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I hear a new world

Jörg Kleudgen

I hear a new world

Von Staub und Ruß unansehnlich stürzten die verwitterten Fassaden der Stadt an mir vorüber. In einer einzigen grauen Stunde war der Tag zu Asche verbrannt. Wie üblich in den frühen Abendstunden verstopfte der Feierabendverkehr den Autobahnzubringer, verfolgt von den nimmermüden Kameraaugen der Verkehrsüberwachung. Als er vollends zum Erliegen kam, lenkte ich meinen Renault, dessen ursprüngliche Farbe man seit Jahren nur noch erahnen konnte, auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants. Grellbunte Reklametafeln unterstrichen den heruntergekommenen Zustand der Anlage, doch anstatt im Stau zu stehen, konnte ich die Zeit genauso gut hier totschlagen.
Wie zu erwarten, hatte ich nicht als Einziger diese Idee.
Im Restaurant waren alle Tische besetzt.
Unmittelbar neben dem Eingang saß auf schmutzigweißen Plastikstühlen an einem Tisch für vier Personen ein junges Paar vor einem Teller mit riesigen Hamburgern. Ich überlegte, ob ich die beiden ansprechen sollte, doch sie nahmen mich nicht einmal wahr. Sie blickten aneinander vorbei auf zwei Fernsehgeräte, während sich ihre Kiefer mechanisch öffneten und schlossen. Sie hätten genausogut Zellulose kauen und aus leeren Gläsern trinken können. Ihr Blick ging durch die Bildschirme hindurch.
Ich blieb einen Moment lang irritiert stehen. Neben einem der Monitore war eine Kamera angebracht. Es war, als ob die Fernseher hinabsahen auf die, die sie betrachteten. Ob sich wohl überhaupt jemand diese Bilder anschaute? Stunden über Stunden menschlicher Belanglosigkeit, festgehalten auf gigantischen Festplatten?
Ich hatte keinen Hunger mehr. Der Gedanke, meine Mahlzeit unter Beobachtung einzunehmen, war mir zuwider. Gereizt kehrte ich zum Wagen zurück.
Glücklicherweise kam gerade Bewegung in den blechernen Lindwurm, der sich durch die viel zu engen Straßen wälzte, und in den ich mich nun wieder einreihte.
Auf der anderen Straßenseite sah ich einen Mann, den ich für einen Mitarbeiter der Stadtreinigung hielt, der damit beschäftigt war, bunte Graffitis von einer verfallenen Hauswand zu entfernen. Dann aber wurde mir bewußt, dass er selbst ohne jedes Anzeichen von Hast Zeichen auf die Wand sprühte. Verschlungene Zeichen, grellbunte Sonnen und aufgeblähte Monde.
Ein ungeduldiges Hupen hinter mir forderte mich auf, näher zum Vordermann aufzuschließen. Entnervt schaltete ich das Radio ein und versuchte, einen Sender hereinzubekommen, doch ich empfing nur ein atmosphärisches Knistern und Rauschen, bis mich das laute Kreischen von Bremsen zusammenfahren ließ. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es nicht von einem Unfall herrührte, sondern aus dem Autoradio drang.
Ich kannte den Song. Ich hatte ihn zuletzt vor wohl zwanzig Jahren gehört. Eine seltsame Beatnummer aus den Sechzigern. Ohne Gesang. Entnervt wollte ich meine Sendersuche fortsetzen, doch ich konnte nicht. Es war, als versuche die Musik, in meinem Kopf einen Schalter umzulegen. Ich mußte ihr zuhören, bis sie so merkwürdig endete, wie sie begonnen hatte.
Als der Radiomoderator Titel und Interpreten nannte, notierte ich beides hastig auf einem Zettel, faltete diesen und steckte ihn in meine Hemdtasche.
Nach einer quälend langen halben Stunde erreichte ich die A86, die ich erst bei Orly wieder verließ. In dem Moment, da ich meine Straße erreichte, trommelten erste Regentropfen auf das Dach meines Wagens. Sekunden später öffnete der Himmel seine Schleusen. So ungefähr musste der Weltuntergang aussehen.

Meine Notiz fiel mir erst einige Tage später wieder in die Hände. Ich blieb ihretwegen die Mittagspause über in der Redaktion und fand heraus, dass ein gewisser Joe Meek das Stück 1962 geschrieben und nach einem kurz zuvor ins Weltall geschossenen Kommunikationssatelliten benannt hatte. Er hatte aber nicht nur als Komponist und Produzent von sich Reden gemacht, sondern die Aufnahmetechnik in den Tonstudios der ganzen Welt revolutioniert und neben Hall- und Echoeffekten auch gleich noch die Technik der Mehrspuraufnahme erfunden.
Doch seinem genialen Geist stand ein labiles Gemüt gegenüber. Meek litt unter Verfolgungswahn. Er hatte versucht, auf Londoner Friedhöfen das Geflüster der Toten auf ein Tonband zu bannen und sich immer häufiger in seinem Studio verschanzt, obwohl er sich dort von fremden Mächten abgehört glaubte. Fünf Jahre nach Veröffentlichung seines Welthits hatte er schließlich zuerst seine Vermieterin und dann sich selbst erschossen.
Der Telstar hatte ihn überlebt. Er umkreiste als einer jener zahlreichen toten künstlichen Himmelskörper die Erde, ohne jemals zu ermüden.
Ich begann mich für den Satelliten zu interessieren, und so reifte in mir eine Idee, deren Umsetzung ich an meinem nächsten freien Wochenende in Angriff nahm.
Die europäische Empfangsstation Telstars befand sich nämlich in der Nähe von Pleumeur-Bodou an der bretonischen Kanalküste. Nicht gerade in der Nachbarschaft von Paris, aber auch nicht allzu weit entfernt. Dort sollte es angeblich ein Besucherzentrum mit einer umfangreichen Ausstellung geben.
Durch nicht enden wollenden Regen entfloh ich in meinem Wagen dem Hexenkessel der Hauptstadt. Zwischenzeitlich hatte ich mir vom Radiosender ein Tape mit Telstar schicken lassen. Begleitet von der sonderbaren Melodie des Stückes fuhr ich durch die Vororte und über die Nationalstraße vorbei an Chartres, Rennes und St-Brieuc nach Lannion. Von dort aus konnte ich den Radiodome nicht verfehlen.
Im Sommer war dieser Küstenstrich mit seinen bizarren Felsformationen ein beliebtes Ziel für Urlauber, aber an diesem Novembertag begegneten mir nur wenige Fahrzeuge.
An Pleumeur-Bodou fuhr ich in einiger Entfernung vorbei, sodass ich lediglich einige der von Hortensienbüschen umgebenen Natursteinhäuser sah. Kurz darauf tauchte die weiße Kuppel der Empfangsstation auf. Die Anlage wirkte jedoch alles andere als einladend.
Ich brachte den Wagen auf einem schmalen Schotterstreifen längs des Maschendrahtzaunes zum Stehen und stieg aus. Feiner Regen durchdrang augenblicklich meine Kleidung. Aus der Ferne vernahm ich heiseres Hundegebell. Kurz darauf tauchte hinter dem Zaun ein Mann in einer Art Uniform auf. Die Rangabzeichen waren mir unbekannt. Es handelte sich weder um einen Angestellten des Militärs, noch der Polizei, noch sonst einer Behörde, die ich kannte. Er hatte Schwierigkeiten, die beiden Rottweiler zu bändigen, die kampflustig ihre Lefzen hochzogen.
»Was tun Sie da?«, rief er mir von Weitem durch den Regen zu.
»Ich … ich schaue nur. Ich interessiere mich für Kommunikationsanlagen. Ich habe gehört …«
»Fahren Sie sofort weiter!«, unterbrach er mich, während die Hunde kläfften und sich gegen den Zaun warfen. »Der Zutritt ist untersagt. Fahren Sie weiter, wenn Sie keinen Ärger wollen!«
In mir begehrte etwas auf.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ich stieg in den Wagen und folgte der Straße entlang des Zauns. Ein Eingangstor, verschlossen und bewacht wie das einer Kaserne, glitt an mir vorüber.
All diese Vorsichtsmaßnahmen erschienen mir reichlich übertrieben für einen abgeschalteten Kommunikationssatelliten. War Telstar etwa doch noch in Betrieb? Und wenn ja, was war seine jetzige Funktion?
Die Straße bog in Richtung Küste ab. Ein Wegweiser machte auf einen der hier zahlreich vorkommenden Menhire aufmerksam.
Plötzlich ragte der Stein haushoch vor mir auf.
Ich parkte an der mächtigen Basis des Monolithen und schirmte meine Augen gegen den bleiernen Himmel ab, um das Relief im oberen Viertel zu betrachten. Wie ich einer Schautafel entnehmen konnte, hatte man im 17. Jahrhundert ein Kreuz aus der Spitze des Steins herausgearbeitet, um seine heidnische Magie zu neutralisieren. Unter dem Kreuz befand sich eine Reihe von Symbolen: Der Mond auf der linken, die Sonne auf der rechten Seite, Hammer, Zangen, ein Totenschädel. Alle stark verwittert und doch deutlich erkennbar.
Das erinnerte mich an etwas, das ich im vergangenen Jahr bei einem Essen mit Claudine gesehen hatte. Im ältesten Haus von Paris, der Taverne Nicolas Flamel, in der Rue de Montmorency 51. Claudine, die ein Studium der Philosophie absolvierte, hatte mich dorthin eingeladen. Während wir auf das Essen warteten, erzählte ich ihr von einer Reportage mit dem Titel Der Mann, der Blei zu Gold machte, die ich zu dieser Zeit für Le Monde verfasste. Es handelte von Glenn T. Seaborg, dem es in den Fünfziger Jahren gelungen war, Goldatome künstlich herzustellen.
»Du und deine Physiker!«, hatte Claudine gesagt. »1382, lange bevor die mit Wörtern wie Beta-Zerfall, Unschärferelation oder statischer Matrix um sich warfen, gelang es Nicolas Flamel, Silber in Gold zu verwandeln. Nach ihm ist diese Taverne benannt.«
Dann erklärte sie mir mit verschwörerischer Miene, dass die Symbole am Mauerwerk der Taverne von Nicolas Flamel höchstpersönlich eingraviert worden waren. Sie entstammten angeblich einem geheimnisumwobenen Buch, dem Mutus Liber. Claudine hatte mir sogar, kurz bevor sie mich endgültig verließ, einen Faksimiledruck aller fünfzehn erhaltenen Bildtafeln dieses Buchs geschenkt. Die letzte Tafel zeigte die ungewöhnliche Darstellung von Mond und Sonne, Hammer, Zange und eines Totenschädels. Just diese Symbole fand ich hier nun also wieder.
Flamel war 1419 gestorben. Seine Anhänger bestritten das allerdings. Angeblich hatte man ihn auch nach seinem Tod immer wieder gesehen. Und hatte man nicht bei einer Exhumierung anstelle seiner Gebeine lediglich Baumstämme gefunden? Es verwunderte nicht, dass man ihm auch die Entdeckung des Steins der Weisen zuschrieb, der ewiges Leben versprach.
Wie konnte bloß jemand diesen Unsinn glauben?
Schwindelnd von der Fülle der Assoziationen machte ich einige Photographien von dem Menhir, um diese später zu Hause mit den Bildtafeln des Mutus Liber zu vergleichen.
Auf dem Rückweg hatte ich genügend Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Dabei fiel mir ein, daß ich von einer Verbindung zwischen Nicolas Flamel und den Eingeweihten von Eleusis gehört hatte.
In der Mitte der Siebziger Jahre war im Vorabendprogramm der Télévision Française1 eine Serie mit dem geheimnisvollen Titel Les Compagnons d’Eleusis ausgestrahlt worden. Ich erinnerte mich an kaum mehr als verwaschene Bilder von Reliefs mit verwitterten Schriften und an eine Musik, die düstere Vorahnungen heraufbeschwor. Je mehr ich mich darum bemühte, mir darüber hinaus etwas ins Gedächtnis zu rufen, desto rascher schienen mir die wenigen noch vorhandenen Bilder zu entgleiten.
Ich war dennoch sicher, dass diese Fernsehserie damals etwas in mir geweckt hatte, das wie die Resonanz einer dunklen Saite fortklang.
Auch Claudine musste die Serie eigentlich noch kennen. Sie war ein Jahr älter als ich. Ich hatte allerdings seit unserer Trennung nicht mehr mit ihr gesprochen und war mir nicht sicher, wie sie auf mich reagieren würde.
Mit zitternden Fingern wählte ich die alte Telefonnummer. Die Straßenlaterne vor dem Haus flackerte, und der Wind riss an den Läden.
Am anderen Ende der Leitung hob jemand den Hörer ab.
»Hallo?« Sie klang unendlich fern. »Ach, du bist’s! Du hast Glück, ich wollte gerade …«
Ich hatte Angst, sie könnte wieder auflegen, bevor ich ihr den Grund meines Anrufs genannt hatte. Also plapperte ich einfach drauflos, erzählte ihr vom Telstar, dem Menhir und dem Mutus Liber.
Die Zweifel in ihrer Stimme waren nicht zu überhören, als sie sagte: »Aber das ist doch nur eine Legende, Georges. Ich kenne dich so gar nicht. Diese Eingeweihten von Eleusis …«
»Claudine, ich bitte dich um einen einzigen Gefallen.«
»Schon gut, mein Rechner läuft noch, ich … einen Moment …«
Ich stellte mir vor, wie sie meine Stichworte in eine Suchmaschine eingab und sich innerhalb von Sekunden eine Auswahl aus Tausenden von Seiten auf dem Bildschirm aufbaute.
»Da haben wir’s … hör zu: Ein Journalist erforscht die Geheimnisse einer Organisation, die sich die Eingeweihten von Eleusis nennt und eine Tonne Gold ungewisser Herkunft auf den Weltmarkt wirft … hm, Nicolas Flamel, die Templer, dreißig Folgen im TF 1 … Wieso fragst du nicht einfach mal beim Sender nach?«
Sie hatte recht. Wie immer. Ich befolgte ihren Ratschlag am nächsten Tag. Doch zuvor durchkämmte ich in einem Internetcafé eine Reihe von Foren. Die Zahl der Menschen, die sich nach all den Jahren noch für die Serie interessierten, war erstaunlich groß. Seltsamerweise konnte sich keiner von ihnen an Einzelheiten erinnern. Ich fragte mich, wie das möglich war? Doch auch mein ansonsten zuverlässiges Gedächtnis war in dieser Sache eine Landkarte voller weißer Flecken.
Über Nicolas Flamel und die Alchimie gab es unzählige Websites. Wahllos klickte ich von einer zur nächsten. Bis ich auf eine stieß, in der Joe Meek erwähnt wurde.
Wieso auch nicht? Er hatte Töne miteinander verschmolzen, Klänge destilliert, gebogen und geschmiedet.
Auch der Name Telstar fiel.
Einen Tag, bevor der Kommunikationssatellit ins All geschossen worden war, hatten die Amerikaner mitten in der Kuba-Krise eine Atombombe im Erdorbit gezündet. Aufgrund der Strahlung waren sowohl Telstar als auch eine Reihe weiterer künstlicher Himmelskörper ausgefallen. So hieß es in den offiziellen Darstellungen.
Erschöpft und mit brennenden Augen begab ich mich nach Hause und wählte dort die Nummer der TF1. Ich musste mich einige Male weiterverbinden lassen, bevor sich die angenehme Stimme einer jungen Frau meldete: »Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber wir haben sämtliche Kopien vernichtet, um in unserem Archiv Platz für neue Produktionen zu schaffen. Wenn Sie möchten, notiere ich mir gerne Ihre Adresse. Dann könnte ich Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, falls ich Ihnen doch in irgendeiner Weise weiterhelfen kann.«
Dass ich womöglich einen Fehler machte, als ich dieser Bitte nachkam, wurde mir erst später bewusst. Ich war mir sicher, dass es nie eine Benachrichtigung geben würde und beschloss, die ganze Geschichte, die mich nun schon genug Zeit gekostet hatte, einfach zu vergessen.
Doch einige Tage später entdeckte ich auf einem Antiquitätenmarkt durch einen unglaublichen Zufall ein altes VCR-Videoband mit einer privaten Aufzeichnung der TF 1-Serie.
Der Verkäufer erklärte mir, er habe es im Nachlass seiner vor einigen Wochen verstorbenen Mutter gefunden.
»Monsieur, ich dachte, vielleicht möchte jemand die Kassette kaufen zum Überspielen. Ich mache Ihnen einen guten Preis.« Er schien ein ausgesprochen einfacher Mensch zu sein, und er brauchte offensichtlich jeden Cent, den er kriegen konnte.
Ich verbarg meine Aufregung angesichts dieses unerwarteten Fundes und kaufte die Videokassette, die verstaubt war und einen reichlich lädierten Eindruck machte.
Was für ein Glück, dass ich mich nie von etwas trennen konnte. Ich besaß einen der alten VCR-Rekorder, den ich mir Anfang der Siebziger für viel Geld geleistet hatte. Nachdem ich ihn umständlich aufgebaut hatte, legte ich mit zitternden Fingern die Kassette ein und drückte die Starttaste. Surrend wurde das Band eingefädelt. Ein von Streifen durchzogenes Bild erschien auf dem Schirm: der Schriftzug, an den ich mich noch vage erinnert hatte. Die Tonspur schien beschädigt. Die Musik war nur zu erahnen, dumpf und verzerrt. Aber was wollte ich von einer Kassette erwarten, die wahrscheinlich über dreißig Jahre lang auf einem Dachboden gelegen hatte?
Auch das Bild ruckelte, während eine Szene gezeigt wurde, in der ein Mann und eine Frau Leinentücher über den Boden zogen und über einer silbernen Schüssel auswrangen. Und dann hing das Band fest.
Verzweifelt entnahm ich die Kassette dem Fach des Rekorders und versuchte sie zu reinigen. Dann probierte ich es erneut, spulte das Band an den Anfang zurück und ließ es abspielen.
Es blieb an derselben Stelle hängen.
Auch beim nächsten und übernächsten Versuch.
Enttäuscht starrte ich auf das Standbild.
Die Kamera war etwas näher an die beiden Menschen herangefahren.
Das Bild war grobkörnig aber doch deutlich genug, um mich den Mann erkennen zu lassen.
Dieser Mann … war ich selbst.

Wie betäubt ging ich in die Küche, um einen starken Kaffee zu kochen. Vom Küchenfenster aus sah ich nachdenklich durch die Schlieren, die der Regen auf der Scheibe hinterließ, die Dächer der Vorstadt mit ihrem bizarren Wald aus Antennen, Kaminen und dem Chaos von Versorgungskabeln.
Das Läuten des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Es war Claudine.
»Georges, ich habe etwas herausgefunden!« Die Aufregung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Dieser Joe Meek hat womöglich keinen Selbstmord begangen. Und diese Eingeweihten von Eleusis …« sie zögerte.
»Ja?«
»Nun, den Teilnehmern war es unter Androhung furchtbarer Strafen verboten, Wissen darüber weiterzugeben. Ich kann dir das alles am Telefon nicht erklären. Ich muss dich treffen.«
»Gut. Wo?«
Sie flüsterte einen Namen. »In … sagen wir … einer halben Stunde?« Hatte sie etwa Angst, dass wir abgehört wurden?
»Ich werde da sein.« Mit gemischten Gefühlen legte ich den Hörer auf. Ich hatte keine Zeit gehabt, Claudine etwas von meiner neusten Entdeckung zu erzählen. Aber war das überhaupt von Belang?
Als ich das Haus verließ, fühlte ich mich beobachtet, konnte jedoch weder auf der Straße noch hinter den blinden Fenstern jemanden ausmachen. Der Sturm hatte an Wut zugenommen. So, wie es die Meteorologen angekündigt hatten. Ich fragte mich, wann sie in der Lage sein würden, das Wetter mittels ihrer Satelliten nicht nur vorherzusagen, sondern auch zu beeinflussen. Perfekte Wetterverhältnisse überall auf der Welt. Jedem das Wetter, das er sich wünschte. Aber auch ungeheure Macht. Die Macht, ganze Ernten zu vernichten und Städte versinken zu lassen, blühende Landstriche in Wüsten zu verwandeln.
Claudine verspätete sich. Ich blieb im Wagen sitzen und beobachtete den Verkehr. Rote Bremslichter öffneten und schlossen sich wie Augen. Der Regen trommelte aufs Dach meines Renaults.
Verspätungen passten gar nicht zu Claudine. So flüchtig ihr Wesen auch auf den ersten Blick erscheinen mochte, gehörten doch Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zu ihren ausgeprägten Eigenschaften. Ich fragte mich, ob ich sie wohl richtig verstanden hatte.
Warum hatte sie den Friedhof von Saint Jacques la Boucherie als Treffpunkt gewählt? Weil wir dort vor einigen Jahren einen wundervollen Sommertag verbracht hatten? Oder weil sie mir etwas Bestimmtes zeigen wollte?
Nach einer halben Stunde begann ich, mir ernsthafte Sorgen zu machen.
Von einer Telefonzelle aus, durch deren Dach es hereintropfte, versuchte ich, Claudine zu erreichen. Der Apparat mit der altmodischen Wählscheibe weigerte sich, meine Münzen anzunehmen. Dann endlich … das Freizeichen.
Doch sie hob nicht ab. Enttäuscht legte ich den Hörer auf und verließ die Zelle. Dabei fiel mein Blick auf eine unscheinbare bronzene Tafel, die am Zaun des Friedhofs angebracht war. Darauf stand geschrieben: »Hier ruhen die sterblichen Überreste des Nicolas Flamel, geboren 1330 in Pontoise, gestorben 1419 in Paris. Resquiet in pacem.«
Jemand hatte mit einem wetterfesten schwarzen Stift einen Mond und eine Sonne darauf gekritzelt und in einer kaum lesbaren Schrift die Worte: »Dies ist eine Lüge. Flamel lebt.«
Ich ahnte plötzlich, dass Claudine nicht mehr kommen würde, und fragte mich, was ich wohl zu sehen bekäme, wenn das Band weiterlaufen und die Kamera in Les Compagnons d’Eleusis z um Gesicht der Frau hinüberschwenken würde.
Mit tropfnasser Kleidung stieg ich in meinen Wagen und machte mich auf den Heimweg. Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich nicht alleine war. Es verstärkte sich noch, als ich einige Wagen hinter mir einen schwarzen Citroên DS bemerkte. E rleichtert atmete ich auf, als das Fahrzeug noch vor Erreichen meiner Straße abbog.
Müde stieg ich zu meiner Wohnung hinauf. Im Treppenhaus hing ein Geruch von Feuchtigkeit und kaltem Zigarettenrauch. Ich schloss die Tür auf. Die Zimmer erschienen mir plötzlich fremd, nicht mehr wie der stille Rückzugsort, der sie bisher gewesen waren. Im Nachbarhaus quäkte ein Radio. Ich konnte es durch die Wand hindurch deutlich hören, ohne jedoch ein Wort zu verstehen.
Erschöpft setzte ich mich in einen Sessel und schaltete den Fernseher ein.
Eine dieser Gameshows, die zurzeit so beliebt waren, flimmerte über den Bildschirm. Wahnsinnige Kamerafahrten, blitzende Lichter, ohrenbetäubende Jingles, eine Assistentin mit festzementiertem Dauerlächeln. Brot und Spiele für das Volk. Verschleierung anstelle von Aufklärung.
Es war jedesmal dasselbe Prinzip.
Und endlich begriff ich, wie das alles zusammenhing.
Die Eingeweihten von Eleusis widersetzten sich seit Jahrhunderten der zunehmenden Kontrolle durch die Mächtigen dieser Welt. Ihre subtilen Versuche, die Menschheit zu warnen, wurden ebenso unterbunden, wie ihr Bestreben, durch die Entwertung des Goldes die uneingeschränkte Macht ihrer Gegenspieler zu brechen. Nicolas Flamel war einer der ihren. Ob er nun tatsächlich noch lebte oder nicht, er hatte eine ebenso wichtige Rolle gespielt wie der verrückte Joe Meek, der mit seinem Telstar die Hymne eines neuen Zeitalters geschrieben hatte. Vielleicht war er durch einen Zufall auf die Wahrheit gestoßen und hatte sie auf seine Weise verbreiten wollen. Auch ich kannte sie nun. Der Telstar war noch immer aktiv. Und er verbreitete die Botschaft.
Aber ich konnte niemandem davon erzählen, denn kein Mensch würde mir glauben.

Ich höre eine neue Welt. Die Erde ist von Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Satelliten umgeben. Ihre Relais klicken und fiepen unermüdlich. Seitdem wir Mobiltelefone und Navigationsgeräte benutzen, können sie jederzeit unseren Aufenthaltsort bestimmen. Sie wissen, wann und wieviel Geld wir abheben und wann wir welche Straße benutzen. Sie kennen unsere sexuellen Vorlieben, unser Kaufverhalten und unsere Freizeitgewohnheiten. Und sie werden nicht eher ruhen, bis sie auch den letzten freien Menschen unter ihrer Kontrolle haben. Wer das System durchschaut, wird aus dem Weg geräumt.
Es klopft an der Tür.
Ich stehe auf und schalte den Fernseher aus.
Zu spät.
Sie sind da.

ENDE