierig den Kopf vor, als Tony ihnen das Foto, das sie beide zur Genüge kannten, vorhielt.

»Ich habe lediglich gehört, dass von Puttkammer nach einem Grab aus der ersten Zwischenzeit suchte. Dieses Wandbild, aber ich bin natürlich kein Experte, sieht mir nicht nach erster Zwischenzeit aus. Es stammt aus viel jüngerer Zeit.«

»Warum hatte Bruce es dann neben seinem Koffer?« Hornsby war völlig verblüfft.

»Sie haben recht, aber ich war so sicher, dass – es ist mir gar nicht aufgefallen, ich war da wohl etwas zu sicher. Aber warum hatte unser kleiner Brucius es dann neben dem Koffer?«

Vielleicht wollte er jemanden reinlegen, fuhr es Tony durch den Kopf. Oder jemand sollte auf eine Spur gebracht werden. Oder jemand sollte von einer Spur weggelockt werden. Oder Bruce hatte ebenfalls Interesse an diesen Gegenständen. Es gab zu viele Möglichkeiten und keine plausible Erklärung.

 

Die Bierflasche kreiste wie der unvermeidliche Joint in einer Studenten-Wohngemeinschaft. Tony nahm eher aus Höflichkeitsgründen einen Schluck, bevor er die Flasche weitergab. Das Gespräch drehte sich weiterhin um UFOs, kein Thema, an dem Tony größeres Interesse entwickeln konnte. Zudem stellte er fest, dass sich die Wirkung von Alkohol unter bestimmten Umständen potenziert. Und solche Umstände war bei ihm eingetreten.

Er stand auf und machte einige Schritte, wobei er sich darauf konzentrierte, seinen Zustand nicht durch übermäßige Schwankungen um die Körperachse zu verraten.

Die Luft war kühl geworden. Nach dem Sturm schien der Himmel klarer als je zuvor, und Tony stand lange auf einem Fleck und betrachtete die Sterne. Die Schattenrisse der umliegenden Höhen schnitten messerscharf durch die Himmelskuppel. Tony drehte sich, betrachtete die sanft geschwungenen Linien und stockte. Dort über dem Hügelkamm war ein Schatten, der nicht in das Schema passte. Tony kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Es schien eine Kuppel zu sein. Er ging zu seinem Wagen und wühlte unter dem Sitz nach einer Taschenlampe.

Mac Morley war an seinem Wagen und klimperte mit Bierflaschen. »Was treibt Sie denn jetzt noch um, die Blase etwas?«, fragte er.

»Man weiß ja nie, was sich ergibt. Aber eigentlich wollte ich auf die Anhöhe. Da scheint ein Gebäude zu sein, das ich mir anschauen wollte.«

»Gebäude, ha?« Mac Morley ließ sich schwer gegen den Wagen fallen und überlegte. »Auf der Karte war irgendwas vom Grab eines Marabus, aber ich weiß wirklich nicht, ob das hier war. Ist ja wohl egal. Auf dem Rückweg brauchen Sie sich nur nach dem Lärm zu orientieren, dann können Sie sich nicht verlaufen. Diese Society of British Ufologists ist nicht nur verbohrt, sondern auch versoffen!«

Der Alkohol hatte die Stimmung der Gemeinschaft inzwischen enorm gesteigert. Die Stimmen klangen lauter, das Lachen der beiden Frauen bekam einen schrillen Beiklang.

Tony war froh, dass er sich der nun bald anstehenden Was sind wir doch alle für nette Leute-Phase entziehen konnte.

Der Aufstieg gestaltete sich nicht einfach. Die Hügelflanke war mit Sand bedeckt. Seine Schuhe versanken bis über die Knöchel, manchmal rutschte er die gerade mühsam erkletterten Meter wieder herunter und musste sich die Beine ausgraben. In der Senke fand wieder eine hitzige Diskussion statt. Tony grinste. Es ging immer noch um die drei unidentifizierbaren Gegenstände.

»Raketenartig. Papperlapapp«, höhnte Mac Morleys Stimme. »Wenn Sie nicht ständig nach kleinen grünen Männchen Ausschau halten würden, dann könnten Sie mal einen Blick in Gardiners Liste werfen: Unklassifizierbare Hieroglyphen, Nummer 31 – da haben Sie Ihre Rakete. Oder Kategorie Körbe, Säcke, Zeichen Numero 38 – setzen Sie einen Standfuß drunter und Sie haben die schönsten Raketen, die sich ein UFO-Freak wünschen kann.«

»Unklassifizierbare Zeichen – da haben wir es doch. Sie können sich aus Gardiners Liste ein Zäpfchen drehen. Wenn Sie glauben, dass ein hübscher Begriff Wissen ersetzt, dann sind Sie genau der Typ, für den ich Sie halte.«

»Für was halten Sie mich denn, Hornsby?« Mac Morleys Stimme bekam einen drohenden Unterton, der durch seinen schottischen Akzent nur noch dramatischer wirkte.

»Jedenfalls für eine Person, der ich nicht sagen kann, was ich von ihr halte …«

 

Tony hatte den Kamm erreicht, und als er weiterging, schwanden die Stimmen bis auf ein undeutliches Murmeln. Er hatte tatsächlich ein Gebäude gesehen. Während des mühsamen Aufstiegs waren ihm Fantasien durch den Kopf gefahren. Er sah sich schon als Entdecker eines gewaltigen antiken Palastkomplexes, den der Sturm freigelegt hatte. Nun ging er stark ernüchtert auf den würfelförmigen Bau von gerade einmal vier Metern Seitenlänge zu, der von einer Kuppel abgeschlossen wurde. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Er umkreiste das Gebäude und fand einen spitzbogigen Eingang an der Ostseite. Im Schein der Taschenlampe trat er ein. Der Anblick war ernüchternd. Kahle fensterlose Mauern, Sand auf dem Boden, in einer Ecke lag ein Haufen aufgerissener Tüten, Plastikschalen und ein halb verbrannter Karton. Turkey. Diced with Gravy konnte er entziffern.

Das waren ohne Zweifel Militärrationen gewesen. Es lebe die westliche Zivilisation, dachte Tony Tanner bitter. Beutel mit Urin auf dem Mond und Plastiktüten in der Wüste. Wir haben allen Grund, stolz zu sein.

Die Decke des Raumes war löchrig. Tony stellte sich unter das größte Loch, das in der Mitte des Raumes war, leuchtete nach oben in die Kuppel und wandte sich dann den Kritzeleien an den Wänden zu. Es waren meist Inschriften in arabischer Schrift, aber er fand auch kyrillische Sätze und das unvermeidliche Kilroy was here mit der ebenfalls unvermeidlichen Zeichnung und ein an Deutlichkeit nicht zu überbietendes Fuck the World mit einem Datum, das einige Jahre zurücklag.

Tony dachte sofort an Militärmanöver, die die Ägypter mit der westlichen Führungsmacht veranstaltet haben könnten. Schließlich waren US-Amerikaner und Ägypter im Golfkrieg Verbündete. Aber solche Militärrationen waren in jedem Army Surplus-Geschäft kaufen, also konnten es ebenso gut Zivilisten gewesen sein, die sich hier breitgemacht hatten.

Dann überlegte er und betrachtete das Loch in der Decke. Von außen sah das Gebäude völlig symmetrisch aus. Wenn er jetzt in der Mitte des Raumes nach oben leuchtete, dann müsste er direkt auf den Scheitel der Kuppel sehen können. Aber das war nicht der Fall.

Tony ging nach draußen, umkreiste das Gebäude und suchte nach Anzeichen von Asymmetrie. Er fand keine. Er ging zurück in den Raum, leuchtete nach oben. Im Lichtkegel sah er die ansteigende Wölbung der Kuppel. Er schritt den Raum ab, ging wieder nach draußen, schritt die Außenwände ab und fand eine Differenz. Zwischen Außenmauer und der Innenwand gegenüber dem Eingang musste ein Hohlraum sein. Diese Innenwand war wie alle anderen mit Lehm grob verputzt und ließ auch nach eingehender Untersuchung keine Besonderheit erkennen.

Tony tastete die Wand ab. Als er den zweiten Mann aus dem Hubschrauber geholt hatte, waren seine Fingerspitzen fast verbrannt, und nun tat jede Berührung mit dem rauen Putz weh. Dann klopfte er die Wand nach Hohlräumen ab, bis seine Knöchel ebenso schmerzten wie sei seine Fingerkuppen. Schließlich ließ er sich in den Sand fallen. Er kannte die Frage, die er sich jetzt stellen würde. Sie lautete: Wie komme ich eigentlich hierhin und was will ich eigentlich hier? Aber bevor diese Frage kam, sprang er wieder auf und ging zur Außenmauer. Und hier fand er bald das, wonach er suchte.

Ein Stein ragte deutlich über die anderen hinaus, so deutlich, dass es schon fast als ein bewusst gesetztes Zeichen erscheinen konnte. Tony ruckelte und konnte den Stein bald herausziehen. Dann schob er einen Arm und den Kopf in die Mauerlücke. Er wusste selbst nicht genau, was er erwartet hatte, vielleicht den gruseligen Anblick eines mumifizierten Heiligen oder irgendwelche Gegenstände, die zu verstecken sich lohnte. Aber seine Taschenlampe beleuchtete nur einen schmalen, völlig leeren Raum. Nein, so ganz leer war der Raum nicht, denn an der gegenüberliegenden Wand stand ein grob gezimmertes Regal. Bücher oder Schriftrollen mochten einst hier gelagert haben. Ein Unbekannter hatte sie gefunden und mit sich genommen und allen anderen nichts gelassen als die Enttäuschung.

Ein letztes Mal ließ Tony den Lichtkegel der Lampe durch den Raum gleiten. Er drückte sich ächzend noch ein Stück weiter durch die Öffnung. Das Atmen fiel ihm schwer, weil seine Brust zusammengedrückt war, aber auch, weil der Raum einen abstoßenden muffigen Geruch ausströmte, der allzu sehr an Grüfte und Katakomben erinnerte.

Er hob mühsam den Arm und leuchtete aus einem anderen Winkel. Eingeklemmt zwischen Bodenbrett und Stütze schimmerte ein kleines Stück Papier. Um es zu erreichen, musste sich Tony noch ein schmerzhaftes Stück weiter in den Raum drücken und mit zwei Fingern nach dem Zettel schnappen, während die anderen Finger die Taschenlampe umklammerten.

Dann dauerte es einige anstrengende Minuten, bis er sich millimeterweise, zuckend und schiebend wie ein seltsamer Zirkusakrobat, aus der Öffnung befreit hatte. Der schlecht vertragene Alkohol, die enge Öffnung und der schlechte Geruch des Raumes vereinigten sich zu einer auf- und abschwellenden Übelkeit, die wie ein fremdes Wesen in seinem Magen zuckte. Mit offenem Mund ging er Weile umher, sog die kühle, reine Wüstenluft ein und versuchte, seinen Magen zu beruhigen.

 

Dann erst schaute er sich den Zettel an.

Es war eine Seite aus einem kleinen Taschenkalender, das Datum des entsprechenden Tages war Mittwoch, der 6. April. Mit Bleistift war eine Positionsangabe aufgeschrieben, darunter stand Kairo und eine Adresse. Viel war das nicht, fand Tony. Im Grunde zu wenig für die Übelkeit, die er jetzt langsam überwunden hatte, und die Plackerei, mit der er nun den Stein wieder in seine ursprüngliche Position brachte. Es war Tony Tanner ein Herzensanliegen, den Stein wieder ganz exakt in die Wand zu schieben und die Fugen so gut wie möglich mit Sand zu füllen. Den Zettel schob sich Tony unter die Peitsche, die er immer noch um den linken Arm trug, wo sie nutzlos und Juckreiz erregend auf einen Einsatz harrte.

Als er zurückkam, befand sich die Gruppe schon in Auflösung. Die meisten warfen ihre Schlafsäcke in den Sand und krochen hinein, einige andere versuchten, es sich in den Geländewagen bequem zu machen. Auch Tony kletterte in seinen Wagen und versuchte, sein Schlafbedürfnis mit der Innenraumgestaltung eines Landrovers in Einklang zu bringen. Es gelang ihm nur mit Mühe. Aber diesen Versuchen mit ständig wechselnden Stellungen schlief er ein.

Ein Klopfen an das Fenster weckte ihn. Er sah den rotgesichtigen Mac Morley und wurde in einem fürchterlichen Moment von der Furcht durchzuckt, er wäre schon wieder unter dem Sand verschüttet und müsste ausgegraben werden. Dann sah er den strahlend blauen Himmel und seine Laune besserte sich deutlich.

»Guten Morgen«, begrüßte er Mac Morley. »Wunderhübsches Wetter, ist es nicht wahr, kein Regen zu erwarten, und selbst vor Glatteis brauchen wir uns nicht zu fürchten, es ist schließlich überall gestreut.«

»Welch köstlicher Witz. Als ich ihn das erste Mal gehört habe, habe ich mir in die Windeln gemacht vor Lachen.«

»Ich vermute, Sie haben mich nicht geweckt, um mit mir ein Duell mit der Witzkeule durchzuführen?«

»Nein«, gestand Mac Morley, »ich habe eine Bitte an Sie. Und ich muss gestehen, ich werde diese Bitte auf noch aufrechterhalten, selbst wenn Sie sich weiterhin als der Born der guten Laune gebärden sollten, den Sie jetzt abgeben. Also – kann ich mit Ihnen fahren?«

Tony reckte sich gerade. Nach der Nacht im Auto hatte er zum ersten Mal in seinem Leben bewussten, aber recht schmerzhaften Kontakt mit jedem Knochen und jedem Muskel, der sich irgendwo in seinem Körper versteckte.

»Sie wollen mit mir fahren? Aber ich will doch heute zu der Ausgrabungsstätte und dann gleich zurück nach Bir Tarfawi?«

»Eben. Ich fahre mit Ihnen zurück nach Bir Tarfawi und dann über die Piste bis El Kharga. Von dort gibt ess eine ausgebaute Straße zum Nil. Wissen Sie, die anderen wollen noch weiter, bis runter zur sudanesischen Grenze. Spinner! Nun ja, und da ich mir inzwischen schon eine feste Meinung über diese Sekte der UFO-Gläubigen gebildet habe, will ich nur weg. Und ich dachte, nachdem ich geholfen habe, Ihren Wagen auszugraben …«

Tony zuckte die Schultern. »Von mir aus können Sie mitkommen. Aber ich warne Sie, ich bin ein miserabler Autofahrer …«

»Ich verlasse mich darauf, dass Sie keinen Baum rammen«, rief Mac Morley über die Schulter hinweg. Er war schon auf dem Weg, um sein Gepäck zu holen.

Das Lager erwachte, und verschlafene Gestalten krochen aus ihren Schlafsäcken.

Tony hatte zwar leichthin zugesagt, Mac Morley mitzunehmen, aber dann kamen ihm doch Bedenken. Vielleicht wurde er auf diese Weise in einen Konflikt innerhalb der Gruppe einbezogen?

Aber Hornsby nahm die Nachricht mit großer Erleichterung auf, so als würde sich Tony bereit erklären, den Müll nach unten zu bringen.

»Er ist eigentlich als Gast mitgereist«, erklärte Hornsby, »aber durch seine permanente Stänkereien ging er uns allen bald auf die Nerven. Dieser Mann ist so vernagelt – Kritik um der Kritik willen. Immer Opposition. Immer dagegen sein, schon aus Prinzip. Äußerst anstrengend. Schockierend. Wenn Sie ihn mitnehmen, tun Sie mir und uns allen einen großen Gefallen.«

»Na, wenn das so ist, dann kann ich mich wenigstens ein wenig für meine Rettung revanchieren.«

Man tauschte noch Adressen aus, dann ging Tony auf die Händeschüttel-Tour, und schließlich fuhr er los.

 

Mac Morley hatte sich von keinem verabschiedet und saß während dessen im Wagen.

»Ich wette«, knurrte er, als Tony wieder auf die markierte Piste eingebogen war, »als Sie diesen vertrockneten Ziegen die Hand gegeben haben, war das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass die Körperkontakt mit einem Mann hatten. Oh, Junge, Junge, diese kondensierten Jungfern – man gieße heißes Wasser drauf und vielleicht kommt ‘ne Frau dabei raus. Instantladys …, ha ha ha.«

Tony hatte keine Lust, sich an einem Gespräch dieser Art zu beteiligen, und schaute angestrengt auf die Piste, obwohl der Untergrund hier hart und eben war wie Asphalt. Aber Mac Morley ließ sich nicht von seinem Thema abbringen. Harte Wochen, in denen er mit seiner Meinung hinter dem Berg halten musste, bedurften der Bewältigung.

Tony Tanner bekam diesen gewissen Blick, den Francine sehr gut als den Durchzugs-Ausdruck kannte. Sie hatte ihrerseits allerdings Jahre gebraucht, bevor sie die Kombination von höflichem Interesse und einem leicht verschleierten Blick als das erkannte, was es war: Zeichen dafür, dass Tonys Gehör die aufgenommenen Schallwellen ohne Verarbeitung durch irgendein Teil des Hirns auf der jeweils anderen Seite wieder austreten ließ. Tony verfeinerte diese berufsbedingte Technik durch Interesse heuchelnde, dabei aber völlig belanglose Fragen wie Tatsächlich? Habe ich ja noch nie gehört? Du meine Güte? oder das unschlagbare Und was geschah dann?

Soviel bekam er denn aber doch mit, dass Mac Morley Gründungsmitglied einer schottischen Gesellschaft war, die sich mit etwas befassten, was er Feng-Shui nannte.

Die Gegend war so langweilig, dass Tony doch langsam auf den Zuhörmodus schaltete. »Wie sind Sie eigentlich mit Hornsby und seiner Gruppe zusammengekommen«, fragte er. Insgeheim betete er, dass Mac Morley ihm diese Geschichte nicht gerade eben erst zum Besten gegeben hatte. Aber wenn es so war, dann war es dem Schotten zumindest egal. Er schnaufte und nutzte die Gelegenheit, über Hornsby herzuziehen.

»Wo ich diese Spinner kennengelernt habe? In Deutschland – allein diese Tatsache hätte mich misstrauisch machen sollen. Um genau zu sein, war es – wie heißt das noch – in Westfalen. Wir waren bei den Externsteinen. Das ist eine Felsformation, die schon seit Urzeiten eine religiöse Rolle gespielt hat. Ja, wir machten unsere Untersuchungen hinsichtlich Erdstrahlen, dem Fluss der Chi-Kraft und ähnliches – mmh, wissen Sie eigentlich, was Feng-Shui ist …?«

Tony nickte mit dem Kopf. Er hatte zwar nur eine vage Ahnung, dass es sich um die chinesische Theorie der Erdenergien handelte, aber weitergehende Erklärungen wollte er jetzt gar nicht hören.

»Ja, also, das, was wir machen, ist sozusagen die schottische oder die europäische Variante. Wir, das heißt die Leute meiner Gruppe und meine Wenigkeit, waren dabei, die Externsteine zu vermessen. Ein wirklich eindrucksvoller Ort. Wenn er in Schottland läge, würde ich sagen, unübertrefflich. Zu der Zeit waren auch jede Menge Späthippies da, esoterische Spinner und unsere UFO-Freaks. Ich kam mit diesem Hornsby ins Gespräch, weil er so eine Theorie hatte, die ein wenig an die Drachenwege der Chinesen erinnerte.«

»Sie meinen diese Energielinien, über denen sich die UFOs bewegen?«

»Genau. Na ja, ob es das deutsche Klima war oder eine schlechte Verdauung durch das komische Bier, das sie da unten trinken, jedenfalls erschien er mir recht akzeptabel. Ich meine als Mensch und als – nennen wir es der Einfachheit halber Wissenschaftler. Wir korrespondierten eine Weile, und schließlich lud er mich zu dieser katastrophalen Reise ein.«

»Und hier haben Sie Ihre Meinung über Herrn Hornsby grundlegend revidiert?«

»Grundlegend. Ich glaube, als Einzelperson ist er wirklich in Ordnung. Aber man darf ihn nicht in die Nähe seiner UFO-Freaks lassen. Da kehrt er den Prediger raus. Wussten Sie, dass in der Gruppe ein pensionierter SAS-Major ist? Ohne den wären diese Pfeifen in der Wüste schon längst hopsgegangen. Aber obwohl der Major der Einzige ist, der sich in der Wüste auskennt, führt Hornsby weiter das große Wort.«

»Und das stört Sie?«

»Hören Sie, Mr. Tanner, ich kann winzig kleine Antennenstücke im Sand erkennen und ich kann auch Ironie erkennen. Und in diesem Bereich bin ich 100% humorbehindert, verstehen Sie! Sie haben die Typen ja nicht erlebt! Aber ich. Und ich sage Ihnen, der Begriff Fanatiker trifft den Punkt genau. Das sind die Roten Khmer der Ufologen. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen – tschuldigung, wenn ich eben etwas heftig war. Aber ich habe mir jetzt drei Wochen lang auf die Zunge gebissen und jetzt muss es raus. Also, da zeigt dieser Großkotz Hornsby eine Karte und verkündet stolz, dass Giseh, Abu Simbel und die Ausgrabungsstätte vor uns ein Dreieck bilden. Toll, sag ich, geben Sie mir drei Punkte und ich mach Ihnen noch ‘n Dreieck draus, Schanghai, Oxford und mein Scheißhaus beispielsweise. Da guckt er giftig und fängt an, mich zu missionieren. Von wegen Pyramiden und Himmelsrichtung und was weiß ich. Alles völlig beliebiger Scheißdreck, Verzeihung für den Ausdruck. Aber er bezeichnet genau das, worum es geht. Geistige Onanie. Akademiker-Dünnschiss.«

»Ich dachte, Sie wären wegen UFO-Beobachtungen hier in der Wüste gewesen?«

»Waren wir auch. Aber die kleinen Grünen waren eigen und haben sich nicht gezeigt.«

»Und Sie halten von diesen UFO-Sichtungen nichts?«

»Das ist alles Unfug. Man stelle sich das doch mal vor. Wenn irgendeine dämliche Magd im Mittelalter behauptet, sie wäre vom Leibhaftigen gepimpert worden oder wenn ein Heiliger eine Engelerscheinung hat, dann heulen unsere hochmodernen Psycho-Fuzzis los und haben sofort die Erklärung bei der Hand: neurotisierte Sexualverdrängung, libidinöse Visualisierung in religiöser Verbrämung und was die sonst noch an Wortgeklingel auf der Pfanne haben. Aber wenn heute eine Hausfrau, die seit zehn Jahren vergeblich versucht, wenigstens von einem Nachbarn angetatscht zu werden, weil ihr Alter sie nicht mehr anrührt, dann plötzlich erzählt, sie sei von kleinen eisgrauen Männlein untersucht und an einer ganz gewissen Stelle operiert worden, dann sind die Herren Wissenschaftler aufmerksam und machen ernsthafte Untersuchungen. Fällt Ihnen da nicht auch was auf?«

»Wenn ich Sie recht verstehe, dann halten Sie die kleinen grünen Männchen für die moderne Version von Engeln, Teufeln, Dämonen und diesen mythologischen Gestalten?«

»Was soll es sonst sein? Früher hüpfte ein ordentlich geiler Pan durch die Wälder und ließ die Mädels kreischen, dann waren es die höllischen Ausgeburten oder die himmlischen Heerscharen, und unsere elend langweilige Zeit kann sich nur diese kosmischen Rappelkisten vorstellen. Ich könnte mir wirklich in den Bauch beißen, wenn ich mir überlegen, welchen Schrott die Leute heute schlucken. Entführung durch Außerirdische, die komischen Männer in Schwarz, die die Zeugen bequatschen – das ist doch alles nur Kinderkram für unsere kindische Zeit.«

»Nun ja, zumindest die Sache mit dem Sturm hat mich beeindruckt.«

Mac Morley nickte. »In dieser Hinsicht gehe ich mit Hornsby ja durchaus konform. Aber diese Schlussfolgerungen, die er zieht! Sehen Sie, ich halte es für möglich, dass über diesen Energiebahnen Lichterscheinungen entstehen, so etwa wie die Kugelblitze, aber damit ist dann auch Schluss. Und bitte keine Knilche vom Mars, die irgendwann landen und sagen: Hi Leute, hier ist der Dreipunkteplan für die Rettung der Menschheit und hier die Pille, die euch alle glücklich macht und hinten im Wagen ist noch eine Blondine für jeden, der eine braucht. Das ist doch kindisch.«

 

Wer war jetzt eigentlich der Fanatiker – Hornsby oder Mac Morley? Tony gab etwas mehr Gas, denn die Sache wurde doch etwas anstrengend.

Mac Morley schwieg eine Weile, aber Tony merkte deutlich, dass es in seinem Beifahrer grummelte. Wenn er einen schnellen Blick zur Seite warf, konnte er deutlich sehen, wie die Kinnmuskeln des Schotten arbeiteten, so als würde er gerade einige unausgesprochene Bemerkungen zwischen den Zähnen zermalmen. Tony legte keinen Wert auf Unterhaltung.

Wenn im Kino oder im Fernsehen attraktive Männer mit markanten Gesichtszügen ihre Geländewagen durch die Wüste steuerten, dann wirkte das wesentlich weniger schweißtreibend als die Wirklichkeit, der er sich hier gegenübersah. Einige Male hatte er direkt in ein Sandloch gesteuert, und der Landrover war mit der Kühlerhaube tief eingetaucht, während das Heck hochbockte, und jedes Mal schoss Tony die Panik durch die Adern, dass jetzt der Überschlag kommen würde. Aber der Wagen fing sich jedes Mal wieder in einer aufstaubenden Sandfontäne, und zwei wie exquisite Cocktails durchgeschüttelte Insassen konnten ihren Weg fortsetzen.

 

Der letzte derartige Schock schien Mac Morleys zurückgehaltene Bemerkungen endgültig losgerüttelt zu haben.

»Man muss sich das mal vorstellen«, knurrte er los. »Technologie um Tausende von Lichtjahren zu überwinden, aber so blöde, dass sie ständig auffallen. Warum sind die kleinen grünen Männchen nicht schon vor vierzig Jahren auf dem Piccadily Circus gelandet und haben dort ihre Fahne aufgepflanzt? Das gibt doch keinen Sinn! Oder ihre Eigenschaft, sich ständig sexuell unterversorgte Muttis zum Betatschen an Bord zu holen! Man stelle sich das mal vor – jeder minderbegabte Serienmörder lässt seine Opfer diskret im Säurefass verschwinden, bloß diese Insektengesichter schnippeln an den Damen rum – natürlich immer am Unterleib, wo sonst! Als wären sie geile Medizinstudenten im vierten Semester – und dann, schwuppdiwupp, ist Mutti wieder im Bett, neben ihrem schnarchenden, stinkigen Ehegespons, und die Mami ist gezwungen, Bücher zu schreiben und Interviews zu geben. Wissen Sie was, Tanner? Diese Aliens haben einfach keinen Stil, das ist es! Also, was soll das Ganze?«

»Terror«, antwortete Tony Tanner. Er wusste selbst nicht genau, wie er auf diese Antwort kam, aber er erinnerte sich an Dorkas und seine Theorien.

»Wie meinen?« Mac Morley war ernsthaft verblüfft, auf seine rhetorische Frage eine Antwort bekommen zu haben.

»Ich meine, dass hier schlicht Angst verbreitet werden soll. Sagen wir mal, wie war es im letzten Jahrhundert, wenn ein paar Baströckchenträger gegen die Europäer aufmuckten? Man schickte ein Kriegsschiff, das kreuzte vor der Küste auf und ab, und dadurch rutschten den unwilligen Untertanen ihrer allerchristlichsten Majestäten das Herz in die nicht vorhandenen Hosen.«

»Oh Mann!« Mac Morley wischte sich Schweiß und Staub aus dem Gesicht. »Das hätte jetzt auch von diesem Hornsby kommen können. Ergibt aber keinen Sinn. Denn unsere Kolonialpolitiker hatten ja wohl klare Vorstellungen und Ziele. Und das kann man von den UFO-Geisterfahrern kaum behaupten!«

Tony zuckte die Schultern. »Wissen wir es? Ich meine, wenn wir uns die Politiker anschauen – kapieren die eigentlich immer, was da läuft? Na also, das könnte doch durchaus der Einfluss der Außerirdischen sein, den wir nur nicht durchschauen können.«

Mac Morley kratzte sich grunzend am Kinn. »Stimmt«, konstatierte er dann nach einer Weile. »Stimmt. Ich glaube, dass bei der EU in Brüssel der außerirdische Einfluss sehr stark ist. Wahrscheinlich sind die Kommissare da selbst schon Aliens.« Er geriet in Begeisterung.

»DAS ist es. Endlich haben wir eine schlüssige Erklärung für die europäische Agrarpolitik – sie ist das Werk von Außerirdischen. Und dass Maggie Thatcher nicht von dieser Welt sein konnte, ist doch jedem klar. In ihrer unvermeidlichen Tasche hat sie wahrscheinlich ein Tütchen Marsatmosphäre als Notvorrat. Oder John Major, dem sah doch jeder an, dass er sich niemals von seinem UFO-Absturz erholt hat. Und unser aller Tony Blair-Witsch-Protscheckt …«

»Vergessen wir nicht Michael Jackson«, warf Tony ein. »Der kann eigentlich nicht echt sein.«

»Und all diese komischen Rapper – bewegen sich, als wären ihnen das Kleinhirn amputiert worden und können nur schlechte Reime nuscheln – wahrscheinlich wegen kultureller Unfähigkeit aus ihrem Sonnensystem vertrieben.« Mac Morley kicherte eine Weile vor sich hin und wurde dann ganz plötzlich wieder ernst.

»Wir haben hier gut blödeln«, sagte er dann. »Aber Hornsby lässt tagtäglich solche Sachen ab. Und er meint es ernst. Oder er wird zumindest von seinen Leuten ernst genommen. Letztens war er damit zugange, dass die Außerirdischen uns schon ständig Zeichen geben würden. In verschlüsselter Form, aber für jedermann zugänglich, durch Zeitungsmeldungen, Literatur, Kinofilme, was weiß ich. Die blöde Masse kriegt das natürlich nicht mit. Aber die Klugen erkennen die Zeichen und werden daher von den Außis auch freundlich behandelt.«

»Und der Rest?«

»Ex und hopp! Zumindest laut Hornsby. Der Mann ist gefährlich. Ich weiß, ich wiederhole mich. Er ist unter den Ufologen ein Außenseiter. Im Grunde hat er so eine Art Sekte innerhalb der UFO-Sekte gegründet. Er behauptet zum Beispiel, so ein Film wie Stargate wäre ein Zeichen für die Gegenwart. Natürlich hätten die Autoren keine Ahnung, aber ihre Ideen wären Splitter eines universalen Erdgedächtnisses und weil die Tage der Erscheinung näher kommen, er nennt das wirklich Tage der Erscheinung, dringen immer mehr dieser Mosaiksteinchen aus dem universalen Erdgedächtnis in das Bewusstsein der Menschen ein. Die Eingeweihten erkennen die Wahrheit hinter der Kinogeschichte – so eine Kinderkacke –«.

»Na ja, irgendwie klingt das doch ganz plausibel, oder nicht?«

»Zu plausibel, für meinen Geschmack. Jedenfalls hat er damit seine Leute total unter Kontrolle. Die fressen ihm aus der Hand. Wenn irgendeiner aufmuckt, kommt gleich noch ‘ne Erkenntnis – tiefe Einsichten aus einem Song der Spice Girls oder wie die Schlampen auch heißen mögen, oder einer dieser unerträglichen Rapper hat zwischen seinen »Aha« und »Yeah« irgendwas geäußert, was Guru Hornsby dann für seine Getreuen übersetzt – und schon ist er wieder der unbestrittene Meister. Und im größten Notfall holt er den Millennium-Effekt aus dem Ärmel.«

»Millennium-Effekt?«

»Sagen Sie, wo leben Sie eigentlich? Der sogenannte Jahrtausendwechsel, den die blöden Rechner angeblich nicht auf die Reihe kriegen sollten. Oh, das wird toll. Hornsby lief sicher bei der Beschreibung dieser kommenden Katastrophen zu Höchstform auf.« Mac Morley stieß ein lautes, unfrohes Lachen aus. »Dass sich Atomraketen selbstständig machen sollten, war eigentlich Nebensache. Aber am 1.1. 2000 um 0 Uhr und eine Sekunde sollten auch die Fahrstühle verrückt spielen, die Küchenmaschinen durchdrehen, die Klimaanlage versuchen, uns zu ersticken – überflüssigerweise, denn wir sind doch schon im Atomblitz verdampft – die Rolltreppen nicht mehr rollen und die Kassen nicht mehr kassieren, und wer unglücklicherweise einen Rasierapparat benutzte oder hähähä, vielleicht einen Vibrator, der sollte gar keine Gelegenheit mehr haben, das gewaltige Bild der aufwallenden Atompilze richtig zu genießen, weil es ihn vorher weggehauen hat. Und was ist passiert? Nix. Also ist dieses Datum, wie vorher etliche Weltuntergänge auch, abgehakt, und Hornsby beschwört neue Bedrohungen herauf.«

»Klingt nach einer richtigen Punk-Idylle. Aber ich vermute, Hornsby hat irgendein Hilfsmittel für sich und seine Anhänger.«

»Worauf Sie einen lassen können. Aber leider habe ich nicht rausgefunden, was er mit seinen Leuten ausbaldowert hat. Die Gruppe hier ist übrigens nur ein kleiner Teil seiner Anhängerschaft. Sozusagen der Generalstab.«

»Sie hätten halt manchmal den Mund halten sollen, dann wüssten Sie jetzt, wie Sie sich retten können.«

»Bevor ich mich von einem Spinner wie Hornsby retten lasse«, schnaubte Mac Morley, »grabe ich mich lieber selbst ein.«

»Bravo, da höre ich den ungebrochenen Stolz des Hochländers.«

Mac Morley brabbelte etwas, das wie »Verarschen kann ich mich alleine« klang und schwieg für den Rest der Fahrt verbissen.

 

Sie überquerten eine Dünenkette, und dann lag die Ausgrabungsstelle vor ihnen. Tony war ein wenig enttäuscht. Für eine archäologische Sensation sah das alles geradezu beschämend dürftig aus: einige große und kleine Zelte, einige Kistenstapel, ein schmutziger Lastwagen.

In der Mitte des Lagers deckte eine große, verblichene Plane ein quadratisches Loch ab, aus dem einige Leitern ragten.

Mac Morley quittierte den Anblick des Lagers mit einem gelangweilten Knurren. Er wirkte blasiert wie ein fauler Bernhardiner, der auf seinem Teppich vor dem Kamin liegt, während Herrchen mit der Leine lockt. Dann aber setzte er sich gerade auf seinen Sitz und äugte aufmerksam auf die Zelte. Tony rollte vorsichtig auf das Lager zu.

»Warum arbeiten die nicht?«, knurrte Mac Morley.

»Mittagspause, vielleicht«, vermutete Tony frohen Herzens, denn er wusste um den Zustand seines eigenen Magens.

»Dann säßen alle hier herum und würden beidbackig Fladenbrot kauen.«

»Na gut, dann eine Vollversammlung zwecks Abstimmung über einen Streik zwecks Erhöhung der Löhne zwecks mehr Geld in der Haushaltskasse.«

»Quatsch«, fauchte Mac Morley. »Dieser von Puttkammer bezahlt seine Leute gar nicht so schlecht. Und er hat sie unter Kontrolle. Da ist nichts mit Streik. Die sind viel zu froh, sich hier was dazuverdienen zu können. Halten Sie an. Ich gehe mal nachschauen. Hier ist doch etwas faul!«

Mac Morley stieg aus und stiefelte steifbeinig, mit einer Hand seinen Rücken massierend, zu dem größten Zelt. Tony würgte den Motor ab und wartete. Das Blech der Motorhaube knackte. Stimmen erklangen aus dem Zelt. Er vernahm aufgeregte Wortkaskaden in arabischer Sprache, dazwischen Brocken von Englisch, die er jedoch nicht genau verstehen konnte.

Dann erschien Mac Morley und eilte auf Tony Tanner zu. Er war weiß im Gesicht. »Ich hatte recht«, sagte Mac Morley, und seine Stimme klang belegt. »Hier ist was oberfaul!«

Fortsetzung folgt …