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Kleiner Stern – Teil 6

Plötzlich gerieten zwei Soldaten sein Blickfeld, die routiniert und oft geübt ihre Positionen einnahmen. Einer verharrte vor dem Mädchen und bedrohte sie unnötigerweise mit seiner Waffe. Der andere schritt, aufmerksam die Umgebung kontrollierend, in seine Richtung.

Verflucht, neuartige Jäger, kam es ihm dabei verblüfft in den Sinn.

Gleichzeitig betrachtete Thalen sie intensiv und ausgesprochen neugierig mit ziemlich getrübten Blicken. Es war ein wirklich seltsamer Anblick, den sie boten, diese zwei riesigen Gestalten, die vollständig in einen kugelsicheren Panzeranzug gehüllt waren, Helme mit Vollvisieren trugen und einen unförmigen, gut gesicherten Tornister auf ihren Rücken beförderten.

Was taten diese Scheusale gegenwärtig mit seiner kleinen Freundin? Lesandor spürte durchdringend, dass sie unbeschreibliche Rachsucht erdulden musste, die sich in schrecklichen Anfällen manifestierte. Dennoch bekam er ferner mit, dass es Arin gelang, ihren Schändern dessen ungeachtet wehrhaft Widerstand zu leisten – oder er hoffte es zumindest inständig.

Und nicht zu vergessen, wie sehr hatten sie ihm vorhin wohl geschadet? Er sah kurz an sich herunter und betrachtete schockiert die tödlichen Wunden. Glücklicherweise fühlte er recht wenig Schmerz. Ausschließlich eine merkwürdige Kälte, die sich stetig in ihm ausbreitete.

Nachdem es Thalen endlich wieder schaffte aufzusehen, bemerkte er überrascht, dass sein künftiger Mörder mittlerweile genau vor ihm stand. Der Beamte richtete die Mündung der Waffe eben auf seinen Kopf.

Verdammte Scheiße, dachte Lesandor frustriert, muss das ausgerechnet heute passieren.

»Erzhäretiker Lesandor Thalen, das Todesurteil wird vollzogen«, war der letzte Satz, den er hörte, während ein Schuss seinen Schädel zerriss.

Sein blutigrotes Leben und die gräulichen Brocken seiner Erinnerungen wurden dabei augenblicklich über den schmutzigen Raumgleiter verteilt. Umgehend krachte sein lebloser Körper auf die längst außerordentlich schmierigen Bodenplatten.

***

Der Alpha/Tarest versuchte, sofort nach der erfolgreichen Exekution die Schleuse zu öffnen. Er scheiterte aber.

»Die Zeit reicht nicht aus, das Sekundärobjekt muss später ergriffen werden.«

Seine Schwester Alpha/Semmar antwortete, ebenfalls nur mental: »Bereitet euch vor. Ich werde uns in den Gleiter übertragen.«

Sekundenbruchteile danach materialisierten sie sich im Sicherheitsbereich ihres Schiffes, wo Hoher Rat Skimrod sie bereits ungeduldig erwartete. Arin schwebte derweil zwischen den beiden Soldaten, gehalten und paralysiert von den ungewöhnlich starken psychischen Kräften des abnormen Pärchens.

»Ausgezeichnet, meine Kinder. Ein wirklich exzellenter Einsatz. Erstattet mir unverzüglich Bericht.«

Er hatte die Verhaftung zwar durch die in den Helmen der Soldaten eingebauten Holokameras verfolgt, wollte jedoch mehr Details und einen Statusreport.

»Die Gefangene ist zu 90 Prozent unter unserer Kontrolle. Sie wehrt sich immer noch ungewöhnlich heftig gegen die Totalblockade und ihre ständige Überwachung ist eindeutig erforderlich.«

Der zweite Krieger fügte hinzu: »Tarest schlägt vor, das Objekt unverzüglich zu töten. Solange es einigermaßen kontrollierbar ist, besteht die Möglichkeit dazu. Ansonsten kann er für nichts garantieren.«

Karden strich sich über sein Kinn, wie er es immer tat, wenn er angestrengt nachdachte.

»Wie lange könnt ihr weiterhin für unsere Sicherheit bürgen? Denn der Hohe Rat versammelt sich gerade, um persönlich das Todesurteil zu sprechen und die Medienleute wurden gleichfalls schon benachrichtigt. Der Prozess soll planetenweit übertragen werden.«

Warum habe ich Deggard auch schon über ihre Gefangennahme informiert, schalt er sich gleich darauf, ich hätte ihn lieber geradewegs mit dem Tod der Außerirdischen konfrontieren sollen.

Jedenfalls war es jetzt natürlich zu spät, nachdem dieser so überglücklich darauf reagiert und sogleich einen öffentlichen Schuldspruch mit darauf folgender Pressekonferenz einberufen hatte.

Hm, wie soll ich ihm bloß erklären, dass vielleicht doch nichts daraus wird, überlegte Skimrod verzweifelt, da wir eventuell nichts anderes als eine Leiche vorzuweisen haben.

Ein lebendiger, leidender Schuldiger machte einfach mehr Eindruck.

Dann erwiderte einer der Alphas/Zwillinge: »Semmar schätzt annähernd zehn Stunden.«

Nachher der andere: »Tarest rechnet mit höchstens fünf. Anschließend ist die Tötung wahrscheinlich nicht mehr durchführbar.«

Keine guten Neuigkeiten, dachte Karden, aber letztlich immerhin besser als zunächst erwartet.

Er musste schnellstens Deggard benachrichtigen, dass der Schauprozess in spätestens drei Stunden anfangen und außerdem recht zügig vonstattengehen musste. Das würde ihm natürlich gar nicht gefallen, wo er schließlich sehr gerne überaus lange in direkt übertragenen Sondersendungen auftrat. Besonders, wenn sie dermaßen essenzielle Themen wie dieses behandelten.

***

Ralissan kauerte auch weiterhin unglaublich entsetzt vor der Schleuse. Sie hatte einfach bebend, nur mit ihren psychischen Kräften den Tod Lesandors und das Grauen Arins verfolgen müssen. Jede gnadenlose Einzelheit davon. Aber nun wurde der Startvorgang eingeleitet, der für einen kurzen Moment ihre Trauer verdrängte, da sie sich beeilen musste, die Sicherheit ihres Sitzes zu erreichen.

Als die Fähre kurz darauf abhob, spürte Nolder wieder den gewaltigen Schmerz ihrer beiden Freunde, der noch immer tief in ihr nachwirkte und sehr viel ausgeprägter ihre eigene Hilflosigkeit. Innerlich schaltete sie umgehend ab, denn die Psybegabte durfte und wollte einfach keine weiteren Gefühle mehr zulassen. Weil diese sie sonst vernichten würden.

***

Karden nahm nochmals Kontakt zu seinem Ratskollegen und -vorsitzenden Deggard auf.

»Schlechte Neuigkeiten, alter Freund. Das Ding ist auf Dauer nicht zu kontrollieren. Wir müssen uns leider beeilen, wenn wir es tatsächlich auf die Art durchziehen wollen, wie du es geplant hast.«

Das zufriedene Lächeln auf Holmbroks Gesicht verblasste augenblicklich.

»Was soll das denn heißen – und wie viel Zeit steht uns insgesamt noch zur Verfügung?«

»Tja, dieses Ding ist stärker als wir angenommen haben. Meine Zwillinge werden sie nicht mehr allzu lange in ihrer Blockade halten können.«

Danach erinnerte sich Skimrod erneut an die voneinander abweichenden Schätzungen seiner Kinder.

»Ich würde sagen höchstens sieben Stunden, rechne aber eher mit fünf. Sicher ist dennoch gar nichts. Unsere Ratsversammlung sollte also möglichst bald stattfinden. Ich persönlich werde mit der Gefangenen in spätestens fünfzig Minuten im Ratsgebäude eintreffen.«

Die Zufriedenheit in Deggard gewann langsam wieder die Oberhand.

»Das ist doch in Ordnung. Ich werde den Medienvertretern gleich einen neuen Termin durchgeben. Hm, lass mich überlegen, Punkt zehn in unserer Versammlungshalle. Das müsstest du sicherlich auch hinkriegen?«

»Natürlich, kein Problem. Ach ja, die Hinrichtung sollte gleich darauf durchgeführt werden. Kein großes Trara mehr drum herum. Einfach nur verurteilen, dann töten.«

Das gefiel seinem Ratkollegen nun allerdings keineswegs. Er hatte sich nämlich schon auf einen pompösen Prozess gefreut, der allen Einwohnern des Planetaren Bundes die Macht ihres Hohen Rates demonstrieren sollte und natürlich Marandeus gnadenvolle Gerechtigkeit.

»Gut, gib mir eine halbe Stunde. Das ist bestimmt nicht zu viel verlangt!«

Ganz und gar nicht, dachte Holmbrok grimmig, wenigstens auf diesen Minimalkonsens müssten wir uns trotz aller Gefahr einigen können.

»Alles klar, ich gebe den Zwillingen Bescheid. Hinrichtung dann um – sagen wir Elf. Ist das so gut für dich?«

Karden lächelte ihn voller tiefer Verbundenheit an.

»Ich danke dir, mein Freund. Marandeus soll dich segnen!«, kam es daraufhin aufrichtig gerührt über Deggards volle Lippen.

»Ach, übrigens, meine Piloten haben sofort die Frachterbesatzung über ihren blinden Passagier auf der Fähre informiert. Sie sollen deine abgefallene Alphabegabte festsetzen und an ihrem Zielhafen den Behörden übergeben. Der Start des Schiffes kann ja bedauerlicherweise nicht mehr verhindert werden.«

Holmbrok räusperte sich und würgte ein humorloses Lachen heraus.

»Glaubst du wirklich, dass diese Raumfahrer in der Lage sein werden, meine fähigste Alpha in ihre Gewalt zu bekommen?«

***

Ralissan bekam den Andockvorgang gar nicht richtig mit. Sie saß einfach weiterhin völlig teilnahmslos auf ihrem Sitz und starrte ins Leere. Als sich kurze Zeit später die beiden Sicherheitsschleusen zu ihrem Versteck öffneten, drehte sie sich noch nicht einmal um.

Nur wenigen Augenblicke danach standen zwei äußerst vorsichtige, irgendwie ausgesprochen unglücklich und verängstigt wirkende Besatzungsmitglieder hinter ihr, die leichte Elektroschockgewehre in den Händen trugen, mit denen sie die Alphabegabte sogar tatsächlich bedrohten.

Aber sie weigerte sich derzeit grundsätzlich irgendetwas wahrzunehmen und würde es so bald auch nicht mehr zulassen. Es war ihr einfach zu unwichtig. Sollte doch geschehen, was wollte!

»Äh, Herrin, verehrte Psybegabte, wir sehen uns dazu genötigt, sie festzunehmen. Ähm, es war ein direkter Befehl von der Zentralregierung.«

Gespannt wartete er auf ihre Reaktion, die gänzlich ausblieb.

»Ich glaube, wir müssen die Alpha bewusstlos schocken, bevor wir sie einbuchten können, Rend.«

***

Karden wartete vor einem Seiteneingang, der direkt in die große Versammlungshalle führte, den heiligen Sitz ihres Hohen Rates, der diesen ruhmreichen Planetaren Bund überaus gottgefällig regierte. Es war jetzt Viertel vor zehn. Seine immer noch äußerst aufmerksamen Elitesoldaten mit dem gefangenen Sternenkind in ihre Mitte standen dicht hinter ihm.

Deggard erzählt wahrscheinlich gerade die Geschichte unserer ungemein dramatischen Jagd auf diesen gefährlichen, außerirdischen Schmutz, dachte Skimrod stolz schmunzelnd. Welche seit ihrem Eintreffen nur Chaos verursacht und einen zersetzenden Einfluss auf ihre gläubige Gesellschaft ausgeübt hatte.

Diesem Wesen ist es doch tatsächlich gelungen, eine Alphabegabte vom wahren Licht unseres so mächtigen und außerordentlich gütigen Gottes zu vertreiben, schauderte es den Hohen Rat innerlich, ganz zu Schweigen von dem einfachen Arbeiter der Klasse C.

Was hätte bloß alles geschehen können, wenn ihr weiterhin mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte? Vielleicht wäre eine dunkle Revolution entbrannt. Karden vertrieb diesen schauderlichen Gedanken sogleich aus seinem Bewusstsein. Darüber musste er sich ja jetzt – Marandeus sei Dank – keine Sorgen mehr machen.

Augenblicklich straffte er seine Schultern, da ihr gemeinsamer Auftritt bald beginnen sollte. Schließlich war es Skimrod wichtig, einen würdigen Eindruck zu hinterlassen, mit dem er allen Zusehern auf den sieben Welten im Gedächtnis bleiben wollte. Als starker und selbstsicherer Anführer. Genauso, wie ihn sich die Massen von Herzen wünschten.

***

Deggard saß in der Mitte des halbrunden Regierungspodiums und dachte kurz, jedoch ausgesprochen innig an seine vier Frauen, die wohl gerade ihre zahllosen Kinder behüteten. Von denen er selbstverständlich ebenfalls jedes Einzelne liebte, auch wenn er sie bereits seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte.

Aber der Hohe Rat wusste einfach, dass seine Familie diesen Triumph jetzt natürlich miterleben und genauso genießen würde wie er selbst. Doch er gönnte sich wirklich nur einen flüchtigen Moment des Sinnens. Letztlich verdrängte Holmbrok sie wieder aus seinem Bewusstsein und dachte bloß noch an die wahre Bestimmung seines Lebens.

Welche er gleich darauf überblickte. Nämlich die schwebende Herrschaftsplattform ihres Reiches und alle anderen, bereits bequem sitzenden Hohen Räte. Selbstverständlich fehlte ausschließlich Karden, der ja draußen auf seinen Einsatz wartete.

Deggard informierte unterdessen die anwesenden Journalisten, Kamerateams und Nachrichtenmoderatoren genauestens über ihre derzeitige, äußerst bedrohliche Lage. Sofort legte er ihnen ausführlich dar, dass ein ungenehmigtes Eindringen einer erstaunlich starken und extrem gefährlichen Abartigkeit aus den Weiten des Alls vorläge. Anschließend beendete er seinen Bericht, indem er sorgenvoll schweigend in die Runde blickte. Umgehend erfüllte eine nahezu panische Stimmung den Saal. Holmbrok genoss diese Aufregung eine Weile und bat danach mit elektronisch verstärkter Stimme um Ruhe. Alle anwesenden Menschen richteten schnellstens wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf ihn.

»Keine Sorge. Ich muss ihnen ja außerdem mitteilen, dass es uns gelungen ist, diese Gefahr zu bannen. Das Ding befindet sich längst in unserer Gewalt.«

Die auf seine Worte folgende Erleichterung war unüberhörbar. Der Hohe Rat lächelte daraufhin nachsichtig. Wie ein gütiger Großvater, der seinen Enkeln ein Geschenk überreicht und sich an ihren ungestümen Reaktionen erfreut.

Dann erfüllte plötzlich eine unglaubliche Anzahl gleichzeitig gestellter Fragen die mächtige Halle. Holmbrok dachte gar nicht daran, individuelle Äußerungen zu beantworten oder sie überhaupt aufzunehmen. Er rief sie lediglich schlicht aber wieder außergewöhnlich laut zur Ordnung und brachte prompt allesamt zum Schweigen.

»Zum Ablauf. Das gefangene Wesen wird bald unserer, von Gott befürworteter Rechtsprechung unterstellt. Ich erwarte eine gründliche, Planeten umfassende Ausstrahlung, da der ganze Bund dabei sein soll, wenn wir diese Kreatur ihrer Strafe zuführen als Beweis der Gnade unseres Herrn, die er uns so barmherzig gewährt und seiner Unnachgiebigkeit gegenüber allen Abnormitäten, die es wagen, seine Allmacht anzuzweifeln. Später werde ich einigen, von mir selbst ausgewählten Medienvertretern, eine Unterredung in meinen privaten Räumlichkeiten gewähren.

Allein dort werde ich einzelne Fragen beantworten. Während des Prozesses erwarte ich absolute Ruhe. Missachtung dieser Direktive wird hart bestraft. Bereiten Sie nun alles vor. In fünf Minuten beginnen wir.«

Aufgeregte Hektik entstand hinterher unter seinen Zuhörern. Eilends wurden letzte Vorbereitungen getroffen und Hunderte Senderstationen auf diese, bisher einmalige und unfassbar sensationelle Übertragung vorbereitet. Schließlich war alles soweit. Die Durchführung des gottgewollten Verfahrens konnte beginnen.

***

Rali erwachte mittlerweile als Gefangene in einer der Kabinen des Frachters und kniete sich, ohne weiter auf ihre Schmerzen zu achten, wie üblich auf den Boden. Gleichzeitig wiegte sie ihren Oberkörper mit vor der Brust verschränkten Armen immer wieder vor und zurück.

Dies äußerst ungewöhnliche Verhalten sollte der Alphabegabten helfen, sich erneut innerlich abzuschalten, da es ihr nach den Elektroschocks schlicht nicht mehr möglich war, es auf die normale, lange und bittere Jahre antrainierte Methode hinzubekommen. Also probierte sie es umständlich.

Denn inzwischen quälten sie erneut all die ständig wiederkehrenden Erinnerungen an Lesandors brutale Ermordung und die grausame Festnahme ihrer kleinen Freundin. Sie konnte diese fortwährend in ihr ablaufenden, überaus erbarmungslosen Szenen mit all den damals empfundenen Gefühlen einfach nicht mehr ausblenden.

Wie eine kaputte Holoübertragung wiederholten sie sich ständig. Mittlerweile verzweifelte Nolder schier, weil sie von diesem unaufhörlichen Albtraum seit Langem genug hatte.

»Schluss! Hör endlich auf damit!«

Ihr heiser ausgestoßener Befehl hallte durch den karg gehaltenen Raum. Doch brachte er Ralissan im Grunde gar nichts. So leicht wollte ihr aufgewühlter Verstand es der ehemaligen Beamtin keineswegs machen. Dann kam sie plötzlich auf den Gedanken, sich abzulenken. Umgehend fing sie an, die anderen auf diesem Schiff anwesenden Personen zu durchleuchten. Obwohl sie sich eigentlich geschworen hatte, es keinesfalls mehr unerlaubt zu tun.

Ich habe diesen Eid sowieso schon längst gebrochen, fiel ihr gleich danach ein, als mein geliebter Lesandor und Arin gestellt worden sind.

In dieser ausweglosen Lage hatte Rali ebenfalls alles ungefragt mit Thalens Augen verfolgt. Deshalb stellte sie, ohne weitere Bedenken oder gar schlechtem Gewissen, augenblicklich Kontakt zu ihnen her. Überraschenderweise nahm sie die komplette Besatzung an bloß einem einzigen Ort wahr. Dort diskutierten sie aufgeregt miteinander und beobachteten gespannt einen kleinen Holoempfänger.

Irgendeine Sondersendung war anscheinend vor Kurzem angekündigt worden. Die Sensation des Tages, wenn nicht gar des ganzen Jahrtausends, falls man den vollmundigen Behauptungen des Moderators glauben schenken wollte. Was Nolder natürlich nicht im Traum einfiel. Dennoch beobachtete sie auch weiterhin das Programm mit den Sinnen des Kapitäns.

Ein gemeingefährliches außerirdisches Ding, das scheinbar vorgehabt hatte, ihre Erde durch die Vernichtung des Wahren Glaubens ins Chaos zu stürzen, war entdeckt und nach einer langen außerordentlichen Jagd gestellt worden. In wenigen Minuten würde der Prozess gegen diese abscheuliche Kreatur beginnen. Von den Hohen Räten persönlich geleitet.

Zuerst wusste die Psybegabte nicht so recht, was da wohl geschehen sein konnte, bis sie schlagartig begriff, dass er damit das Sternenkind meinte. Die Kleine war also nach ihrer Verhaftung der Zentralregierung zur Aburteilung überstellt und nicht sogleich nach einem gründlichen Verhör getötet worden.

»Arin, du lebst.«

Sie bezweifelte, dass diese Situation nur im Entferntesten besser war als Thalens immerhin schnelles Ende.

***

Die Gerichtsposse begann mit den einführenden Worten des Hohen Rates Holmbrok, der einen staatstragenden und ehrwürdigen Gesichtsausdruck zur Schau stellte.

»Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ein großes Übel hat sich ereignet. Vor zwei Tagen wurde die verehrte Erde – unsere hoch geschätzte und reich gesegnete Ratswelt – von einer fremden Abnormität infiltriert.«

Er machte eine kurze, sehr theatralische Pause, um den Milliarden von Zuschauern in ihrem Reich die Möglichkeit zu geben, diese schreckenerregende Mitteilung zu verdauen.

»Unsere Talentierten haben aber, Marandeus sei Dank, sofort die Gefahr entdeckt und versucht sie einzudämmen. Leider gelang es nicht gleich, da das fremdartige Wesen sich anfangs als zu stark für unsere ganz alltäglichen Verteidigungsmaßnahmen erwies.

Es konnte deshalb eine kurze Zeit den geheiligten Boden unserer viel gepriesenen Reichshauptstadt Thain Marandeus beschmutzen. Doch nicht nur diesen Frevel beging es. Oh, nein! Es gelang ihm daraufhin tatsächlich, zwei schwache menschliche Geister, die offenbar niemals rein gewesen waren, vollends zu verderben.

Allein durch den Kontakt zu dieser Abartigkeit wurden die Beiden endgültig von Gottes gerechtem Pfad abgebracht. Es stürzte sie für immer ins Dunkel des Unglaubens und mordete somit ihre Seelen. Für all seine schändliche Verbrechen muss es nun bestraft werden – mit dem Tod.«

Abermals setzte ein Raunen ein, das jedoch recht schnell durch die anwesenden Soldaten unterbunden wurde. Diesmal konnte Holmbrok sie ja schließlich schlecht zur Ordnung rufen, weil die Übertragung gerade lief.

»Zum Glück ist es uns mittlerweile gelungen, eine weitere Schwächung unseres Glaubens- und Wertesystems zu verhindern. Wir haben seine immense Destruktivität letztlich beendet. Niemals wieder soll ein ehrfürchtiger, frommer Erdenbewohner eine solch gewaltige Bürde auferlegt bekommen wie diese, inzwischen vom Wahren Glauben abgefallenen Verräter unserer Rasse. Möge Marandeus, der Allmächtige, uns alle vor demselben Schicksal bewahren, das schlimmer ist als der Verlust des Lebens – und auf ewig seine schützende Hand über uns halten.«

Nach diesen Sätzen neigte Deggard seinen Kopf in tiefer, inbrünstiger Demut und betete eine Minute still mit geschlossenen Augen. Seine Ratskollegen folgten sogleich seinem Beispiel genauso wie die versammelten Presseleute.

Nach diesem eindringlichen Bekenntnis wischte er sich eine einsame Träne von der Wange und fuhr fort: »In wenigen Augenblicken wird diese Abscheulichkeit zu seiner Verurteilung und Bestrafung in die heilige Halle geführt. Lassen Sie sich keinesfalls durch das harmlose Äußere täuschen. Innerlich ist es verkommen und absolut unrein.«

Erneut erfüllte ein aufgeregtes Geraune die Luft.

»Keine Sorge, wir schützen Sie!«

Er hob beschwichtigend seine Hände und die Masse verstummte beruhigt.

Der Hohe Rat erläuterte anschließend: »Zwei auf diese Fälle spezialisierte Alphabegabte bewachen das Ding und halten es in einer Psyblase gefangen. Alle weiteren Erklärungen zu unserer neu gegründeten Eliteeinheit und ihren so erfolgreich verlaufenden ersten Einsatz folgen später.«

Dann gab er einen Psybegabten, der unten in der Menge stand und während der gesamten Rede darauf gewartet hatte, den psychischen Befehl, seinem Freund Karden ein vorher vereinbartes mentales Signal zu übermitteln. Damit wurde er zum Eintreten aufgefordert.

»Na, endlich«, kam es dem Hohen Rat Skimrod erleichtert über die Lippen.

***

Rali konzentrierte sich immer stärker auf den Geist des Kapitäns, der überaus schaulustig auf den Holoprojektor starrte. Seine Gedanken waren deshalb klar auf dieses Drama fokussiert, das sich gerade in der Versammlungshalle des Hohen Rates abspielte. Was im Grunde gut für sie war, weil Nolder auf diese Weise alle von der Erde übertragenen Bilder ebenfalls deutlich erkennen konnte. Ganz so, als ob sie selbst vor dem Gerät sitzen würde. Doch besonders glücklich machte es sie wiederum auch nicht, da sie Holmbroks einführender Monolog, der keine Fragen mehr offen ließ, rasch erzürnte.

Hinterher öffnete sich eine Seitentür und schnell wurde aus der anfänglichen Wut ein bitterer Hass, der umgehend in ihr lostobte. Es gelang der Alpha einfach nicht mehr ihn zurückzuhalten. Alles, was Ralissan jemals über die Kontrolle ihrer Emotionen gelernt hatte, war plötzlich unwiderruflich ausgelöscht. Denn sie sah erschüttert ihre fröhliche und aufgeweckte Freundin, die Rali trotz der üblen Umstände ihres ersten Kontakts ganz ohne Vorbehalte zuerst ihr Vertrauen und anschließend ihre Freundschaft geschenkt hatte. Nun schwebte sie gefangen und in Qualen verkrampft zwischen zwei exzellent gerüsteten Wächtern.

Sofort erkannte sie die Beiden, weil Lesandors letzte Wahrnehmungen genau deren gepanzerte Gestalten gezeigt hatten. Rali wurde schier überwältigt von ihrem unglaublichen Abscheu, der sie beim Anblick dieser erbarmungslosen Mörder erfasste, denen ein Hoher Rat voran stolzierte.

Die Gruppe wurde von einem Wall aus Soldaten abgeschirmt, den ein riesiger Pressemob umringte. Allesamt wollten die Gefangene unbedingt genauer betrachten, ein Holobild ergattern oder bloß unverständliche Fragen brüllen.

Die Alpha schlug sich unterdessen mit ihren Fäusten gegen die Schläfen, um ihre Verbindung mit dem Offizier hastig zu unterbrechen. Sie konnte es inzwischen nicht mehr ertragen und kochte innerlich.

Wie könnt ihr verfluchten Bastarde es nur wagen, diesem wundervollen, wirklich liebenswerten Geschöpf so eine furchtbare Gewalt anzutun, grollte es danach bitterböse in Nolder.

Diese fanatischen Bestien erniedrigten gerade ihre unschuldige Freundin. Planetenweit wurde Arin jetzt geschunden der Öffentlichkeit preisgegeben, die bald den offiziellen Todesstoß miterleben durfte. Mit einem Mal schämte sie sich so sehr dafür ein Mensch zu sein und weinte hemmungslos.

***

Der Trupp Ratswächter gab sich redlich Mühe, all diese Neugierigen zurückzuhalten und eine breite Gasse für Kardens eintretende Gruppe zu schaffen, welche sich sogleich auf den Weg machte, um vor die Zentralregierung zu treten. Alle Fragen und Bemerkungen, die daraufhin auf sie einprasselten, wurden schlicht ignoriert.

Von der zuerst vorherrschenden Spannung und nervösen Ängstlichkeit war nichts mehr zu spüren. Zurzeit überwog eher die allgemeine Überraschung, dass diese Fremde ganz offensichtlich noch ein Kind war. Ein Geraune brandete auf, während diese Erkenntnis langsam zu den anwesenden Medienvertretern auch in den hinteren Reihen durchdrang.

Hoher Rat Holmbrok erhob sich und versuchte, die Masse, wieder elektronisch verstärkt dröhnend, zum Schweigen zu bringen. Mittlerweile war es ihm ziemlich gleichgültig, ob es die Zuschauer zuhause vor den Hologeräten mitbekamen.

»Mäßigen Sie sich!!! Sie vergessen wohl, wo Sie sich befinden!«

Nach diesen Worten beruhigten sich die Medienleute sogar ein wenig, da viele an die vorher ausgesprochene Warnung dachten, sich nicht von ihrem Äußeren täuschen zu lassen. Was anderen wiederum sichtlich schwerer fiel, weil das Mädchen sie durchaus an ihre eigenen Töchter daheim erinnerte.

»Vergessen Sie nicht, das Psybegabte anwesend sind und Gedankenverbrechen streng bestraft werden!«

Holmbrok hatte seine Zuhörerschaft abermals im Griff und sie würden ihm sicherlich so schnell nicht mehr entgleiten. Dann setzte er sich erneut gelassen in seinen Stuhl, faltete die Hände und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf Kardens Abteilung.

»Hoher Rat Skimrod, das Volk der Erde ist Ihnen zu größtem Dank verpflichtet – und natürlich gleichfalls die aller anderen Welten unseres Reiches. Dafür, dass sie diese verdorbene Plage bezwungen haben.«

Der Gelobte nahm dieses Kompliment still entgegen und neigte gerührt seinen Kopf.

Das hat der alte Deggard wirklich wunderbar formuliert, urteilte Karden bescheiden, vor all diesen Holokameras und den Milliarden Zuschauern.

Ein großer, wahrhaft historischer Moment, begriff dagegen Holmbrok, der mit seiner heute vollbrachten Leistung durchaus zufrieden war.

Ihr komplettes Kollegium würde Kardens und selbstverständlich seine eigene Großtat anschließend gewiss gebührend würdigen. Mit einer grandiosen, rauschenden Siegesfeier.

»Diese Ehre gebührt nicht nur mir allein, sondern desgleichen diesen Alphabegabten hier«, begann Skimrod gerade seine Erwiderung, als einer der eben Erwähnten ihn unerwartet ansprach.

Dieser Idiot wagt es tatsächlich, mich zu unterbrechen, schimpfte es sogleich in ihm.

Aber Karden hörte sich dessen ungeachtet gereizt an, was er ihm dermaßen unaufschiebbar mitteilen musste.

»Dringende Nachricht von Tarest, Herr. Unsere Gefangene beginnt sich aus der Totalblockade zu lösen und er geht davon aus, dass sie es bald schaffen wird.«

Als der Hohe Rat diese Neuigkeit begriff, wurde er plötzlich bleich.

»Wie kann das mö…«, flüsterte er, als die eigentlich Paralysierte endlich von einigen mentalen Fesseln befreit ungestüm zu schreien begann und selbst Deggard damit in den Schatten stellte.

»FLIEHT! BEEILT EUCH! ICH KANN ES NICHT MEHR ZURÜCKHALTEN!!!«

Irgendwie kam bei diesem fast erleichtert ausgestoßenen Mahnruf eine leichte Panik unter den Anwesenden auf. Einige zogen es vor, das Mädchen ernst zu nehmen, das inzwischen wiederholt von den Mutanten zum Schweigen gebracht worden war, und machten sich unauffällig auf den Weg zum Hauptportal.

Hoher Rat Holmbrok tobte unterdessen vor rechtschaffenem Zorn.

»Wie kannst du es wagen! Niemand hat dir das Wort erteilt. Schweig, du erbärmlicher Abschaum!«

Mit äußerster Anstrengung gelang es dem Sternenkind, sich trotzdem aus dem geistigen Würgegriff der Zweiheit ihrer Peiniger zu befreien. Die beiden Alphas/Zwillinge richteten sofort ihre Waffen auf sie.

»HAUT DOCH ENDLICH AB! Nein. Zu spät – oh, bitte vergebt mir …«

Die eilig abgefeuerten Kugeln verpufften kurz vor dem Einschlag und Arins gewaltsam zugefügte Agonie endete schlagartig.

Sie entzündete sich.

***

Nachdem Rali lange Zeit geweint hatte, versiegten ihre Tränen nun endgültig. Denn sie hörten auf, ihr eine Hilfe zu sein. Anschließend übernahm eine kalte Dunkelheit ihren Geist und erfüllte ihn restlos. Kein Gefühl, nicht ein einziger Gedanke unterbrach diese sinnlose, innerliche Schwärze, die äußerlich beinahe einer Totenstarre gleichkam.

Bis plötzlich das Gesicht ihres toten Freundes darin erschien, um diese Öde sogleich zu erhellen. Sie wurde umgehend von Lesandors wütendem, ausgesprochen rebellischen Kern, der bis zu seinem vorzeitigen Ende so wundervoll in ihm standgehalten und gestrahlt hatte, ins Leben zurückgeschickt.

Du hast mich mal wieder gerettet, schmunzelte Rali daraufhin erleichtert und äußerst glücklich, wie schon so oft.

Für Nolder war er ein außergewöhnlicher, unbeugsamer Mensch gewesen, dessen Stärke sie verehrt und in den sie sich bereits vor über fünfzehn Jahren als kleines Mädchen verliebt hatte. Obwohl du leider oft an Selbstmord gedacht hast, kam es ihr diesmal traurig lächelnd in den Sinn.

Dass der junge Mann es aber doch nie gemacht hatte, bewies ihr wiederum die Richtigkeit ihrer Überzeugung. Als Ralissan dann die schönen, viel zu wenigen Stunden, ihrer Bekanntschaft an sich vorüberziehen ließ, welche sie für immer in ihrem Herzen bewahren würde, überkam sie wiederholt der unbändige Drang zu Heulen.

Deshalb zwang sie sich jetzt einfach dazu, nicht mehr an ihn zu denken. Sie schaltete auf ihren erneut funktionierenden und ausgeprägten – ebenfalls jahrelang geschulten – Selbsterhaltungstrieb um. Der sie tatsächlich, trotz des ganzen Grauens, das Rali widerfahren war, weiterhin beherrschte. Schließlich musste sie sich augenblicklich Gedanken machen, wie es mit ihr weitergehen sollte.

Kapitulieren war für Ralissan niemals eine Alternative gewesen. Aus diesem Grund brauchte sie Lösungen. Jedoch, was stand zur Wahl? Als sie einige Zeit darüber grübelte, erkannte Nolder, dass es ihr ein Bedürfnis geworden war, dieses bigotte System zu zerschlagen.

Also sollte sie Thalens letzten Vorschlag aufnehmen und sogar, wenn irgendwie möglich, noch erweitern. Sie musste darum versuchen, die Bevölkerungen aller Welten zum Nachdenken zu bewegen und letztlich so viele Menschen aus ihrer Lethargie reißen wie möglich. Danach könnte Ralissan vielleicht sogar einige von ihnen zum Kämpfen bewegen.

Ja, das ist wohl die beste Idee, überzeugte sie sich zunächst einmal selbst, und auf Shyr Velengar werde ich beginnen.

Nach ihrer Ankunft auf dem Planeten müsste Rali handeln und ihren derzeitigen Bewachern, wenn nötig mit Gewalt entkommen. Hinterher könnte sie die Rechtlosen finden, alle Unzufriedenen aufrütteln und sie gemeinsam zum Widerstand leiten. Genauso, wie Lesandor es auch vorgehabt hatte. Sie begann mit ihren seit Tagen vernachlässigten Kampfübungen.

***

Milliarden von Bürgern der weltengroßen Stadt, die gerade noch aufgeregt diese so abrupt unterbrochene Sondersendung verfolgt hatten, stürzten nun hastig zum Fenster oder auf die Balkone. Manche von ihnen bestiegen sogar umgehend ihre Gleiter, um geradewegs vor Ort zu fliegen.

Von diesen verschiedensten Positionen aus starrten sie gebannt auf das Spektakel, das momentan vor ihren verblüfften Gesichtern begann. Zuerst waren alle, die mitbekamen, was sich dort abspielte, irgendwie fasziniert. Weil an diesem trüben, wolkenverhangenen und ungewöhnlich frostigen Wintertag nochmals die Sonne aufging!

Diesmal jedoch vormittags, kurz vor Elf – mitten im Regierungsviertel. Direkt im Ratsturm, dem Sitz der absoluten Macht des Planetaren Bundes, von dessen gigantischer Konstruktion am Anfang nur die Spitze entflammte wie der Docht einer Kerze. Trotzdem strömte diese kreisrunde Erscheinung bereits eine starke und nahezu schmerzende Lichtflut aus.

Inzwischen begann dieses Strahlen außerdem schnell unerträglich zu werden, da es schlagartig die kalte Luft um etliche Grade erhitzte und gar nicht mehr damit aufhören wollte. Tausenden von Interessierten brach jäh der Schweiß aus, als sie dieser glühende Hauch überschwemmte.

Bereits in diesem Moment war von der anfänglichen Bezauberung nicht mehr viel zu spüren. Der Durchmesser des kleinen Sterns wuchs weiterhin beständig und seine enorme Lohe dehnte sich stetig aus. Was viele von den vorher so begeisterten Schaulustigen dazu brachte, sich schleunigst zu verdrücken.

Immer mehr flohen unterdessen voller Angst und bald schon herrschte allgemeine tosende Panik. Anschließend wurde jedes Lebewesen, das sich zu nahe an dieser unaufhaltsamen Expansion befand – es handelte sich vor allem um Hunderttausende von Neugierigen, Arbeitern und Ratsdienern – zu schwarzem Staub verbrannt. Nichts blieb mehr von ihnen übrig.

Gleichzeitig schmolz die gewaltige Hitze den gesamten Regierungssektor, mitsamt den darin befindlichen Behörden, im Nu zu Schlacke. Als dann langsam auch viele der benachbarten Stadtteile, die Hunderte von Kilometern entfernt lagen, in Mitleidenschaft gezogen wurden, endete es augenblicklich. Von einer Sekunde zur nächsten war es vorüber.

Der dunkle, vormals unfreundliche Tag kehrte zurück und bloß ein drückender Brodem blieb vorerst erhalten. Massenhaft krochen danach Überlebende aus ihren Verstecken, überglücklich, dieses Desaster heil überstanden zu haben. Einige Mieter der weiterhin annähernd intakten Wohnsilos in den angrenzenden Vierteln wagten sich überdies wieder an ihre zerronnenen Fensterscheiben. Aber das, was sie sahen, war ein reiner Albtraum, den ein kleines, außerirdisches Kind verbrochen hatte. Thain Marandeus´ früheres Zentrum existierte einfach nicht mehr. An dessen Stelle war ein gigantischer, runder und ziemlich glatt wirkender Krater entstanden.

Dieses halbkreisförmiges Loch, mit teilweise zerflossenen Ruinen an seinen Rändern, erstreckte sich kilometerweit um den Mittelpunkt des unerwarteten zweiten Tagesanbruchs.

***

Arin raste unterdessen durch das All und wollte diesen furchtbaren, absolut unbegreiflichen Schrecken so weit hinter sich zurücklassen, wie nur möglich. Aber es gelang ihr natürlich nicht, da diese quälenden Erinnerungen sie schlicht unaufhörlich begleiteten.

Ich habe getötet, schrie ihr Gewissen, bereits seitdem sie ihre Flucht begonnen hatte, anhaltend und äußerst schmerzhaft in ihrem Innersten.

Unendlich tiefe Abscheu erfasste das Mädchen daraufhin vor sich selbst und sie wusste, dass ihre schreckliche Tat keinesfalls gesühnt werden konnte. Wie sollte das auch möglich sein? Schließlich hatte sie Millionen von Leben unwiederbringlich ausgelöscht.

Doch das Schlimmste war, dass es noch viele mehr werden würden, wenn der tote Kern des Planeten endgültig zerbrach. Schon bald würde die Erde kollabieren und die Überlebenden ihres im Grunde völlig unbeabsichtigten Ausbruchs, der den Planeten in seinen Grundfesten erschüttert hatte, ebenfalls zum Tode verurteilen.

Nein, nein, nein, das wird nicht geschehen, versuchte sie ihr entsetzliches Wissen zu verdrängen, du hast dich bestimmt getäuscht.

Es gelang ihr jedoch nicht. Denn sie konnte ihren wirklich harten Kampf, um genau dies zu verhindern, einfach nicht vergessen.

»Ich habe immerhin alles versucht, die Menschen rechtzeitig zu warnen. Und meine ganze Kraft darauf verwendet, diese ekelhaften mentalen Barrieren, die mir so brutal aufgezwungen wurden, zu durchbrechen.«

Dennoch war es längst zu spät gewesen, als sie es am Ende geschafft hatte.

»Viel zu spät«, flüsterte sie erschrocken.

Ihr zielloser Flug führte sie immer tiefer in den Weltraum. Dabei fand das Sternenkind nicht einmal den Trost, den ihr der Gesang der Sonnen und Welten normalerweise gewährte.

Du verkommene Mörderin, schoss es ihr mittlerweile ständig durch den Kopf und sperrte alles andere aus.

Bis sie unerwartet an ihre geliebte Mutter dachte.

»Warum hast du mir bloß nichts davon erzählt und mich davor gewarnt?«

Hatte sie überhaupt von ihrem Erbe gewusst, das sie Arin mitgegeben hatte?

Nein, ganz sicher nicht, überlegte das Mädchen, ansonsten hätte sie es mir gewiss erzählt.

Bedauerlicherweise hatte sie es wohl nicht mehr rechtzeitig genug geschafft.

»Dafür bist du viel zu früh gestorben«, heulte sie, nachdem ihr diese bittere Wahrheit ein für alle Mal klar geworden war.

Du hast deine eigene Tochter gnadenlos im Stich gelassen, kam es Arin anschließend in den Sinn, und mich einsam der gnadenlosen Weite und dem erbarmungslosen Leben ausgeliefert.

Warum hatte ihre Mutter sie bloß geboren und ihr diese erschreckende Macht gegeben? Das Sternenkind hasste sie plötzlich dafür.

***

Die Schleuse zu Ralis improvisierter Zelle öffnete sich. Verblüfft sah sie auf und blickte einem konsternierten, zutiefst verstörten Frachterkapitän ins Gesicht, der extrem stark schwitzte. Er wischte sich fahrig über die hohe Stirn und befeuchtete kurz seine trockenen, an manchen Stellen aufgesprungenen Lippen.

Danach räusperte er sich und teilte ihr äußerst nervös mit: »Sie haben Besuch bekommen, Herrin.«

Gleich darauf machte er übergangslos den Weg in den Raum frei. Nolder starrte anschließend verdutzt in die wieder wie Feuer brennenden Augen des Sternenkindes, das anscheinend die ganze Zeit drohend hinter dem Raumfahrer gestanden hatte.

»Arin?«

Sofort erhob sie sich und machte einen vorsichtigen Schritt in ihre Richtung. Nachdem auch die Kleine endlich bewusst die vertrauten Gesichtszüge ihrer Freundin wahrnahm, wichen die aggressiven Flammen in ihr schnell einer fassungslosen Verzweiflung.

Ohne noch weiter Zeit zu vergeuden, stürzte sie auf Ralissan zu. Umgehend umarmte die Kleine sie daraufhin reichlich ungestüm. Dabei schluchzte sie hemmungslos und weinte bitterlich.

»Oh, Arin …«

Sie verdrängte rasch ihren eigenen Schmerz und versuchte sich ausschließlich auf das Mädchen zu konzentrieren, um ihre unbegreifliche Last etwas zu mildern.

»Was ist denn bloß geschehen?«

Aber sie erwartete momentan gar keine Antwort, weil die Kleine dafür ganz offensichtlich weiterhin viel zu konfus war. Arin suchte scheinbar nur nach Halt, in einem Universum, das für sie zu reinem Schrecken verkommen war.

***

Einige Stunden später hatte sich das kleine Sternenkind etwas beruhigt. Sie lag nun still in Ralis Armen und schmiegte sich zärtlich an ihren Körper. Nur hin und wieder schluchzte sie noch betrübt, aber relativ leise. Ihre Freundin streichelte ihr währenddessen sanft über den Rücken und gab Arin auf diese Weise ihre ganze Liebe.

Dabei hoffte Ralissan inständig, dass sie dem Mädchen wenigstens ein bisschen half, besser mit ihrem riesigen Kummer fertig zu werden. Beiläufig sah sie irgendwann zu der neuerlich verschlossenen Schleuse, die von einem äußerst verwegenen Mitglied der Mannschaft sogar mehrfach gesichert worden war.

Nolder hatte ihn friedlich gewähren lassen. Wenn sie sich so besser fühlten und nicht weiter störten, konnte es den beiden eigentlich bloß recht sein.

»Ich habe etwas wirklich Schlimmes getan«, unterbrach plötzlich eine furchtbar gequält klingende Stimme die derweil vertraute Stille.

Erst jetzt bemerkte die Psybegabte, dass Arin sie anschaute. Mit schreckgeweiteten, matten Augen und einer unglaublich leeren, fast tot wirkenden Miene. Sofort presste sie die Kleine – total geschockt über ihren überaus trostlosen Zustand – fest an sich.

Hinterher wurde Arin abermals still und wollte einfach nicht mehr weiterreden. Umgehend ergriff Ralissan die Initiative, damit das Sternenkind sich endlich von ihrer Last befreite.

»Was ist geschehen, Arin? Erzähl es mir bitte.«

Irgendetwas bedrückte die Kleine zutiefst und überforderte ihr Gewissen. Anscheinend eine unbezahlbare, absolut niemals wieder gutzumachende Schuld.

»Du wirst mich bestimmt verachten, wenn ich es dir sage. Oh, bitte, bitte, hasse mich nicht! Denn das könnte ich nicht ertragen.«

Rali lächelte sie schmerzerfüllt an.

»Vertrau mir doch weiter. Ich werde dich niemals ablehnen. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

Sie koste inzwischen sachte Arins Haupt.

»Wenn du noch nicht darüber sprechen willst, musst du es natürlich nicht. Du kannst das selbst entscheiden, Arin.«

Sie bemerkte, wie der innere Widerstand des Sternenkindes nachließ und sich selbst ihre Verspannungen schließlich lösten.

»Ich … Ich bin zu einer gnadenlosen Massenmörderin verkommen, eine gemeingefährliche Verbrecherin geworden, die unendlich viele Leben ausgelöscht hat. Einfach so.«

Nach diesen Worten schwiegen sie erneut. Diesmal jedoch ausschließlich für einen Moment. Weil Rali kurzerhand ihren Mund öffnete und gerade eine Frage stellen wollte, als unerwartet die vollständige Geschichte, all ihre Erlebnisse seit Lesandors Tod, aus dem Mädchen hervorsprudelten.

»Hast du nun Angst vor mir?«, fragte sie ihre Freundin besorgt, nachdem sie ihr alles anvertraut hatte.

Arin blickte der Alpha gleich darauf furchtsam ins Gesicht und versuchte, dort irgendwelche Anzeichen von Ablehnung, Ekel oder abgrundtief empfundenem Grauen zu entdecken. Dennoch war darin trotz allem weiterhin nichts anderes als innige Zuneigung zu erkennen, erstaunlicherweise nichts anderes. Sie umarmte das kleine Sternenkind inzwischen sogar wiederum liebevoll.

»Nein, vor dir keineswegs. Sicherlich ist auf der Erde eine unbegreifliche, unsagbar entsetzliche Tragödie geschehen. Deine Tat ist für dich die unverzeihlichste, die du jemals begangen hast. Doch dessen ungeachtet war es von dir gleichwohl nicht beabsichtigt! Zuletzt hast du diese Narren außerdem wenigstens zu warnen versucht.

Rein durch die Verkettung unsäglicher Umstände und wegen der abnormen Verbohrtheit weniger sturer, alter Idioten ist das alles geschehen. Sie haben dieses Unheil ausgelöst und sind deshalb selbstverständlich ebenfalls zu verantworten. Nicht du, Arin!«

Die Kleine fühlte sich trotzdem nicht besser und würde es wahrscheinlich nie wieder in ihrem Leben.

»Ja, das stimmt. Doch …«

Ralissan verschloss ihr behutsam den Mund.

»Nein! Die Menschen sind an allem, was geschehen ist, selbst Schuld. Du darfst nämlich nicht vergessen, dass unsere Führer gerade damit beschäftigt waren, dich grundlos zum Tode zu verurteilen. Dass es überhaupt soweit gekommen ist, dafür kannst du überhaupt nichts. Immerhin waren wir gerade dabei die Erde zu verlassen, als du verhaftet wurdest.«

»Ich hätte erst gar keinen Kontakt zu euch aufnehmen sollen. Das wäre vernünftiger gewesen. Meine Mutter hat mich grundsätzlich immer davor gewarnt, meine Nase zu tief in die Angelegenheiten des Lebens zu stecken. Ich habe sie ignoriert, mit voller Absicht!«

Die Psybegabte lachte leise und schüttelte gleichzeitig ihren Kopf.

»Oh, meine Kleine, glaubst du tatsächlich, irgendjemand kann dir daraus einen Vorwurf machen? Du bist eine Waise, die einem todgeweihten Planeten zur Hilfe geeilt ist. Und dort hast du zufälligerweise uns entdeckt, bist neugierig geworden und kontaktiertest Lesandor. Was übrigens eine äußerst weise Wahl war.«

Sie betrachtete die Kleine voller Dankbarkeit.

»Wie auch immer, ich denke ohnehin, dass du dafür ein wichtiges Motiv hattest: Du wolltest selbstverständlich nicht mehr einsam sein!«

Arin schniefte mehrmals, als sie diese Sätze hörte. Nolder hatte wohl ins Schwarze getroffen.

Sie küsste Arin danach verstehend die Stirn und fuhr fort: »Du hast zwar stets den Eindruck machen wollen, als wärst du eine unerschrockene Entdeckerin und wissbegierige Forscherin, die ganz genau weiß, was sie tut. Nichtsdestoweniger habe ich deine Verzweiflung erkannt, weil sie mich umgehend an meine eigene erinnerte. Warte mal, wie lange hast du eigentlich bis zur Erde gebraucht?«

Arin antwortete nicht und die Alphabegabte wollte sich bereits präzisieren.

Unterdessen erwiderte das Sternenkind unerwartet hastig: »Über zwanzig Jahre, in denen eure Welt täglich lauter ihre Agonie hinausgebrüllt hat. Bis es irgendwann abrupt abbrach.«

Rali konnte wahrlich nicht glauben, was sie eben hören musste. Dieses selbstlose, ausgesprochen tapfere Mädchen, trotz ihres hohen Alters gleichwohl ein Kind, hatte es auf sich genommen, eine so lange Zeitspanne unerträgliche Leiden zu teilen. Um vielleicht, trotz der unermesslichen Entfernung, rechtzeitig genug helfen zu können.

Lediglich um dann nach ihrer Ankunft, bei der mittlerweile Verstorbenen, einen weiteren Albtraum zu erleben.

»Ich spüre ihren Tod weiterhin. Inzwischen gleichermaßen den ihrer Millionen Kinder, die ich ungewollt verbrannt habe. Es ist so – furchtbar peinigend.«

Darauf wusste die Psybegabte nichts mehr Hilfreiches zu entgegnen. Arins Tat war zu gewaltig und von Ralis eigenem Verstand einfach nicht mehr zu erfassen. Die Hand der Psybegabten strich weiter beruhigend über die Wange des Sternenkindes.

Durfte eine solche gewaltige Menge unsäglichen Grams eigentlich in einem so zart wirkenden Geschöpf stecken? Womit hatte sie ihr kummervolles Schicksal denn verdient – oder diese ganzen unwahrscheinlichen Zufälle? Das Kind weinte nochmals zitternd auf ihre Robe.

»So viel Schmerz. Dein Unglück berührt mich wirklich außerordentlich, Arin.«

Nolder presste das Sternenkind voller tief empfundenen Mitgefühls an sich.

»Aber ich kann dir eins versichern. Du hast kein Unrecht begangen und dich schlicht selbst verteidigt. Dein Handeln war absolut legitim.«

Das kleine Sternenkind wischte sich die vorerst letzten rötlichen Tropfen aus den Augenwinkeln.

»Findest du? War es nicht viel zu egoistisch von mir?«

»Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Es ist im Grunde eine völlig natürliche Reaktion gewesen. Da die meisten Lebewesen, wenn nicht sogar allesamt, einen ausgeprägten, ursprünglichen, ziemlich instinktiven Selbsterhaltungstrieb besitzen und garantiert alles unternehmen, um ihr Dasein zu verteidigen.

Dass dein Schutzmechanismus so ausgeprägt, effektiv und vernichtend ist, hast du nicht gewusst. Weil deine Mutter es dir ja nicht mehr mitteilen konnte.«

Arin dachte lange über Ralis Erklärung nach. Eventuell stimmte sie ja tatsächlich. Trotzdem half es dem Sternenkind gegenwärtig nicht im Geringsten über das Geschehene hinweg. Da die Opfer keinesfalls zu entschuldigen waren, selbst nicht durch die schlüssigste Begründung. Diese untragbare Bürde würde sie auf alle Fälle vernichten.

»Du musstest dich unleugbar selber beschützen! Es war deine Pflicht dem Leben gegenüber. Und du konntest es wenigstens, im Gegensatz zu den unzähligen Arten, die uns Menschen nicht überlebt haben. Ich empfinde kein Mitleid für unsere Rasse. Ausschließlich tiefes Bedauern für alles, was dir zugefügt wurde.«

Ralissan hoffte bloß, dass Arin jetzt stark genug sein würde. Sie fühlte nämlich durchdringend deren unaufhaltsame Resignation und konnte fast sehen, dass sie aufgeben wollte.

Nein, es ist leider sehr viel schrecklicher, fiel ihr schwermütig auf. Zumal Rali bekümmert befürchtete, dass Arin längst an ihrer gigantischen Schuld zerbrochen war und die Zentralregierung am Ende bedauerlicherweise Erfolg gehabt hatte mit ihrem widerwärtigen Streben.

Oh, Arin, gib bitte nicht auf, flehte es nach ihrer alarmierenden Erkenntnis in ihr.

»Weißt du, ich glaube ebenso, dass ich an dem frühen Tod meiner Mutter und demzufolge zugleich meiner Geschwister Schuld bin. Durch meine Geburt hat sie viel zu viel von sich selbst aufgegeben und ihre Energien vorzeitig erschöpft. Im Endeffekt habe sie alle umgebracht!« Nolder betrachtete sie nun ungläubig blinzelnd. Selbst diese Verantwortung wollte Arin zusätzlich auf sich nehmen und sich dadurch noch einmal mehr belasten. Das konnte die Alphabegabte keineswegs zulassen. Deshalb versuchte sie sofort entgegen zu wirken.

»Nein, bestimmt nicht – und selbst wenn es so gewesen wäre. Deine Mutter hat es eigenständig entschieden, du warst es ihr definitiv wert. Stelle momentan nur nicht ihre Entscheidung infrage! Außerdem wusste sie es mit Sicherheit auch nicht, glaube mir. Wirf dir jetzt keinesfalls so einen Unsinn vor. Du beleidigst damit lediglich ihr Andenken, Arin.«

***

Nach neun Monaten erreichte der gewaltige Frachter schließlich planmäßig den Zielplaneten und schwenkte in seine vorgegebene Umlaufbahn ein. Nur wenig später begann eine geordnete, voll automatisierte Abkoppelung unzähliger Containereinheiten.

Psybegabte Nolder beobachtete diese ganze Prozedur neugierig vom Kapitänssessel aus, der im Mittelpunkt einer großen Kommandobrücke installiert war. Von hier hatte sie einen freien Blick auf das beeindruckende Schauspiel, bei dem umfangreiche Schwärme, die lediglich an den blinkenden Positionslichtern in der Schwärze auszumachen waren, gemächlich auf die Oberfläche herabsanken. Dabei bildeten sie interessante Muster im All, die Rali immerhin für einen flüchtigen Moment von ihren vielen Sorgen ablenkten. Kurz darauf meldete sich der Schiffsrechner und übermittelte nach ihrem Befehl eine bildlose Mitteilung.

»Nachricht an Kapitän Altrech: Wie Sie sicherlich bereits erfahren haben, hat sich die neu gegründete Regierung von Shyr Velengar offiziell aus dem Planetaren Bund gelöst. Betrachten sie den Frachter »Marandeus Pracht« hiermit als beschlagnahmt. Ihre Dienste werden deswegen ebenfalls für beendet erklärt. Melden sie sich bitte sofort nach ihrer Ankunft in der Hafenbehörde.«

»Was soll ich ihnen antworten, Herrin?«, fragte sie ein gebrochener Mann, der sich in respektvoller Entfernung zu ihr aufhielt.

»Hm, lediglich, dass sie ihre Anweisungen selbstverständlich befolgen werden.«

»Ja, Herrin.«

Bereits wenige Tage, nachdem Arin eingetroffen war, hatte Ralissan notgedrungen die Führung auf dem Raumschiff übernommen. Dazu war sie von einer betrübten und überaus verunsicherten Mannschaft nahezu genötigt worden.

Da die Talentierte ihnen wenigstens Schutz vor diesem Furcht einflößenden Wesen garantiert hatte, das kurz nach der rätselhaften Zerstörung ihrer Heimatwelt und natürlich des Hohen Rates einfach putzmunter hier aufgetaucht war, um ihre Gefangene aufzusuchen.

Genau dieselbe totale Verunsicherung und unbändige Angst herrschte nun überall im Reich, weil nach Arins Selbstverteidigung ein wirres Chaos ausgebrochen war, in dem sich kein Mensch mehr sicher fühlte. Ralissan wandte sich inzwischen wieder von der durchsichtigen Front ab und widmete sich daraufhin dem winzigen Holoprojektor auf der Lehne ihres Sitzes, von dem sie etliche aktuelle Berichte direkt in ihren Sichtbereich projiziert bekam. Sie ließ die Meisten davon jedoch schnell überspringen, denn sie entdeckte diesmal nichts wirklich Interessantes. Alles blieb weiterhin beim alten Stand.

Drei Welten hielten grundsätzlich an den vertrauten Werten und Glauben fest. Zusätzlich waren sie gerade dabei, eine neue Zentralregierung zu bilden, die ihren absoluten Machtanspruch anschließend auch abermals durchsetzten sollte. Es gab jedenfalls weiter zahlreiche Aufstände auf ihnen, welche von rebellierenden Unzufriedenen entfacht wurden.

Wenigstens etwas Positives, dachte sie erfreut.

Zwei Planeten, von denen einer Shyr Velengar war, hatten sich umgehend nach der Katastrophe für unabhängig erklärt und seither ihre eigenständigen Regierungssysteme aufgebaut. Die mittlerweile sogar einigermaßen gefestigt waren.

Diese beiden schienen insgesamt, soweit es für die Alpha zurzeit abzuschätzen war, toleranteren Grundsätzen zu folgen. Ihre Sicherheitslage war allerdings identisch. Hier fanden gleichfalls zahllose Gefechte zwischen den verfeindeten Gruppen statt. Was ihr wiederum nicht sonderlich gefiel.

Ephestos war immer noch heftig umkämpft und keine Seite hatte bisher die Oberhand gewinnen können. Mit übertriebener Brutalität und effektiver Verachtung führten die Bewohner einen zermürbenden Krieg, dessen Ende keineswegs abzusehen war, aber durch das wahrscheinliche Eingreifen der beiden anderen Fraktionen bald weiter eskalieren dürfte.

Es war bereits abzusehen, dass ein kolossaler, weltenumspannender Bürgerkrieg folgen würde. Zumindest ihrer Einschätzung nach.

»Kapitän Altrech, Sie sind jetzt entlassen. Sammeln sie ihre Besatzung, um sich den Behörden auf Shyr Velengar zu stellen.«

»Jawohl, Herrin.«

Altrech salutierte kurz und gab die entsprechenden Befehle über die interne Kommunikationseinrichtung weiter. Als er die Durchsage beendet hatte, verließ er außerordentlich zerknirscht seine ehemalige Brücke und machte sich auf den Weg zur Fähre.

Die Alpha erhob sich ein wenig später und versuchte sogleich Arin zu finden. Obwohl sie im Grunde gar nicht lange suchen musste, wie ihr einfiel, als sie zunächst ihre gemeinsame Schlafkammer aufsuchte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hielt sich ihre kleine Freundin ohnehin in der gigantischen Maschinenhalle auf. So wie sie es die letzten Wochen eigentlich stets tat.

Gewöhnlich verarbeitete das Mädchen dort die schicksalhaften Geschehnisse am besten, indem sie volltönend und wundervoll klingend ihre fremdartigen Lieder anstimmte. Rali vermutete, dass es genau die Art von Musik war, welche dem Sternenkind zufolge ständig den Weltraum erfüllte.

Nachdem Ralissan ihr Ziel endlich erreicht hatte, verweilte sie gebannt vor der offenen Schleuse, um diese faszinierenden, sie ungewöhnlich tief berührenden Weisen eine Zeit lang in sich aufzunehmen. Jede Tonfolge, die daraus erklang, war auffallend wohltuend und brachte sie letztlich doch zum Weinen. Sie verstand selbstverständlich kein Wort von dem, was Arin sang. Trotzdem begriff sie in ihrem Inneren, dass diese Melodien eine unfassbare Traurigkeit ausdrücken sollten. Ralissan riss sich rasch zusammen, wischte ihre Tränen von den Wangen und betrat danach diese riesige Örtlichkeit mit der fantastischen Akustik.

Darin entdeckte sie gleich drei Besatzungsmitglieder, die entspannt auf dem Metallboden hockten und verträumt – dennoch bitterlich heulend – dieser herrlichen Darbietung lauschten. Unterdessen rauchten sie Sonnenfächerblüten. Bestimmt diejenigen, die man bei ihr gefunden und beschlagnahmt hatte.

»Oh, Herrin, entschuldigt bitte, wir wollten Sie ihnen ganz sicher zurückgeben.«

»Das ist nicht nötig, denn die Blüten waren nicht meine und der Besitzer hätte das Kraut sicher gerne mit Ihnen geteilt. Behalten Sie es daher ruhig.«

»Vielen Dank, Herrin«, erwiderten alle gleichzeitig und schienen sehr erleichtert zu sein.

»Übrigens, ihre Fähre startet in genau elf Minuten und dreiundvierzig Sekunden.«

»Tatsächlich? Äh, dann sollten wir wohl lieber mal losgehen.«

Also packten die in der Zwischenzeit erneut äußerst gefassten Männer hastig ihren Kram zusammen und sprangen auf. Im Vorbeilaufen nickten sie Nolder höflich zu, die ihr Lebewohl freundlich erwiderte. Flugs verschwanden sie, während die Psybegabte sich zugleich auf den Weg machte. Bewusst langsam, damit sie auf jeden Fall möglichst viel von diesen makellosen, andererseits reichlich schmerzerfüllten Harmonien mitbekommen konnte. Nach einer Weile kam sie leider endgültig bei dem Sternenkind an, das inmitten des riesigen Raumes schwebte.

»Wir sind da, Arin«, rief Rali etwas zögerlich und mit freudig strahlenden, gleichzeitig auffallend feuchtem Gesicht zu ihr hoch.

 ***

Arin und Rali standen in dem kleinen Hangar des Frachters. Bereits vor einer halben Stunde hatte die Mannschaft von hier aus ihren einstigen Arbeitsplatz für immer verlassen. Nun bereiteten sich die beiden Freundinnen auf den Abflug vor.

»Gut, lass uns jetzt aufbrechen, Arin. Unsere neue Heimat erwartet uns. Vermutlich mit weit ausgebreiteten Armen.«

Ralissan grinste die Kleine an.

»Und du bist dir auch wirklich sicher, dass du mich heil und unversehrt runter bringen kannst?«

Irgendwie war sie doch nervös geworden bei dem Gedanken, ohne Tonnen von schützendem Metall um sich herum, durch das All zu reisen.

»Klar, die Welt ist genau vor uns. Deshalb sehe ich ja, wo ich hin muss. So kriege ich das garantiert ohne Risiko für dich auf die Reihe. Weißt du, unter einem Frachter konnte ich mir damals eigentlich nichts vorstellen. Hätte ich nur mehr gewusst, wäre Lesandor noch am Leben.«

Bei diesen Sätzen verzog die Psybegabte, etwas bekümmert über den Vorwurf, den das Sternenkind sich schon wieder machte, leicht ihr Gesicht.

»Wie meinst du das?«

»Na, ja, ich hätte euch natürlich umgehend auf das Frachtschiff gebracht. Ohne diesen dämlichen Zwischenstopp an der Fähre.«

»Ach, hör auf, Lesandors Idee war einfach gut. So mussten wir nicht zu dritt suchend durch das All fliegen. Außerdem wäre es für dich das erste Mal gewesen, Passagiere im Vakuum dabei zu haben.«

»Immerhin wird unser Aufbruch gleich zur Premiere dafür werden, Rali. Aber wir kriegen das schon hin, ehrlich!«

Die Psybegabte schmunzelte.

»Ist dir eigentlich bewusst, dass du teilweise wie Lesandor klingst? Ich habe ab und zu das Gefühl, ich würde ihm zuhören, wenn ich mich mit dir unterhalte.«

Arin dachte kurz nach und erinnerte sich sogleich an das überaus anständige Gesicht ihres toten Freundes.

»Hm, das liegt bestimmt daran, dass ich die Feinheiten eurer Sprache hauptsächlich von ihm gelernt habe. Ich hoffe, das macht dich nicht traurig?«

Die Alpha umarmte das kleine Sternenkind plötzlich.

»Nein, ganz und gar nicht. So haben wir beide wenigstens stets eine Erinnerung an ihn.«

»Ich vermisse ihn unglaublich, Rali.«

»Oh, ich genauso. Unermesslich. Aber denke stets daran, dass ein Teil von Lesandor garantiert für immer bei uns ist: seine große Liebe.«

***

Die Reise klappte schließlich reibungslos und Arin landete mit ihrer Freundin in einem Feld blühender Sonnenfächer, welche ihren äußerst durchdringenden Geruch kilometerweit verbreiteten. Sie waren in der natürlichen Lichtung eines wild wuchernden, ungewöhnlich dichten Waldes angepflanzt worden, den Rali sofort fasziniert betrachtete.

Sie verglich ihn automatisch mit den Hologrammen und -filmen, die sie im Laufe ihres Lebens über die Floren und Faunen anderer Welten gesehen hatte. In Wirklichkeit waren sie zweifellos sehr viel beeindruckender. Dann erst bemerkte Ralissan wahrhaftig diese herrliche Luft, von der sie augenblicklich jeden Atemzug intensiv genoss und beinahe gierig in ihre Lungen saugte.

Dieser Geschmack und Duft waren einfach unbeschreiblich. Ihre Empfindungen explodierten daraufhin förmlich und ließen sich nicht mehr kontrollieren. Mit einem Mal wurde es ihr furchtbar schwindlig. Nolder taumelte kurz und plumpste danach unsanft auf ihren Hintern.

Das Sternenkind kam sogleich besorgt herangeschwebt, hockte sich neben sie und berührte die Alpha sanft an der Schulter.

»Rali, was fehlt dir denn? Ist alles in Ordnung?«

Ralissan sah zufrieden zu dem kleinen Kind und drückte sich fest an sie. Arin erwiderte diesmal umgehend ihre Umarmung.

»Alles bestens. Es war wohl nur etwas zu viel des Guten. Vor allem von den Pollen dieser überaus mörderischen Drogenpflanze.«

Das Mädchen grinste die ziemlich berauschte Psybegabte freundlich an. Kurz darauf begannen die beiden lauthals und voller tief empfundener Freude zu lachen. Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, betrachteten sie gemeinsam den Himmel, der so unbeschreiblich blau und mit vielen formreichen Wolken gemustert ihre Herzen erfreute.

Zuerst saßen sie ausschließlich längere Zeit schweigend zusammen und bewunderten diese Pracht eingehend. Dann fingen sie begeistert an, Dinge darin zu entdecken, welche sie sich anschließend wortreich und ausgelassen beschrieben. Auf diese Weise erlebten sie ungezwungen die nächste Stunde. Bis Arin sich betrübt dazu zwang, ihr lustiges Spiel zu unterbrechen.

Leise sagte sie: »Ich muss noch etwas sehr Wichtiges erledigen.«

Nolder sah die Kleine überrascht und nachdenklich an, stellte aber keine unnötigen Fragen.

»Kann ich dich kurz alleine lassen, Rali?«

Die Psybegabte kam mittlerweile besser mit der neuen Umgebung zurecht und hatte ihre Gefühle, vor allem ihr Gleichgewicht, notdürftig im Griff. Deshalb nickte sie zuerst und antwortete hinterher fröhlich: »Ja, selbstverständlich. Ich glaube, ich werde derweil einmal zu den Bäumen rüber gehen und sie berühren. Bin mal gespannt, wie sich das wohl anfühlt.«

***

Arin musste noch unbedingt ein Versprechen halten. Sie hob gleich darauf ab, erreichte sofort die gewünschte Höhe und flog anschließend, für ihre Verhältnisse recht langsam, über den Wald. Etwas, das sie normalerweise so nie tat, da sie selbstverständlich auch bei ihrem normalen Tempo alles in sich aufnehmen konnte, was es zu sehen gab.

Aber es war gerade die richtige Geschwindigkeit, damit ein Mensch diese herrliche Umgebung wirklich hätte genießen können. Somit für Lesandor genau die Richtige.

»Dieser Flug ist nur für dich«, stieß sie trocken schluchzend hervor.

Das Sternenkind war zweifellos davon überzeugt, dass es ihm auf diese Weise gefallen hätte. Jetzt konnte sie sogar beinah sein herzliches, wohlklingendes Lachen vernehmen, das sie dermaßen vermisste. Und dies machte Arin unglaublich glücklich.

Eine kleine, rötliche und ausgesprochen traurige Träne floss nun aus ihrem Auge. Rann über die Wange, vorbei an dem vor unermesslich tief empfundener Freude lächelnden Mund.

Rali hat vorhin recht gehabt, dachte sie währenddessen und jubelte plötzlich laut und aufrichtig auf.

Ein Teil Lesandors ist für immer bei uns.

ENDE

Copyright © 2008 by Lorens Karaca