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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der braune Puder

Der braune Puder

 

I

 

Dort ging er lang. Er hieß Ogen. Er war jung und hübsch, und sein Vater war der reichste Kaufmann der Stadt. Die anderen Mädchen waren auch hinter ihm her, doch sie hatten, obwohl manche von ihnen sehr schön waren, genau wie Zini keine Chance, ihn zu bekommen. Ogens Vater hatte eine Reihe von Geschäftsfreunden im ganzen Land, und er erwartete, dass Ogen eine der wunderhübschen Töchter dieser bedeutenden Herren zur Frau nahm.

Zini, die ihm gerade aus dem Küchenfenster ihres Elternhauses nachschaute, war traurig darüber, dass sie Ogen nicht bekommen konnte, und haderte mit Gott, dass ihre Eltern nicht reich waren und dass sie selbst nicht hübsch war. Sie war gerade einundzwanzig Jahre alt geworden und wäre nun in dem richtigen Alter gewesen, um Ogens Frau zu werden, der etwa drei Jahre älter war als sie. Zini zog die Gardine wieder vor, und als sie zu ihrem Zimmer zurückgehen wollte, liefen ihr Tränen über die Wangen.

»Kind, was hast du?«, fragte sie die Großmutter, die ebenfalls im Flur unterwegs war und Zini auf der Treppe begegnete. »Du bist ja ganz außer dir!«

»Ach, Großmutter!«, erwiderte das Mädchen. »Ich bin so traurig, weil ich meinen geheimen Schatz Ogen, den Sohn der Tautzers, wohl niemals zum Mann bekommen werde. Er schaut nicht einmal nach den schönsten Mädchen der Stadt, also schon gar nicht nach mir, und sein Vater will ihn mit einer der Töchter seiner Geschäftsfreunde verheiraten.«

»Da kann ich dir vielleicht helfen, Kind!«, sagte die Großmutter geheimnisvoll. »Komm einmal mit mir in mein Zimmer!«

Zini folgte der Alten stumm zu ihrem Zimmer. Dort angekommen bat die Großmutter sie, auf dem Sofa am Fenster Platz zu nehmen und holte eine schwarze Eisenkiste aus dem Wandschrank, die mit einem großen Schloss versehen war. Sie stellte die Kiste auf den Tisch, holte einen kleinen, eisernen Schlüssel herbei und öffnete sie damit. Im Innern befanden sich eine Puderdose und ein Quast, der dazugehörte.

Die Alte gab Zini beides in die Hand und sagte: »Diesen braunen Puder hat mir dereinst meine eigene Großmutter vererbt, die sich mit den Kräutern des Waldes und der Felder gut auskannte. Sie sagte mir, wenn einmal eine Frau den Puder benutze, so werde sie hernach die Allerschönste des ganzen Landes sein und jeden Mann bekommen, den sie haben wolle. Ich hatte es damals allerdings nicht nötig, den Puder zu benutzen, da ich deinen Großvater – Gott hab ihn selig – auch so bekam, und er der Mann war, den ich haben wollte. Nun aber, so scheint es mir, kann dieser Puder dir vielleicht helfen, den Mann deiner Träume zu bekommen. Deshalb sollst du ihn haben.«

Zini glaubte ihrer Großmutter nicht so recht, nahm aber den Puder mit zu ihrem eigenen Zimmer und puderte sich damit das Gesicht ein. Sofort aber konnte sie im Spiegel bemerken, wie sich ihr Gesicht im Nu veränderte und sie zu einer außergewöhnlichen Schönheit wurde. Ob Ogen sie wohl jetzt beachten würde? …

 

II

 

An einem der folgenden Tage begegnete Ogen Zini in der Stadt. Von da an hatte er nur noch Augen für sie, bemühte sich, oft mit ihr zusammen zu sein und setzte schließlich auch bei seinem Vater durch, Zini heiraten zu dürfen.

Wenige Wochen später fand die Hochzeit der beiden statt, und in der Kirche zwinkerte die Großmutter ihrer Enkelin zu, als Ogen ihr das Jawort gab. Einige Monate später starb die Großmutter. Da sie Zini aber kurz vor ihrem Tode noch gesagt hatte, sie solle nicht traurig sein, da sie jetzt wohl endlich den Großvater, den sie so lange vermisst habe, wiedersehen werde, war Zinis Trauer nicht gar so schlimm.

In den kommenden Jahren gebar Zini Ogen zwei Töchter und einen Sohn, und die Familie lebte glücklich miteinander, durchaus wohl auch deshalb, weil sie keine Geldsorgen hatte. Zini gefiel es, dass sie auch dann noch, als ihre Töchter schon fast erwachsen waren, so schön war, wie damals, als sie den braunen Puder benutzt hatte. Sie veränderte sich bis dahin nicht ein bisschen und wurde zu dieser Zeit häufig für eine Schwester ihrer Töchter gehalten.

Erst als diese verheiratet und selber Mütter waren, und als Ogen fast sechzig Jahre alt war und ihm die grauen Haare zum Teil schon ausfielen, begann Zini, sich ob ihrer jugendlichen Schönheit, die sich noch immer nicht verändert hatte, zu grämen. Schließlich wurde Ogen achtzig Jahre alt, erkrankte schwer und starb. Zinis Kinder erwarteten in diesen Tagen schon ihre eigenen Enkelkinder, aber Zini sah noch immer genauso aus, wie bei ihrer Hochzeit mit Ogen. Beschämt verhüllte sie künftig ihr Gesicht, wenn sie auf die Straße ging, und die Leute sprachen schon hinter vorgehaltener Hand davon, dass sie einen Pakt mit dem Teufel habe. Was nur sollte sie tun? Sollte sie ihrem Leben selber ein Ende machen?

Da aber erfuhr sie durch eine ihrer Enkelinnen, dass am Stadtrand in der Nähe des Waldes eine alte Kräuterfrau lebe, die immer einen Rat wisse. Sie beschloss, diese Kräuterfrau aufzusuchen …

 

III

 

Etwa zwei Stunden später kam Zini am Haus der Kräuterfrau an. Sie klopfte an der Tür, und von drinnen bat sie eine Stimme herein. Zini stellte sich der Alten vor, ohne ihr Gesicht zu enthüllen, und erzählte ihr von ihrem Problem.

»Ich persönlich kann Euch leider nicht sagen, wie Ihr die Wirkung des braunen Puders Eurer Großmutter aufheben könnt«, sagte die Kräutermuhme, nachdem sie sich Zinis Geschichte angehört hatte. »Ich kenne auch keine Kräuter, die seine Macht erschüttern könnten. Aber ich weiß von jemandem, der Euch einen Rat geben kann, wie Ihr erreicht, was Ihr wollt!«

»Und wer ist das?«, fragte Zini aufgeregt.

»Tano der Weise,« entgegnete die Alte. »Er wohnt in einem Schloss im Städtchen Regon, keine zwanzig Meilen von hier. Aber er gibt anderen nur dann einen Rat, wenn sie zehntausend Dukaten dafür zahlen!«

»So viel habe ich nicht!«, entfuhr es Zini. »Ich habe meinen ganzen Besitz schon vor Jahren meinen Kindern überschrieben, und sie und ihre Familien brauchen ihn, um leben zu können!«

»Nicht verzweifeln, gute Frau!«, beruhigte sie die Alte. »Ich wüsste da noch eine andere Möglichkeit! Tano sucht zurzeit eine neue Köchin, die so kocht, dass es ihm schmeckt. Bewerbt Euch um diese Stelle und gebt dann drei Wochen lang seinem Essen immer etwas von den Kräutern hinzu, die ich Euch nun gebe! Anschließend verlasst ihn wieder und lasst eine andere für ihn kochen! Dann besucht ihn einige Wochen später erneut, und er wird tun, was Ihr wollt!«

Mit diesen Worten händigte die Alte ihr ein Beutelchen mit Kräutern aus. Zini nahm es entgegen, dankte, verabschiedete sich und trat vor die Tür. Ob die Kräuter helfen konnten? …

 

IV

 

Zini zog zum Städtchen Regon und suchte dort Tano den Weisen in seinem Schloss auf. Sie bewarb sich um die Stelle als Köchin, und er stellte sie ein.

Drei Wochen lang kochte Zini für Tano und gab jedes Mal zu seinen Speisen ein wenig von den Kräutern hinzu, die sie von der alten Kräutermuhme bekommen hatte. Dann aber kündigte sie unter einem Vorwand, und Tano musste sich eine neue Köchin suchen, obwohl es ihm bei Zini so gut geschmeckt hatte, wie noch nie.

Zini wartete nun zu Hause etwa zwei Monate lang ab und machte sich dann auf den Weg, um Tano zu besuchen. Dieser empfing sie mit großem Hallo und erzählte ihr, er habe nach ihr bereits zwei Köchinnen hinausgeworfen und werde bald die dritte entlassen. Zinis Nachfolgerinnen hätten ihm zwar – wie auch sie – seine Lieblingsspeisen gekocht, doch seit sie fort sei, habe ihm nicht ein einziges Mal das Essen geschmeckt. Ob sie nicht erneut seine Köchin werden wolle.

Zini aber gab zur Antwort, sie wolle eine Gegenleistung, wenn sie Tanos neuer Köchin ihre Geheimnisse verraten solle. Tano willigte ein. Da erzählte ihm Zini vom braunen Puder ihrer Großmutter und ihrem Leid. Tano überlegte eine Weile. Dann sagte er, Zini solle zum ehemaligen Haus ihrer Eltern gehen, das seit langer Zeit verlassen hinter einem großen Zaun inmitten von Unkraut vor sich hin verrottete. Dort solle sie in ihrem ehemaligen Zimmer das Fenster öffnen. Dann werde ihr Leid sofort ein Ende haben.

Zini ließ sich von Tano noch einmal versichern, dass er die Wahrheit gesagt habe. Dann übergab sie seiner jetzigen Köchin das Beutelchen mit den Kräutern der Kräuterfrau aus ihrer Stadt. Während sie nach Hause eilte, um zu tun, was der Weise ihr geraten hatte, kochte die Köchin ihrem Herrn das Mittagsmahl, nicht ohne etwas von den Zauberkräutern hinzuzugeben, und diesem schmeckte es fortan wieder so vorzüglich, wie bei Zini.

 

V

 

Wieder in ihrer Heimatstadt angekommen ging Zini schnurstracks zum ehemaligen Haus ihrer Eltern. Als diese damals gestorben waren, hatten sie und Ogen das Haus, das ohnehin schon uralt gewesen war, aufgegeben, es mit einem hohen Bretterzaun umgeben und Fenster und Türen zunageln lassen. So war es nun völlig verrottet, und sie musste sich durch teilweise brusthohes Unkraut ihren Weg zur Eingangstür bahnen. Dort riss sie die Bretter ab, mit welchen die Tür vernagelt war, trat ins Innere und zündete eine Kerze an, die sie mitgebracht hatte, denn im Haus war es stockfinster.

Ihr Zimmer lag im oberen Stockwerk. Sie stieg die Treppe empor und öffnete die Tür. Nichts war verändert worden, seit sie ausgezogen war. Sie öffnete das Fenster. Kaum aber erreichten die Strahlen der Sonne ihre alte Kuckucksuhr an der Wand, da begann diese zu schlagen und tickte weiter, während sie in den vergangenen Jahren wohl stehen geblieben war. Im selben Moment jedoch, als ihre Uhr wieder lief, bemerkte Zini, wie sich ihr Gesicht und ihr Körper veränderten. Sie trat vor ihren alten Spiegel und weinte vor Glück. Im Nu war sie um Jahrzehnte gealtert, und die Wirkung des braunen Puders war aufgehoben. Ihre Zeit schritt wieder fort, und sie würde wohl bald ihren geliebten Mann Ogen wiedersehen!

Sie ging nach Hause zu ihren Lieben zurück, und alle freuten sich mit ihr, dass ihr Leid nun ein Ende hatte. Sie lebte noch zwei Jahre im Kreise ihrer Familie und folgte dann alt und lebenssatt ihrem Manne nach. Den braunen Puder aber verstreute sie auf der Wiese hinter dem Haus, und darauf wuchsen fortan in jedem Jahr Tausende von Gänseblümchen.

(hb)