Heftroman der Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Geschichte um Rip van Winkle

Die Geschichte um Rip van Winkle

Die Geschichte von Rip van Winkle, von Washington Irving erzählt, von Joseph Jefferson gespielt, von F. O. C. Darley gezeichnet und von George Frederick Bristow vertont, ist die bekannteste aller amerikanischen Legenden. In jenen Tagen waren Rip eine reale Person und die van Winkles eine bedeutsame Familie. Als ein träger, gutmütiger, unbekümmerter Bursche lebte er vermutlich in Catskill und begann 1769 seinen langen Schlaf. Seine Frau war ein zänkisches Weib, und um ihren Beschimpfungen zu entkommen, nahm er seinen Hund und sein Gewehr, lief neun Meilen nach Westen aus Catskill hinaus, wo er faulenzte oder jagte, so wie es ihm in den Sinn kam. Es war an einem Septemberabend während eines Ausfluges zum South Mountain, als Rip van Winkle einen untersetzten, wortkargen Mann mit stattlichem Umfang traf. Auf seinem runden Kopf trug er einen Puritaner, die Tuchjacke nach altem holländischen Schnitt mit dem breiten Gürtel reichte ihm bis zu den Spitzen seiner schweren Stiefel. Das Gesicht war grün und grässlich, die Augen schienen unbeweglich zu sein und schimmerten in der Dämmerung wie Phosphor. Der Zwerg trug ein kleines Fass und gab Rip ein Zeichen, dass dieser ihm das Fässchen abnehmen solle. Der gut gelaunte Vagabund schulterte es und marschierte auf den Berg hinauf.

Bei Einbruch der Dunkelheit gelangten sie auf ein kleines Plateau, auf welchem sich zwanzig Männer in der Tracht einer längst vergangenen Zeit befanden, wie Rips Führer aussahen und ebenso still und wortlos waren. Sie spielten mit großem Eifer Bowling. Die Kugeln rollten manchmal über den Rand des Plateaus und polterten wie Donner klingend die Felsen hinab. Eine mit einem Mantel bekleidete Gestalt mit schneeweißem Bart, beobachtend und auf Distanz bedacht, drehte sich wie die anderen um und blickte unruhig auf die Ankömmlinge, die sich ihnen näherten. Rip wollte sich zunächst aus dem Staub machen, aber der unheimliche Glanz in den Augen der Gestalt ließ ihn auf der Stelle erstarren. Er war nicht abgeneigt, als sie ihm zu verstehen gab, dass Fässchen abzusetzen, es anzuzapfen und sich einen Schluck edelsten Schnapses zu genehmigen, welchen er jemals gekostet hatte. Rips Körper durchdrang eine wohliges Wärmegefühl. Dann, von Müdigkeit übermannt, legte er sich hin, streckte seine müden Beine aus und fiel in einen tiefen Traum.

Frühmorgens. Sonnenlicht und der Schatten der Blätter wurden über die Erde getupft, als Rip erwachte, sich mit Gewissensbissen steif von seinem Lager erhob und nach seinem Gewehr griff. Das ohnehin schon altehrwürdige Arbeitsgerät war dermaßen mit Fäulnis und Rost überzogen, sodass es in seiner Hand fast zerfiel. Als er auf die Fragmente seines Gewehrs blickte, stellte er fest, dass seine Kleidung nur noch Lumpen und von Schimmel befallen waren, während sich über seine Brust ein langer weißer Bart ergoss. Verwirrt und beunruhigt schüttelte er wehmütig seinen Kopf, als er sich an das Zechgelage erinnerte, humpelte, so schnell er konnte, mit Rheuma in den Knien und Ellenbogen den Berg hinunter und ging in sein Heimatdorf. Was! War dies Catskill? War dies der Ort, welchen er gestern verlassen hatte? Auch die Menschen. Wo waren seine Freunde? Die Kinder, die mit ihm hergetollt hatten; die Zecher in der Taverne, von welchen er sich noch vor Kurzem verabschiedet hatte, die Hunde, die ihn bellend willkommen hießen und in ihm die verwandte Seele eines Landstreichers erkannten, wo waren sie?

Und seine Ehefrau, deren kräftiger Arm und flinke Zunge ihn dazu trieben, in die Berge zu flüchten? Was war geschehen, dass sie nicht am Tor stand und ihn erwartete? Selbst das Tor war für Rip kein vertrauter Ort mehr: Im Garten schoss das Unkraut in die Höhe, die Grundmauern waren nur noch Trümmer. Rips Haus existierte nicht mehr. Vorübergehende spotteten über seine Erscheinung, über die hagere Gestalt, über den Knoten in Bart und Kopfhaar, über seine zerlumpte Kleidung. Rip blieb instinktiv vor der Taverne stehen und wusste, dass ihm dieser Ort trotz zahlreicher Neuerungen vertraut schien. Ein Mann in blauer Uniform und Dreispitz mit der Aufschrift General Washington stand davor. Schnell versammelten sich vor dem Wirtshaus einige Neugierige. Obwohl ihm die Gesichter fremd vorkamen und ihre Manieren unhöflich erschienen, fragte Rip von Winkle, ob sie etwas über seine Freunde wussten.

»Nick Vedder? Er ist vor 18 Jahren gestorben. Brom Dutcher? Er schloss sich der Armee an und wurde bei Stony Point getötet.«

»Van Brummel? Er zog ebenfalls in den Krieg und sitzt nun im Congress.«

»Und Rip van Winkle?«

»Ja, der ist hier. Er steht dort drüben.«

In völliger Verwirrung sah Rip seinen Pendant, ebenso jung, träge, zerlumpt und lässig geartet, wie er in seinen Erinnerungen an den gestrigen Tag war.

»Das ist der junge Rip«, setzte sein Informant fort. »Sein Vater nannte sich auch Rip van Winkle, er ging vor 20 Jahren in die Berge und kam nie wieder zurück. Er ist wahrscheinlich von einer Klippe gestürzt oder von Indianern verschleppt oder von einem Bären gefressen worden.«

Vor zwanzig Jahren! Wirklich, es war an dem. Rip hatte zwanzig Jahre ohne aufzuwachen geschlafen. Er hatte ein friedliches koloniales Dorf verlassen und kehrte in eine lebhafte republikanische Stadt zurück. Schließlich fand er unter den ältesten Einwohnern einige, die sich an ihn erinnern konnten. Seine verheiratete Tochter und sein Enkelsohn nahmen ihn freundlich auf. Als Rip sich von der Nachricht, dass seine Frau an einem Schlaganfall gestorben war, erholte, setzte er sich wieder an den Zapfhahn in der Taverne, rauchte sein Pfeifchen und spann für den Rest seiner Tage Seemannsgarn.

Ob die Geschichte ein reines Märchen oder wirklich passiert ist, möge jeder für sich selbst entscheiden. Zumindest gehört sie in den Bereich der Mythen und Legenden.

Quelle:

  • Washington Irving, Samuel Heinrich Spiker: Gottfried Crayon’s Skizzenbuch, Band 1. Duncker & Humblot. Berlin. 1825.

(wb)

Eine Antwort auf Die Geschichte um Rip van Winkle