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Kriminalakte 3 – Zehn kleine Kinderlein

Zehn kleine Kinderlein

Reinach in der Schweiz, im Sommer 1971

Ein Hoch aus den Azoren beschert dem Kanton Baselland an diesem schicksalshaften 6. August einen sonnigen und warmen Sommertag. Für die Ortschaft Reinach, in der an diesem Freitag das alljährliche Dorffest beginnt, ein geradezu perfektes Wetter. Selbst am Abend ist es noch so mild, dass keiner der Festbesucher irgendeinen Gedanken an eine Jacke oder an einen Pullover verschwendet. Man genießt die Geselligkeit, man lacht und amüsiert sich.

Daniel Schwan ist einer dieser Festbesucher.

Der Zehnjährige ist ein wohlerzogener Junge, der sich in den Abendstunden auf den Nachhauseweg macht, obwohl es gerade jetzt erst auf dem Fest so richtig lustig wird.

Aber Daniel kennt die Regeln, die seine Eltern aufgestellt haben. Es ärgert ihn zwar, dass er jetzt schon gehen muss, doch als er sieht, wie viele andere Menschen das Fest ebenfalls verlassen, wird seine Enttäuschung mit jedem Schritt, der ihn näher an sein Zuhause bringt, etwas kleiner.

Dazu kommt, dass er auf seinem Weg nicht allein ist.

Ein hagerer, scheinbar freundlicher Mann mit einer viel zu großen Brille auf der Nase begleitet ihn, nachdem sie festgestellt haben, dass ihr Nachhauseweg fast der gleiche ist.

Sie spazieren durch den Auenwald in Richtung Therwil, als es passiert.

Der Mann berührt Daniel da und dort, an Stellen, wo kein zehnjähriger Junge von einem fremden Mann berührt werden will.

Daniel schreit.

Der Mann legt ihm beide Hände um den Hals und würgt ihn.

Daniel stirbt qualvoll.

Beim Erwürgen ist der Verschluss der Gefäße wesentlich unvollständiger als beim Erdrosseln.

Hier steht die Verlegung der Atemwege im Vordergrund. Die Stimmritze kann bereits mit relativ geringem Druck verschlossen werden. Das Bewusstsein bleibt zunächst erhalten und es kommt zur Gegenwehr, weshalb man beim Täter unter Umständen Kratz- und Bissverletzungen vorfindet.

Die meist regellose Verteilung der Würgemale ist mit der Abwehr des Opfers zu erklären, wodurch der Täter des Öfteren um- und nachgreifen muss. Aufgrund des prolongierten Verlaufs findet man als Zeichen der bronchialen Hypersekretion bisweilen einen weißlichen bis rosaroten, feinblasigen Schaumpilz in den Bronchien und der Trachea, in ausgeprägten Fällen auch in Mund und Rachen.

Dieser verflüssigt sich nach gewisser Zeit wieder und bildet die typischen Abrinnspuren in den Mundwinkeln des Erwürgten, die von Laien oft mit Blutungen aus Mund und Nase verwechselt werden.

Doch von alldem ist bei Daniel Schwan nichts mehr zu sehen, denn als er endlich gefunden wird, sind fast zwei Wochen vergangen. Der Junge wird zwar bereits am nächsten Tag als vermisst gemeldet, aber die Suche nach ihm bleibt erfolglos.

Dann meldet sich am 12. August die Wirtin eines Restaurants in Liestal und erzählt der Polizei, dass ein gewisser Werner Ferrari am Samstag, den 7. August angerufen habe und sich bei ihr erkundigte, ob die Sache mit dem vermissten Jungen bereits im Radio durchgegeben wurde. Zu einem Zeitpunkt also, an welchem noch nichts vom Verschwinden des Jungen an die Öffentlichkeit gedrungen war.

Walter Ferrari wird umgehend verhaftet. Er legt am 18. August 1971 ein Geständnis ab und führt die Polizei noch am gleichen Tag zum Tatort und der Leiche des Jungen.

Mit dem Urteil des Strafgerichts Baselland vom 12. April 1973 wird Werner Ferrari der vorsätzlichen Tötung von Daniel Schwan für schuldig befunden und zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt.

Das Bild, das Werner Ferrari während der Verhandlung dabei abgibt und das in fast allen Zeitungen auf der Titelseite prangt, entspricht ziemlich genau der landläufigen Vorstellung, wie ein Triebtäter, den die Medien als Bestie und Ungeheuer bezeichnen, aussieht.

Ein hagerer Mann, dessen abgezehrtes Gesicht von langen, wild wuchernden Haaren umrahmt ist, und der den Eindruck erweckt, als würde er von einer wilden Hundemeute gehetzt. Ein ungepflegter Schnurrbart säumt seine zu einem Strich zusammengepressten Lippen und hinter einer viel zu großen Brille blinzeln kleine, stahlblaue Augen.

Fast jeder im Gerichtssaal fragt sich, was diesen Mann dazu getrieben hat, einen zehnjährigen Jungen brutal zu erwürgen.

Die Antwort ist nicht schwer, ein Blick in die Kriminalakte Werner Ferraris hätte genügt. Der Baseler Professor B. Dukor hatte ihn bereits 1965 nach eingehender Untersuchung als wandelnde Zeitbombe bezeichnet und sehr klar vorhergesagt, was irgendwann unweigerlich passieren würde.

 

*

 

Werner Ferrari erblickt am 29. Dezember 1946 in Basel das Licht der Welt, muss aber bei der Geburt mit der Zange geholt werden. Die Mutter, Gertrud Ferrari, ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und weiß nicht, ob der Mann, den sie zwei Jahre später heiratet, auch der Vater ihres Kindes ist. Die Ehe hält zwei Jahre und noch im Jahr der Scheidung heiratet sie ein zweites Mal. Nach acht Monaten ist Gertrud Ferrari bereits wieder geschieden und heiratet 1958 erneut. Werner Ferrari verbringt sein Leben bis zu seinem vierten Geburtstag bei seiner Großmutter. Als seine Mutter zum zweiten Mal heiratet, holt sie den Jungen für kurze Zeit zu sich. Doch für Werner ist es keine schöne Zeit. Seine Mutter vernachlässigt ihn total und prügelt jedes Mal auf ihn ein, wenn er sich nicht nach ihren Vorstellungen verhält.

1951 verfrachtet sie ihn in ein Kinderheim nach Rümlingen. Danach folgen weitere Heimaufenthalte im graubündischen Wiesen sowie in Herisau.

Auf Anraten des dortigen Schulpsychologen wird Werner am 8. Mai 1953 ins Kinderheim

Gott hilft nach Igis bei Landquart überstellt.

Ein halbes Jahr später kann auch Gott nicht mehr helfen und der jetzt Siebenjährige wird in die Kinderbeobachtungsstation im aargauischen Rüfenach verlegt. Dort bleibt er bis zum Juni 1954. In Rüfenach wird er als Kind beschrieben, das an Pseudodebilität, Konzentrationsstörungen, Verwahrlosung und Infantilität leidet, und nach Adelboden weitergereicht, wo er bis Mitte 1956 im Kinderheim Neuenweg untergebracht wird.

Hier vermerkt die Heimleitung, dass er lügt und stiehlt und ins Bett nässt, aber gleichsam auch liebebedürftig, anhänglich und arbeitsfreudig ist.

Als Gertrud Ferrari erneut heiratet, veranlasst Werners Vormund seine Einweisung in das Knabenerziehungsheim Schillingsrain im Liestal, wo sich der Jugendliche bis 1962 aufhält.

In den folgenden Jahren wird Ferrari neben zahlreichen anderen Delikten auch der mehrfachen Brandstiftung überführt und macht sich im April 1965 der Eisenbahnbetriebsgefährdung schuldig, weil er einen Hemmschuh auf die Gleise der Sihltalbahn legt. Er wird zur Fahndung ausgeschrieben, kurz darauf gefasst und in die Anstalt für Epileptische in Zürich eingewiesen.

Der ihn dort begutachtende Arzt kommt zu dem Schluss, dass es sich bei ihm um einen introvertierten und schizoid-kontaktarmen jungen Mann handelt, der wegen seiner mangelnden Anpassungsfähigkeit gefährdet ist.

Nach neuerlichen Delikten gelangt Werner Ferrari schließlich 1965 in die Psychiatrische Universitätsklinik Friedmatt in Basel, wo Professor B. Dukor ein brisantes Gutachten erstellt.

Dukor bezeichnet Ferrari als infantile Persönlichkeit, welche nebst der Unterentwicklung von Intelligenz und Charakter auch psychopathische Züge im Sinne einer schizoiden Kontaktschwäche zeigt. Der Gutachter erkennt in ihm eine Neigung zu unberechenbar-abrupten Handeln. Dukor bezeichnet Werner Ferrari als wandelnde Zeitbombe und schließt die Gefahr nicht aus, dass er eines Tages ein pädophiles Sexualdelikt begeht.

Die Jahre 1967 bis 1971 ändern nichts Wesentliches an der Anstaltskarriere Ferraris.

Beruflich verdingt er sich als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft, bis sich Professor Dukors Gutachten im August des Jahres 1971 auf entsetzliche Weise bestätigt.

 

*

 

Doch der Schrecken ist nicht vorbei, er macht nur eine Pause.

Der Grund dafür ist Werner Ferrari selbst.

Er wird im Gefängnis zum problemlosen Insassen, weicht keiner Untersuchung aus und verhält sich auch sonst vorbildlich. Es gelingt ihm tatsächlich, jeden zu überzeugen, dass er geläutert ist, und dann geschieht das Unfassbare.

Werner Ferrari wird am 11. August 1979, nach gerade einmal sechs Jahren Haft als geheilt aus der Strafanstalt Regensdorf entlassen und für drei Jahre unter Schutzaufsicht gestellt, was einer heutigen Bewährungsstrafe entspricht.

Der Vorsteher der Schutzaufsicht des Kantons Baselland schreibt ihm:

»Wir konnten mit Freuden feststellen, dass Sie sich wirklich geändert haben und sich gut auffangen konnten. Wenn ich auch überzeugt bin, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, besteht doch die Möglichkeit, dass Probleme auftauchen können. Ich möchte Ihnen daher mitteilen, das wir stets bereit sind, Ihnen beizustehen, wenn Sie unsere Hilfe benötigen sollten.«

Die Probleme beginnen bereits neun Monate später. Zwischen dem 16. Mai 1980 und dem 17. Oktober 1987 verschwinden in mehreren Schweizer Kantonen zehn Kinder, als da sind:

• Benjamin Egli, 10 Jahre, am 27. Oktober 1983 in Bassersdorf verschwunden und am folgenden Tag erwürgt aufgefunden.

• Daniel Suter, 7 Jahre, am 7. September 1985 am Dorffest von Rumlang verschwunden und nach 3 Tagen erdrosselt aufgefunden.

• Christian Widmer, 10 Jahre, am 17. Oktober 1987 in Windisch verschwunden und tags darauf erdrosselt aufgefunden.

• Fabienne Imhoff, 9 Jahre, am 26. August 1989 am Dorffest von Hagendorf verschwunden, am kommenden dann erwürgt aufgefunden.

Diese Morde hat Ferrari mehrmals gestanden, die Geständnisse jedoch auch mehrmals widerrufen. Allerdings lassen sich ihm diese Taten durch Zeugen und Indizien lückenlos nachweisen. Des Weiteren wurden noch drei Kinder tot aufgefunden.

• Am 20. März 1982 Rebecca Bieri aus Gettnau, 8 Jahre alt, am 30. September 1982 Stefan Brütsch aus Büttenhardt, 14 Jahre alt und am 14. April 1983 Loredana Mancini aus Spreitenbach, 7 Jahre alt.

• Verschwunden und bis heute vermisst sind seit dem 12. Mai 1984 Peter Roth, 7 Jahre alt aus Mogelsberg, seit dem 28. September 1985 Sarah Oberson, 6 Jahre alt aus Saxon und seit dem 30. Mai 1986 Edith Trittenbass, 8 Jahre alt aus Gass-Wetzikon stammend.

Parallelen zu den vier Morden, die Ferrari gestanden hat, sind unübersehbar.

 

*

 

Für den damaligen Kripochef des Kanton Aargau Urs Winzenried besteht kein Zweifel, dass Werner Ferrari für all diese Taten verantwortlich ist, auch wenn er nur insgesamt 5 Morde gestanden hat.

Das Einzige, was Winzenrieder und die Eltern der toten Kinder tröstet, ist das Statement der Gefängnisleitung, in welchem Werner Ferrari einsitzt.

»Werner Ferrari gilt als rückfälliger Täter. Aufgrund der Aktenlage kommt Vollzugserleichterung nicht mehr infrage. Mit anderen Worten: Er hat sich darauf einzustellen, dass er sein restliches Leben in einer geschlossenen Vollzugsanstalt verbringen muss. Jegliche Erleichterungen können schon deshalb nicht bewilligt werden, weil ein derartiger Schritt der Vollzugsbehörde von der Gesellschaft nicht verstanden und mitgetragen würde.«

Quellenhinweis:

  • Peter Holenstein, Der Unfassbare, das mörderische Leben von Werner Ferrari, Oesch Verlag AG 2002, ISBN 3035020019
  • www.serienkillers.de

(gs)