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Der Welt-Detektiv Band 6

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Kleiner Stern – Teil 5

Während sie sich weiter angeregt unterhielten und viel zusammen lachten, schloss Rali ihre Augen. Sie wollte endlich an Grundsätzliches denken, auch wenn es im Moment nicht richtig zu sein schien. Eine weitere wichtige Entscheidung musste getroffen werden. Am besten gleich. Deshalb unterbrach Nolder die ausgelassene Stimmung der Zwei.

»Habt ihr euch eigentlich überlegt, wie es weitergehen soll? Irgendwelche Ideen?«

Arin und Lesandor sahen sie zuerst etwas verdutzt an, gingen dessen ungeachtet aber recht schnell auf diese Problematik ein.

»Ich überlege eigentlich die ganze Zeit, euch von hier fortzubringen. Auf einen anderen Planeten, obwohl ich nicht weiß, ob ich das kann. Die kurze Strecke aus dem Gefängnis war schon ziemlich mühsam, und ich hatte bei meinen Reisen durch das All leider noch nie Passagiere dabei.«

Bedauernd hob das Mädchen die Schultern.

»Das musst du sowieso nicht. Rali und ich werden nämlich einen Raumfrachter nehmen.«

»Du hast tatsächlich schon einen Plan?« Ralissan sah ihn fragend an.

»Ja, der ist mir vorhin beim Essen eingefallen.« Lesandor grinste ihr ins ungläubig drein sehende Gesicht. »Nein, ernsthaft, ich verarsche dich nicht. Als uns Arin eben erklärt hat, dass wir im Grunde auf einer Leiche leben – äh, mögest du in Frieden ruhen, liebe Erde – war mir klar, dass wir hier so schnell wie möglich weg müssen. Ich ertrage diese bittere Wahrheit nämlich keinesfalls länger. Das ist Horror pur. Oder willst du lieber hier bleiben und vielleicht doch von dieser Welt aus Widerstand leisten, Rali?«

Die Psybegabte erwiderte schnell: »Nein, auf gar keinen Fall. Sag mir, wie wir hier wegkommen.«

Erleichterung erfasste sie. Vielleicht würden sie ihrem Schicksal entfliehen können. Jetzt kam es ausschließlich auf seine Idee an. Lesandor hatte nichts anderes erwartet.

»Wir werden mit dem Frachter Marandeus Pracht – nächster Zielhafen Shyr Velengar, der … Hm, wahrscheinlich heute. Weiß jemand zufälligerweise, wie spät es ist?«

Ralissan antwortete lapidar: »03, 48 … 52.«

»Äh, danke. Also, heute um acht in der Früh geht unser Schiff nach Shyr Velengar.«

Rali erkundigte sich, als Thalen keine Anstalten mehr machte weiter zu sprechen: »Könntest du das Ganze vielleicht ein wenig präzisieren? Du weißt, ich lese nicht mehr ungefragt die Gedanken anderer Individuen.«

Arin nickte zur Bestätigung. Sie wollte auf alle Fälle mehr erfahren. Zwar betraf sie das alles eher indirekt, da sie ja nicht mitfliegen würde, aber trotzdem.

»Ja, natürlich. Wirklich blöd von mir. Wisst ihr, dieser Hafen ist schlicht gigantisch. Hier starten und landen tagtäglich Tausende von Schiffen. Alles computergesteuert. Die großen Frachter selber können eigentlich gar nicht in die Atmosphäre der Planeten eindringen. Sie nehmen im All lediglich eine orbitale Parkposition ein. Der eigentliche Güterverkehr wird von unbemannten Containerschiffen abgewickelt, die am Zielhafen automatisch ankommen, ent- und beladen werden und hinterher wiederum zurückfliegen. Für uns nützlicher ist, dass die Mannschaften währenddessen Bodenurlaub bekommen. Sie erreichen die Oberfläche mit speziellen Transportern, die bei einem Notfall im All gleichfalls ihre Rettungsschiffe sind. Und in genau so einem werden wir uns verstecken.«

Die Alpha überlegte diesmal zwar etwas länger, war aber zufrieden mit dem Ergebnis.

»Was machen wir mit der Mannschaft? Ausschalten?«

»Auf gar keinen Fall! Denn sie müssen schließlich den Transporter steuern. Ich kann so ein Ding nicht fliegen und du ganz sicher ebenfalls nicht, Rali. Nein, am besten wäre, sie würden gar nicht mitbekommen, dass wir überhaupt da sind!«

Er grübelte angestrengt über eine Lösung nach.

»Diese Schiffe haben erfreulicherweise ein Unterdeck. Eine Art Versorgungsschacht, in dem die Hafenarbeiter alle nötigen Wartungsaufgaben erledigen können, die Fäkalien auspumpen, Wasser auffüllen, kleine Fehler in der Elektronik beheben – all so ein Zeug eben.«

Erinnerungen an diese stumpfen, äußerst stupiden Tätigkeiten fluteten seinen Kopf. Seit den Studentenaufständen und seinem Rauswurf aus der Universität hatte er es ja nicht gerade weit gebracht. Wahrscheinlich war seine Abstufung von Student auf Arbeiter Klasse C gleichfalls nicht gerade sehr förderlich für seinen beruflichen Werdegang gewesen. Immerhin, jetzt brachte es schlussendlich sogar etwas.

»In diesem Deck gibt es grundsätzlich sechs Notsitze für eine Standardbesatzung. Nur für den Fall, dass irgendein hoher Ratsdiener seinen Linienflug verpasst, trotzdem dringend von A nach B muss. Der und sein Anhang bekommen natürlich die Mannschaftsquartiere und eben alle regulären Plätze in der Fähre zugeteilt. Bei einer normalen Landung oder falls ein Unfall geschieht, muss generell die Mannschaft nach unten ausweichen.«

»Haben wir so etwas nicht zufälligerweise auch zu erwarten?«

Ralis Einwand war zwar durchaus berechtigt, obwohl Lesandor gleich entgegnete: »Passieren kann das zwar immer, aber bis zu meinem letzten Arbeitstag habe ich nichts davon mitbekommen. Keine Gerüchte, keinen Klatsch. Sollten wir dennoch Pech haben, müssen wir uns schnellstmöglich hierher zurückziehen. Und im Endeffekt macht es nichts aus. Wir nehmen dann einfach ein anderes Schiff.«

Sie besprachen abschließend die letzten Details und Thalen erklärte den beiden die Routineprozedur.

»Also, um sieben kommt die normale Standardreinigung an die Reihe. Gleichzeitig erfolgt die Betankung und um halb acht steigt die Besatzung zu. Das muss sicherheitstechnisch bis dreiviertel beendet sein. Wir selbst werden um zehn vor eintreffen, steigen in den Versorgungsschacht und auf nimmer Wiedersehen – leider verstorbene Erde.«

Nolder nickte mit entschlossener Miene. Sie hatte den Plan analysiert und keine offensichtlichen Fehler entdeckt. Bloß der Transporter musste unauffällig erreicht werden. Das sollte mit Arins Geschwindigkeit kein Problem darstellen.

»Welche Uhrzeit?«

»Gib uns zwanzig vor acht Bescheid, damit wir uns gemütlich aus diesem Schutzraum zurückziehen können.«

Lesandor fiel zeitgleich etwas Wichtigeres ein.

»Wir sollten hier möglichst nichts zerstören«, verdeutlichte er gleich darauf mit einem obligatorisch wirkenden Blick zu Arin, »meine Kumpels werden diese Oase schließlich weiterhin dringend benötigen.«

Er lächelte die Kleine nachher neckend an. Sie grinste breit zurück.

»Alles klar! Ich werde mich wie immer beherrschen. Du musst mir jetzt aber zuerst mal genauestens erläutern, wohin ich euch eigentlich bringen soll.«

Thalen versuchte sein Bestes und zeichnete während seiner Erklärung den Grundriss des Hafens mit dem Finger in eine staubige Stelle auf den Boden.

»Kannst du dir das Ganze so ungefähr vorstellen?«

Lesandor machte ein erwartungsvolles Gesicht, als sie sich verstehend ihr Kinn rieb.

»Hm, nein, eigentlich nicht. Ich müsste mir alles Mal von oben ansehen, wenn ich euch wirklich pünktlich dorthin bringen soll.«

Ralissan sah das Sternenkind erschrocken an.

»Wenn du dich zu weit entfernst, kann ich dich nicht mehr abschirmen, Arin.«

Die Kleine schaute schuldbewusst zu der Alpha hinüber.

»Ups, habe ich dir etwa gar nicht erzählt, dass ich das selber kann? Als ich vorhin erneut auf die Erde zurückkehrte, um Lesandor zu befreien, habe ich mein Innerstes verschlossen und mich unsichtbar gemacht für eure tastenden Gedanken. Zumindest habe ich es damals das erste Mal versucht und es ist mir offenbar gelungen. Nachdem wir später geflohen sind, habe ich es umgehend auf euch ausgedehnt.«

Sie lächelte stolz. »Na ja, falls es überhaupt geklappt hat, meine ich selbstverständlich. Zum Glück bist du ja seither bei uns. Du kannst es wenigstens mit Sicherheit.«

Nolder seufzte: »Nein, das hast du bisher nicht erwähnt. Nun weiß ich es ja glücklicherweise. Das erleichtert mir meine Aufgabe.«

»´tschuldige, war keine Absicht.«

Die Psybegabte schien jedoch keineswegs beleidigt zu sein, sondern genoss die Entlastung sichtlich. Unerwartet sprang Arin voller Tatendrang auf.

»Dann sehe ich mir die ganze Sache am besten von oben an. Ich brauche sowieso ein bisschen Bewegung.« Sie streckte sich laut ächzend bei ihren Worten, um zu beweisen, dass sie es ernst meinte.

»Sei trotzdem äußerst vorsichtig. Vor uns Begabten hast du zwar nichts mehr zu befürchten, die Regierung besitzt aber einige Spionagesatelliten im Orbit. Außerdem habe ich erfahren, dass neuartige, selbstständige Spionagedrohnen entwickelt wurden. Nur ob diese Miniroboter bereits einsatzbereit sind, ist mir nicht bekannt.«

Das kleine Mädchen brütete eine Zeit lang über die genaue Bedeutung ihrer Worte nach, denn sie war mit Technik nicht allzu vertraut. Als sie es sich daraufhin einigermaßen vorstellen konnte, schüttelte sie missmutig ihren Kopf.

»Bei euch muss man wirklich mit allem vorsichtig sein, sogar frei an das zu denken, woran ihr gerne möchtet oder bloß schlicht die Gefühle auszuleben, die euer Körper tatsächlich empfindet, birgt grundsätzlich Gefahr. Denn es könnte ja von begierigen Regierungsbehören überwacht werden, denen einiges davon nicht gefällt. Nun sagst du mir zu guter Letzt, dass ihr euch nicht einmal dorthin bewegen könnt, wohin ihr eigentlich wollt, ohne aufpassen zu müssen, ob ihr nicht von irgendwelchen, von eurer Regierung erfundenen, Dingern verfolgt werdet. Bloß um dafür gestraft zu werden, wenn ihr es doch einmal wagt. Und zu allem Überfluss erschafft ihr euch bedauerlicherweise einen Gott, mit dem ihr euer eigenes Verhalten, zusätzlich zu allem anderen, selber psychisch andauernd geißelt, mit unerfüllbaren, falschen Vorschriften. Wie konnte das eigentlich geschehen?«

Nachdem Arin ihre enorme Frustration über die Verhältnisse auf der Erde ernst ausgesprochen hatte, prustete sie ungewollt los. Weil diese ganze groteske Situation auf dem toten Planeten ihr auf einmal so absurd, völlig verrückt und groteskerweise komisch vorkam.

Diese totale wahnwitzige Kontrolle bis in das intimste Innerste eines jeden Lebewesens war ihr schlicht zu viel und trieb sie nun zu diesem verzweifelten, relativ hämischen Ausbruch.

»Es hat trotz allem seine guten Seiten gehabt. Ich habe zerstörerische Terroranschläge, die Tausenden das Leben gekostet hätten, Überfälle aus reiner Geldgier und brutale Morde verhindert. Uns gelang es immerhin, unschuldige Leben zu schützen«, warf Ralissan leise ein und sah dabei verlegen zu Boden.

Obgleich sie noch immer fand, dass viele ihrer Taten gerechtfertigt waren, konnte sie ihre Betroffenheit nicht mehr verbergen und sie wollte es im Grunde gar nicht mehr. Nolder war sogar peinlich berührt von ihrem neuerlichen, äußerst reflexartigen Verteidigungsversuch, der sie selber nicht mehr richtig überzeugte.

»Aber zu welchem Preis. Euer Schutz hat Milliarden die Freiheit gekostet. Sie jeglicher Selbstbestimmung beraubt und ihnen euren mörderischen Glauben aufgezwungen«, mischte Thalen sich in die Unterhaltung ein, dem die Kleine eben aus der Seele gesprochen hatte.

»Nichts kann diese Tatsachen rechtfertigen.«

Das Sternenkind fügte hinzu: »Leben zu schützen ist zwar immer ehrenwert, obwohl ich garantiert niemals irgendeine Existenz in Thain Marandeus bedroht habe. Warum dann diese Jagd auf mich? Das hast du mir vorhin nicht gezeigt bei deiner Gedankenübertragung.«

Die Psybegabte schwieg eine Weile grübelnd, bevor sie antwortete: »Ich konnte es einfach nicht, weil ich mich dafür geschämt habe.«

»Also erkläre es mir bitte jetzt!«

»Wenn du unbedingt willst. Für unsere Regierung bist du eine gefährliche Unnatürlichkeit. Deine bloße Anwesenheit auf der Erde gefährdet bereits den wahren Glauben – das Machtgefüge im gesamten Planetaren Bund. Der Hohe Rat war darüber sehr besorgt und wollte eigentlich deine Exekution beschließen.«

Arin riss schockiert ihre schwarzen Augen auf. So wurde sie also von den Menschen eingestuft. Als zu beseitigender Störenfried ihrer natürlichen, gottgewollten Ordnung.

»Warum tat er es nicht?«

»Ähm, ich konnte es gerade so verhindern. Sie haben mir letztlich geglaubt, dass du uns lebendig mehr bringst.«

»Oh. Trotzdem danke ich dir dafür, Rali.«

Das Mädchen benötigte jetzt zuerst mal frische Luft und musste außerdem die Fähre ausfindig machen, damit später alles richtig funktionierte.

»Ich fliege gleich mal los, um die Gegend auszukundschaften.«

Sie stand auf, war jedoch zuerst etwas planlos.

»Hinter der Wand dort befindet sich ein System aus Versorgungsgängen, die hier unten alles verbinden. Diese solltest du am besten auch eine Weile benutzen, bevor du dich nach oben begibst. Eigentlich müssten sie verlassen sein und sind deshalb die sicherste Route. Du musst da lang«, unterwies sie Lesandor hilfreich und deutete ihr gleichzeitig die genaue Richtung.

»Wenn du oben bist, ist das Risiko entdeckt zu werden am höchsten. Rali hat dich ja ausreichend vor diesem ganzen technischen Überwachungskram gewarnt. Du weißt jetzt, vor was du dich vorsehen musst. Du solltest wirklich unglaublich schnell sein und dich von nichts aufhalten oder irritieren lassen. Ach übrigens, kannst du die Löcher eigentlich wieder verschließen?«

Das kleine Sternenkind hatte die ganze Zeit über aufmerksam nickend zugehört, als unvermittelt ein lautes, herzhaftes Lachen von Ralissan ausgestoßen wurde. Während sie sich sogleich eine einsame Träne von der Wange wischte, bemerkte sie, dass ihre Freunde irritiert zu ihr herüberstarrten.

Offenbar waren die zwei ungemein verblüfft über solch eine heftige Gefühlsregung, die sie von ihr so gar nicht gewohnt waren. Die Psybegabte bekam sich allerdings schnell wieder in den Griff. Sie beruhigte sich darum wenige Augenblicke nach ihrem schallenden Gelächter und reduzierte es zu einem leiseren Kichern.

»Was ist denn?«

Lesandor lächelte sie daraufhin freundlich an und war sichtlich gespannt darauf zu erfahren, was sie wohl so amüsierte.

»Nichts. Mir ist gerade etwas in den Sinn gekommen. Absolut unwichtig.« Worauf sie abrupt schwieg und wiederum in ihren Gedanken versank.

Lesandor und Arin guckten sich kurz abwägend an, gingen jedoch nicht mehr weiter auf den Ausbruch ein und die Kleine antwortete leicht verspätet: »Ich habe es zwar noch nie ausprobiert, aber es müsste machbar sein. Ich hoffe es mal für deine Freunde.«

Gleich darauf schwebte das Mädchen vor die Mauer. Prompt erschuf sie ein kugelförmiges Gebilde um ihren Körper. Eine durchscheinende, rötliche Aura, die augenblicklich eine Öffnung in das Metall schmolz und einen Durchgang zu dem dunklen, muffigen Gang dahinter freilegte.

»Also, bis gleich.«

Sie lugte flugs von der anderen Seite herein, winkte ihnen geschwind zu und war verschwunden.

»Viel Glück, meine Kleine!«

Lesandor hatte gar nicht mitbekommen, dass er das laut ausgesprochen hatte. Indessen grinste Rali erneut, als er sich gleich darauf zu ihr gesellte.

»Warum hast du vorhin so gelacht?«

Nolder hatte sich intuitiv auf diese Frage eingestellt und sich die Antwort schon vorbereitet.

»Es war irgendwie zu drollig, wie du Arin gerade bemuttert hast. Ich habe mich bloß gewundert, dass du ihr nicht die kleine Rotznase abwischt.«

Er war gerade genau so gewesen wie ihr Vater früher, wenn er sie zum Spielen auf die Straße gelassen hatte. Mach dies, tu das nicht, pass auf dich auf, bleib immer schön in Sichtweite und ständig dieses Nase putzen. Es war so schön gewesen, als sie einst ein Zuhause gehabt hatte – und ihre Eltern.

»Doch erst, wenn man bedenkt, wie alt Arin in Wirklichkeit ist, wird es vollkommen skurril.«

Und ausschließlich die Erinnerung daran ließ sie wiederholt laut auflachen.

»Einfach zu putzig.«

Jedenfalls fing sie sich rasch wieder.

»Ist mir gar nicht so aufgefallen, ehrlich.«

Das Ganze war Lesandor etwas peinlich, obwohl er jetzt beim gedanklichen Durchspielen dieser ganze Szene ebenso schlicht losprustete. Das wiederum regte die Psybegabte dazu an, abermals mit einzusteigen. Nach mehreren Minuten hemmungslosen und ungewöhnlich befreienden Gelächters fielen sie sich glücklich in die Arme. Flugs drückten sie sich ganz fest aneinander. Auf diese Weise verbrachten sie still die nächste Zeit und genossen schlicht die innige Wärme des anderen, die nicht einmal Nolders leichte Rüstung abwehren konnte.

Warum sind bedauerlicherweise so viele Jahre vergangen, sinnierte Lesandor aufgewühlt, bevor es uns endlich gelungen ist, einander zu finden.

Er löste sich sanft aus ihrer Umarmung und sie sahen sich tief in die Augen.

»Ich muss …«

Weiter kam er nicht mehr, denn Rali küsste ihn verlangend.

***

Arin flog nun schon eine Weile durch endlose Korridore, schmale Gänge und enge Röhren, als ihr einfach die Lust dazu verging. Sie war außerdem garantiert schon weit genug entfernt. Nichts würde mehr auf ihr eigentliches Versteck hindeuten, wenn sie sich hier an die Oberfläche begab. Sie suchte nur noch schnell eine Stelle, an der sie keine Menschen spürte.

Kurz darauf befand sich die Kleine in einem schmalen Hinterhof zwischen zwei riesigen Müllbehältern. In einigen Fenstern der sie umgebenden Gebäude brannte sogar weiterhin Licht. Das sind bestimmt genauso ruhelose Individuen wie Lesandor, hoffte sie zumindest, die vielleicht gleichermaßen begreifen und fühlen wie er.

Bevor sie sich dann in den Himmel erhob, versuchte das Mädchen zusätzlich das Loch zu verschließen. Was ihr auch tatsächlich ganz gut gelang. Daraufhin markierte sie die Stelle.

Dass ich sie immerhin wieder zumachen kann, wird Lesandor – und vor allem seine Freunde – sicher freuen, dachte sie anschließend erleichtert.

Nach einem kurzen Abstecher ins All, wo sie ungefilterte Sonnenstrahlung tankte, war Arin endlich bereit für ihre eigentliche Mission. Sie überflog nun die Stadt mit ausreichendem Abstand und machte schließlich den Raumhafen unter sich aus.

Sofort begann das Sternenkind im Sturzflug herabzusausen, um jedoch immer jäh unterbrechend, gleich zurück an ihren Ausgangspunkt zu rasen. Auf diese eigentümliche Art wollte sie sich recht schnell einen vorläufigen Überblick verschaffen.

Und erst nach drei dieser äußerst eiligen Blicke von oben verstand sie die Quadrate, Striche und Punkte in der Staubkarte richtig. Nachdem ihr dies aber zum Schluss gelungen war, fand Arin das gesuchte Schiff ohne weitere Probleme und machte sich auf den Rückweg.

***

Lesandor und Rali lösten sich voneinander. Dabei spürten sie trotzdem noch intensiv die Lippen und Zunge des anderen. Unfassbar glücklich darüber strahlten sie sich gegenseitig in ihre erhitzten Gesichter, deren erregtes Mienenspiel deutlich verriet, dass beide nach viel mehr verlangten, als plötzlich – so ganz ohne Vorwarnung – wieder das kleine, rote Sternenkind neben ihnen saß und sie äußerst interessiert beobachtete.

»Hallo zusammen. Ich hoffe, ihr habt mich nicht allzu sehr vermisst.«

Arin sah jetzt vergnügt zwei ziemlich verdutzt dreinblickende Menschen mit weit offenen Mündern und aufgerissenen Augen beim Luft holen zu.

»Was ist denn los? Habe ich euch etwa erschreckt?«

***

»Herr, Herr.«

Deggards aufgeregter Assistent kam schwer atmend aus der Holokammer direkt in sein vorläufiges Büro gelaufen, dessen Tür er vorsichtshalber offen gelassen hatte. Vor dem zum Esstisch umfunktionierten Arbeitsplatz, an dem der Hohe Rat gerade eine Mahlzeit zu sich nahm, stoppte er abrupt und stark schwitzend.

Leicht angewidert blickte Holmbrok dem Ratsdiener, der eben neben seinen Teller tropfte, ins Gesicht.

»Wir haben drei Kontakte aufgezeichnet, Herr. Ich habe die Aufnahmen in unsere holografische Stadtkarte übertragen.«

Sofort eilte der plötzlich elektrisierte Deggard mit Elwor im Schlepptau zurück in den Holoraum. Mittlerweile verfluchte er seinen Hunger, der ihn gerade zu so einem enorm wichtigen Zeitpunkt überkommen hatte. Doch als er sich anschließend suchend darin umblickte, entdeckte er zunächst einmal rein gar nichts.

»Hier oben, Herr!«

Gilrathi deutete zur richtigen Stelle. Fast zwei Meter über der Projektion des Sektors Innenstadt – knapp unter der Decke – hingen die eingefügten Hologramme. Holmbrok war ein bisschen enttäuscht, denn bis auf drei zitternde Abbildungen von etwas, das vage Ähnlichkeit mit einem Feuerball hatte, war nicht viel zu sehen.

»Ist das etwa alles?«

Der Ratsdiener wirkte zutiefst enttäuscht, erwiderte jedoch umgehend: »Es ist eindeutig als korrektes Suchmuster identifiziert worden! Aber die Übertragungen ergaben leider immer nur ein einzelnes, verwertbares Hologramm. Es ging einfach zu schnell, Herr.«

Als der Hohe Rat die Karte noch einmal ausführlicher betrachtete, glaubte er erfreut zu erkennen, welcher Gegend das Ding sein Interesse zugewandt hatte. Es musste der alte Raumhafen gewesen sein, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr. Deggard war entzückt. Seine göttliche Eingebung erwies sich als zutreffend.

»Wir müssen uns jetzt ausschließlich auf dieses Gebiet konzentrieren.«

Er deutete dabei ganz explizit auf den gigantischen Raumhafenkomplex.

»Es bekommt oberste Priorität. Teilen sie ihren Untergebenen die neuen Erkenntnisse mit. Dann können sie die überflüssigen Drohnen an ihre eigentlichen Aufgaben zurücksenden. Alle unterbrochenen Missionen sollen schnellstens wieder aufgenommen werden.«

Das würde ihm wenigstens weiteren Ärger mit seinen Ratskollegen ersparen. Danach legte er stolz seine Hand auf die Schulter des ehemaligen Überwachers und drückte sie kräftig.

»Bei Marandeus Sohn, Gilrathi, du hast dich heute wahrhaft als würdig erwiesen. In Gottes Augen, in meinen – er möge dich segnen. An die Arbeit!«

***

Rali hielt fest die Augen geschlossen und war verzweifelt darum bemüht, ihre Fassung wiederzuerlangen, während Lesandor sich schwer atmend den kalten Schweiß von der Stirn seines kreidebleichen Gesichts wischte.

»Liebe, gute Arin, bitte tu so etwas nie wieder. Hörst du – wiederhol so etwas keinesfalls. Außer du hast vor, uns umzubringen!«

Das kleine Sternenkind machte einen zerknirschten Eindruck, in ihren Mundwinkeln blitzte jedoch der Schalk.

»Ich war doch kaum fünf Minuten weg und habe natürlich nicht damit gerechnet, dass euer nettes, so höfliches Beisammensein umgehend zum unbedachten Paarungsverhalten übergeht. Nur deswegen habt ihr alles um euch herum vergessen.«

Arin sah sie vorwurfsvoll an.

»Ich wusste ja nichts davon und bin bloß arglos zu meinen Freunden zurückgekehrt. Ich habe mir einfach nichts Böses dabei gedacht. Ganz ehrlich!«

Die beiden waren am Knutschen und wurden von mir erwischt – wie schön, jubelte es aufrichtig in dem Mädchen. Schade, dass ich sie dabei unterbrochen habe.

Arin fand diese Entwicklung richtig wundervoll und hatte seit Ralis Gedankenübertragung irgendwie gehofft, dass die zwei sich finden würden. Sie gaben ein wirklich reizendes Paar ab.

Kaum lasse ich sie dann kurz alleine, grinste es in ihr, geht es auch schon – ruckzuck – zur Sache.

»Ihr Menschen legt dabei blöderweise ein irres Tempo an den Tag. Nichts mit an den Hintern herumschnüffeln, wie bei anderen, etwas zivilisierteren Wesen, bei euch geht’s gleich voll zur Sache!«

Sie sagte diese Worte zunächst recht ernst, brach danach aber gleich in schallendes Gelächter aus, das ihre Freunde sofort zum Mitmachen animierte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigten, aber der Schreck war jetzt wenigstens vergessen.

Zum ersten Mal sah das Sternenkind daraufhin Lesandors schönes, recht kantiges Gesicht in einem anderen Licht. Seine vorher so dunklen, unglaublich traurigen Augen strahlten plötzlich intensiv und erhellten es vollkommen.

»Wie war es draußen?«

Thalen sah sie neugierig an und hoffte, dass Arin ihre Fluchtfähre entdeckt hatte.

»Och, ganz in Ordnung. Ich habe mir recht schnell einen Überblick verschafft und zu guter Letzt sogar deine Staubzeichnung kapiert. War gar nicht so leicht, weißt du. Ansonsten ist mir nichts Verdächtiges aufgefallen – und ich war ausgesprochen vorsichtig!«, fügte sie am Ende ziemlich hastig hinzu, um ihn zu beruhigen.

Er grinste derweil breit.

»Also ist unsere Fernreise sozusagen gebucht.«

Anschließend betrachtete Lesandor ganz zufällig die Stelle in der Mauer, welche das Sternenkind nach seiner Rückkehr bereits sorgsam verschlossen hatte und es wirkte recht überzeugend. Seine Freunde würden es sicherlich nicht einmal bemerken.

»Das hast du fantastisch hinbekommen, Arin. Vielen Dank!«

***

»Höchstwahrscheinlich werden sie eine der Fähren oder Containerschiffe kapern, um damit ihrer gerechten Strafe zu entgehen!«

Genau damit rechnete Deggard auch. Überrascht blickte er seinem Gegenüber, einem eifrigen, recht jungen Offizier der Ratskommandos, ins Gesicht, den er hatte zu sich rufen lassen.

Unsere Soldaten sind ja doch intelligenter, als ich vermutet habe, kam es ihm dabei in den Sinn.

»Soll ich meine Truppen bereit machen, Herr?«, erkundigte sich dieser dienstbeflissen und voller Tatendrang.

Der Hohe Rat schüttelte nur bedauernd den Kopf, ergriff sein Komgerät und suchte kurz die richtige Verbindung.

Dann antwortete er ganz nebenbei: »Der Fall wird ihnen entzogen, Leutnant. Begeben sie zurück in die Kaserne und erwarten sie dort weitere Befehle.«

Der Soldat salutierte zackig, nahm das Gesagte regungslos zur Kenntnis und verließ danach sogleich den Raum. Irgendwie bedauerte es Holmbrok beinah, auf diese normalerweise hochwertigen Ratsdiener verzichten zu müssen. Aber sie waren einfach nicht das richtige Werkzeug für diese Arbeit.

Beim ersten Zugriffsversuch hatten sie sich sogar als geradezu ineffektiv erwiesen. Genauso wie sein Psychor, das für ihn leider ebenfalls keine Alternative mehr darstellte. Aus denselben Gründen. Die Einzigen, denen Holmbrok noch zutraute, diesem Wesen beizukommen, waren Karden und seine Mutanten. Ausschließlich ihnen konnte es gelingen, dies ungläubige Ding, das für einen normalen Menschen einfach zu schnell reagierte, zu überwältigen. Umgehend öffnete er die Verbindung zu seinem Amtskollegen und hochgeschätzten alten Freund, dem Hohen Rat Skimrod. Dieser schien bereits sehnsüchtig darauf gewartet zu haben.

»Ich grüße dich, Deggard. Ich bin wirklich erleichtert, dass du dich endlich bei mir meldest.«

»Sei mir gleichfalls gegrüßt, Karden. Es hat zwar etwas gedauert, dennoch habe ich inzwischen interessante Neuigkeiten für dich. Unsere drei Gesuchten werden garantiert vom alten Raumhafen aus zu fliehen versuchen.«

»Der im Sektor Innenstadt, über den wir uns letztes Mal unterhalten haben?«

»Ja.«

»Fantastisch, deine Intuition hat sich also als zutreffend erwiesen!«

»Gott war wie immer mit mir. Fliegt hin, kreist dort und bereitet euch auf den Zugriff vor. Bei Marandeus, ich glaube, wir haben sie bald.«

***

Die drei Freunde lachten viel und alberten weiterhin ungezwungen herum.

Plötzlich fragte Lesandor: »Und du, Arin? Was hast du anschließend vor?«

Danach lächelte er sie freundlich, aber auch ein bisschen wehmütig an.

»Hm, ich werde wohl mit meiner Erkundungsreise weitermachen, da schließlich die Unendlichkeit vor mir liegt!«

Sie breitete die Arme aus, als wolle sie diese direkt umfassen und lachte äußerst glücklich.

»Du bist bestimmt erleichtert, diesen ganzen Schrecken zu guter Letzt hinter dich zu bringen, Arin.«

Ralissans Blick war wieder ernst geworden.

»Euch werde ich jedoch schrecklich vermissen.«

Das kleine Sternenkind schluckte die gewaltige Traurigkeit, die sich ihrer augenblicklich bemächtigen wollte, unsicher herunter und blickte verlegen zu Boden.

»Ansonsten hast du vollkommen Recht, Rali. Ich grusele mich hier und bin überaus froh, diesen Planeten endlich verlassen zu können. Doch am allerschönsten ist, dass ihr ebenfalls bald verschwinden werdet.«

»Ja, darüber bin ich gleichermaßen sehr glücklich. Auf dieser Welt sollte wirklich niemand mehr existieren müssen«, warf Thalen bitter ein.

»Wie erträgst du Arins Neuigkeit eigentlich, Lesandor? Kommst du inzwischen damit klar?«

»Ach, weißt du, im Grunde bin ich wirklich sehr erleichtert, schließlich diese furchtbare Wahrheit von ihr erfahren zu haben. Sie hast mir dabei geholfen, mich richtig zu verstehen.«

Nach einer kurzen Pause sagte Arin unerwartet: »Du hast es bestimmt schon seit langem tief in deinem Innersten gespürt. Dein Erlebnis mit den Pflanzen hat dir wahrscheinlich nur endgültig die Augen geöffnet und darum hast du dich seither beinahe täglich, hm, aufgeben wollen. Vielleicht bist du ja gleichfalls ein Begabter, bloß auf einer anderen Ebene!«

Schweigen breitete sich daraufhin aus, während sie über diese Möglichkeit nachdachten. Ausschließlich Lesandor hielt sich nicht lange damit auf. Denn so etwas hatte er bisher niemals zuvor in Betracht gezogen. Sogar jetzt weigerte er sich strikt daran zu glauben.

»Wenn das wirklich stimmen sollte, dann auf eine mittlerweile ziemlich nutzlose Weise. Unsere Erde ist ja nun leider verstorben und hat nichts anderes als ein paar Gewächse übrig gelassen. Irgendwie käme so ein Talent ein bisschen zu spät.«

»Dennoch hast du es.«

»Nein, Arin, ich glaube eher, dass es dieser Sonnenfächer war, der mich dafür sensibilisiert hat.«

Nolder tendierte eher zur Einschätzung des Mädchens, weil Lesandor einen so starken, von ihm eigenständig trainierten Willen besaß, wie sie ihn sonst allein von anderen, lange Jahre ausgebildeten Psybegabten kannte.

»Ich glaube, Arins Theorie ist korrekt. Ich spüre es ebenso. Du hast psychische Fähigkeiten.«

»Ja, ja, die Kleine irrt nie. Deine Wahrheiten haben mich heute übrigens ziemlich verletzt, Arin.«

»Du wirst dich gewiss daran erinnern, dass ich vorhin unglaublich zornig war und vieles nicht so gemeint habe, wie es letztlich aus mir herausgesprudelt ist. Ich hoffe, du hast inzwischen bemerkt, dass ich dich sehr gern habe und meinen Wutausbruch be…«

Thalen schüttelte energisch den Kopf.

»Tut mir echt leid, Arin. Ich wollte das Ganze nicht nochmals aufwühlen und du brauchst dich keineswegs erneut zu entschuldigen. Eigentlich lebe ich zurzeit lediglich wegen deinem Besuch und ich sollte mich wohl eher bei dir bedanken – vielen Dank im übrigen. Außerdem mag ich dich genauso.«

Hinterher schmunzelte er dem Mädchen liebevoll zu und drückte der an ihn gekuschelten Rali sanft die warme Hand. Seine tiefe Liebe zu ihr gab ihm die Kraft, den bevorstehenden Abschied von seiner kleinen Freundin, welche ihm so sehr ans Herz gewachsen war, besser zu verkraften.

»Andererseits hast du vorhin dermaßen oft ins Schwarze getroffen – dass war richtig erschreckend. Weißt du, es ist manchmal sehr schwer, die Realität zu ertragen. Ich wollte unwiderruflich fliehen, aufgeben. Sehr tapfer war das nicht gerade von mir.

Dessen ungeachtet bist du noch rechtzeitig genug aufgetaucht, um mich kennen zu lernen und ich wurde somit gerettet wegen der ersten Kontaktaufnahme einer außerirdischen Lebensform, die erstaunlicherweise nicht einmal unter Regierungsaufsicht im Zoo stattgefunden hat. Grandios.«

***

Hoher Rat Skimrod ließ seinen Gleiter starten, sofort nachdem Deggard ihm den vermuteten Aufenthaltsort der Flüchtlinge mitgeteilt hatte. Gleichzeitig informierte er die Piloten über ihr Zielgebiet und befahl ihnen, nach ihrer Ankunft einen Überwachungsflug einzuleiten.

Danach machte er sich auf den Weg, um seine Zwillinge aus dem künstlich hervorgerufenen, nachgewiesen traumlosen Tiefschlaf zu wecken, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbrachten. Er öffnete eine Sicherheitsschleuse mit einer nur ihm bekannten Zahlenkombination und betrat dann fast ehrfürchtig ihre Kammer.

Sein erster Blick galt natürlich den Psymutanten, die still und mit geschlossenen Augen in der Mitte des Raums schwebten. Sie waren umgeben von einer Vielzahl an Apparaturen, welche jede Menge Daten sammelten und ihre Lebensfunktionen garantierten.

In ihren winzigen, in fötaler Haltung verkrüppelten, dennoch erwachsen, fast alt wirkenden Körpern, steckten deshalb eine Menge verschieden dicker Schläuche, vereinzelte Drähte und ein paar kleine Sensoren. Nur ihre riesigen, grotesk aufgebläht erscheinenden Kahlköpfe blieben davon verschont.

Tiefe Falten hatten sich über all die Jahre, welche sie nun von Karden trainiert wurden, in diese kleinen Gesichtchen eingegraben, die der Hohe Rat nun zärtlich streichelte. Er liebte sie mittlerweile wie seine eigenen zahllosen Kinder und sogar weitaus mehr.

Ein letztes Mal legte Skimrod seine faltigen Hände sachte auf ihre monströsen Schädel. Anschließend leitete er diese Prozeduren ein, welche stimulierende Chemikalien in die Leiber seiner Schützlinge pumpten, um sie aufzuwecken. Es würde ungefähr eine halbe Stunde dauern, bis sie endlich bereit waren.

***

»Du wirst wieder bitter.«

Rali sah ihm achtsam ins Gesicht und Lesandor brachte seinen anschwellenden Zorn schnell unter Kontrolle. Diese negativen Gefühle, die noch bis vor kurzem sein Leben diktiert, gnadenlos drangsaliert und ihn fast in den Freitod getrieben hatten, bedeuteten ihm erstaunlicherweise nichts mehr.

Seitdem er Arin kennen und die wundervolle Ralissan lieben gelernt hatte, fühlte er sich richtiggehend wohl. Zum vielleicht ersten Mal in seinem bisherigen Leben und trotz all der Dinge, die seitdem geschehen waren – oder vielleicht gerade deshalb. Erleichtert stellte Thalen fest, dass er endlich bewusst lebte, nicht mehr nur unbewusst starb.

»Weißt du, es gab Zeiten in denen dieser tief sitzende, unglaubliche Hass auf unsere fromme Existenz hier, mein Leben vollkommen beherrscht hat. Ich habe mich geradezu gesuhlt in meinem Selbstmitleid und diesen Zustand schier vergöttert. Unaufhörlich, bis mein gewaltiger Schmerz irgendwann das bestimmende, einzig übrig gebliebene Gefühl in mir war. Weil ich einfach kein anderes mehr zugelassen habe.«

Lesandor umarmte Nolder bei diesen Sätzen, sah ihr fest in die Augen und legte anschließend sachte den Kopf auf ihre Schulter. Ralissan genoss es sichtlich und erwiderte seine Zuneigung umgehend, indem sie ihm zärtlich auf den Mund küsste.

Dann fuhr er fort: »Bis vor kurzem. Alles hat sich radikal geändert, seitdem ich dich getroffen habe, Rali.«

»Oh, da fällt mir doch glatt etwas ein. Diese wirklich hübschen Gänge und Röhren, durch die ich vorhin geflogen bin…«

Das Sternenkind war bereits aufgestanden und schwebte tatsächlich zur Wand, als sie die beiden Menschen laut auflachen hörte.

»Und dich natürlich, Arin. Bleib ruhig hier, wir werden uns künftig zurückhalten. Kein Geknutsche mehr, solange du bei uns bist. Versprochen.«

Das Mädchen kam erleichtert zurück und setzte sich wiederum an ihren Platz. Es hätte ihr ganz und gar nicht gefallen, nochmals alleine in diesem unheimlichen Labyrinth herumstromern zu müssen.

»Rali und ich haben schließlich eine lange gemeinsame Zukunft vor uns.«

Bei diesen Worten blickten sich die beiden verliebt an und die Kleine nickte lächelnd. Sie war so glücklich über das gerade Gehörte und hoffte bloß, dass es jetzt keine Probleme mehr gab. Trotzdem war sie, entgegen all ihrer Sorgen, im Grunde äußerst optimistisch. Eigentlich konnte ja nichts mehr schief gehen.

»Ich finde es eher schade und sehr traurig, dass wir uns so bald verabschieden müssen, Arin. Ich kann mir irgendwie gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne dich sein wird. Du wirst mir sehr fehlen.«

***

Hoher Rat Skimrod bemerkte, dass seine beiden Schützlinge langsam erwachten und unruhig in die Realität überwechselten. Tarest, der männliche Mutant, bewegte sich träge, wie ein Fötus in dem Fruchtwasser seiner Mutter. Nur das es in der Luft, einen Meter über dem Boden geschah und somit ziemlich deplatziert, fast absurd wirkte.

Seine Zwillingsschwester Semmar steckte einen winzigen Daumen in den Mund und nuckelte kurze Zeit daran. Dann zuckten die Lider des Pärchens und synchron öffneten sie ihre Augen.

»Guten Morgen, meine Kinder. Ich hoffe ihr habt gut und ausreichend geruht.«

Karden strahlte über das ganze Gesicht und wartete gar keine Antwort ab.

»Unser Ziel ist vor kurzem wieder entdeckt worden. Hoher Rat Holmbrok hat mich gerade informiert, dass es über dem alten Raumhafen im Sektor Innenstadt aufgezeichnet wurde. Wahrscheinlich hat es dort eine Fluchtmöglichkeit für seine menschlichen Komplizen ausgekundschaftet. Aber es wird ihnen nicht gelingen zu entkommen, auf keinen Fall! Denn wir werden es verhindern. Nicht wahr, meine Lieben?«

Die Zwei reagierten jedoch keineswegs, sondern sahen ihn bloß völlig ausdruckslos an. Obwohl ihn auch das nicht weiter kümmerte. Zöglinge hatten nun mal stets ihre Marotten

Nach einer Weile erwiderten die Geschwister mit leisen, völlig emotionslosen Stimmchen: »Ja, Vater.«

»Das Psychor hat kläglich versagt und eine ihrer besten Alphas ist sogar zum Feind übergelaufen. Was für eine Blamage!«

Er konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Eine Reaktion seiner Mutanten blieb allerdings wiederholt aus. Sie musterten ihn nur weiterhin mit ihren unergründlichen Blicken.

Tarest fragte unvermittelt: »Ist ihr Status jetzt ebenfalls der eines Zielobjekts?«

»Ja, natürlich. Die Alphabegabte ist nunmehr unser offizielles Sekundärziel.«

***

»Warum bleiben wir nicht einfach zusammen?«, schlug Ralissan plötzlich vor und überraschte damit ihre Freunde.

»Ich meine, was kann es dir denn ausmachen, diese für dich winzige Zeitspanne, die wir unser Leben nennen, zusammen mit uns zu verbringen, Arin. Es würde dich nur einen Augenblick kosten. Eigentlich gar nicht der Rede wert.«

Das Sternenkind sah interessiert zu Nolder und durchdachte diese Option, die ihre Traurigkeit auf der Stelle verschwinden ließ. Selbstverständlich war Lesandor sogleich begeistert von dieser Idee.

»Warum eigentlich nicht? Wir könnten gemeinsam auf Shyr Velengar leben und vielleicht dieses gewalttätige Regime dort bekämpfen. Ja, genau, wir sollten eine Untergrundbewegung aufbauen oder etwas in diese Richtung. Ich meine, dass wir es dem Planeten schuldig wären, bevor er ebenfalls getötet wird wie unsere Erde. Was haltet ihr davon?«

Die Erinnerungen an alte Studentenzeiten wurden in Thalen wach und ihm fielen daraufhin sofort ihre Straßenkämpfe und verschiedene Protestaktionen ein, die alle so nutzlos geblieben waren. Bloß folgenschwer für die Verhafteten, wie ihn einige Male.

Ich bin damals wenigstens nicht als beim Verhör tödlich Verunglückter klassifiziert worden oder schlicht auf geheimnisvolle Weise verschwunden, kam es ihm extrem erleichtert in den Sinn.

Auf Shyr Velengar konnten sie es nun anders aufziehen und die seinerzeit erheblichen Fehler vermeiden. Vor allem mit Nolder, einer perfekt ausgebildeten Alphabegabten, auf ihrer Seite. Möglicherweise entschloss sich Arin gleichfalls dazu ihnen beizustehen und mit ihrer Geschichte würde sie garantiert Tausende überzeugen dabei mitzumachen.

Außerdem wären sicherlich seine Mitstreiter aus alten Tagen dabei, wenn er sie… Augenblicklich beendete Lesandor seinen Höhenflug und sah besorgt zu Ralissan. Noch wusste er ja nicht einmal, was sie wohl von dem Ganzen hielt. Bisher hatte sich bedauerlicherweise niemand zu seiner vorhin gestellten Frage geäußert.

Doch ihre nächsten Sätze beruhigten ihn gleich wieder, weil sie selbst in diesem Punkt einer Meinung zu sein schienen.

»Wir sollten gegen die Regierung kämpfen und werden es selbstverständlich tun. Lesandor hat da absolut Recht. Aber kannst du überhaupt mehr ertragen, Arin? Willst du es eigentlich?«

Sie sah dem Sternenkind besorgt in die Augen und wollte ihre Gefühle erkennen. Diese schlossen sich jedoch schnell, um der Psybegabten einen tieferen Einblick zu verwehren, da sie keinesfalls ihre Unentschlossenheit bemerken sollte.

In der Kleinen tobte nämlich mittlerweile ein heftiger Kampf, der zwei nicht vereinbare Welten aufeinander prallen und miteinander um die Vorherrschaft über ihr Gewissen ringen ließ. Auf der einen Seite die gesammelten Erkenntnisse und weisen Ratschläge ihrer geliebten, so sanftmütigen Mutter, die ihr empfahlen sich auf keinen Fall einzumischen. Sie rieten dem Mädchen stattdessen dazu, immer eine neutrale, sehr objektive Beobachterin zu bleiben und niemals die Ansichten einer Partei zu übernehmen. Ungeachtet aller plausiblen Gründe, der von ihr bevorzugten Gruppierung, es dennoch zu tun.

»Arin, genieße dein eigenes Leben und kümmere dich nicht zu intensiv um andere. Denn alles, was geschieht, ist vollkommen natürlich und ein Teil dieses wundervollen Geschenks. So grausam und sinnlos dir gewisse Ereignisse manchmal auch vorkommen mögen, sie werden stetig und unabänderlich ihren Lauf nehmen. Es wird geschehen, ganz egal, wie ungestüm du dessen ungeachtet versuchen würdest, etwas daran zu ändern. All deine Mühen wären vergeblich, selbst dein Tod«, erinnerte sich das Sternenkind weiterhin an ihre hoch geschätzte und unglaublich beruhigend klingende Musik.

Andererseits würde es ihr niemals mehr gelingen, sich weiter sachlich mit diesen abscheulichen Ungeheuerlichkeiten auseinander zu setzen. Dafür wühlte sie diese, von ihr lange Zeit hilflos ertragene Pein einer sterbenden Welt – ermordet und vergessen von ihren eigenen Kindern – innerlich viel zu sehr auf.

Ferner konnte sie bestimmt nicht mehr die Ausrottung fremdartiger Existenzen auf weit entfernten Planeten aus ihrem Bewusstsein bannen. All das Leid und dieser dunkle, kalte, allumfassende Hass, der sogar sie kurzfristig infiziert hatte, waren nun unauslöschlich in ihr.

Keiner konnte da tatenlos zusehen. Zumindest nicht Arin, die ja eigentlich sowieso zur Rettung der Erde geeilt war, kaum das sie ihre Schmerzensschreie vernommen hatte. Jetzt würde sie ihren neuen Freunden helfen, alles in einigermaßen geordnete Bahnen zu lenken.

Mutter, es tut mir leid, stand es nun endgültig und unumstößlich für sie fest.

Sie würde sich wohl niemals überwinden können, nichts anderes als eine unbeteiligte Zuschauerin zu sein.

»Ich werde mitkommen und euch helfen. Trotzdem habe ich eine Bedingung.«

Lesandor und Rali waren hoch erfreut, nachdem sie diese Neuigkeit erfahren hatten. Einige Minuten lang umarmten die Drei sich danach überglücklich und drückten somit erleichtert ihre tief empfundene Freude aus, als Ralissan endlich wissen wollte: »Welche?«

***

Karden lächelte weiterhin freundlich.

»Ich hoffe, ihr seid jetzt soweit. Eure Alpha-Partner mit den Tragevorrichtungen sind längst fertig und können es kaum mehr erwarten.«

Diesmal erzeugten seine Worte sogar eine Reaktion bei den Mutanten. Tarest verzog sein kleines Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus, während seine Schwester eher freudig erregt wirkte. Zwar hielt beides nicht lange an, erfreute ihn dennoch ungemein. Der Hohe Rat ließ Semmar danach den mentalen Befehl an zwei speziell ausgebildete Alphabegabte übermitteln, die schon seit Stunden nichts anderes machten, als auf eben diesen zu warten. Kurz darauf hörte er, wie die massive Sicherheitstür im Gang vor der Mutantenkammer sich öffnete. Sofort drehte Skimrod sich zu der unversperrt gebliebenen Schleuse und erblickte dort die großen, schwer gerüsteten Gestalten, die sich ohne Umschweife salutierend vor ihm positionierten.

»Wir sind bereit und erwarten ihre Befehle, Herr«, stießen sie simultan hervor.

Dann wandten beide auf seine stumme Order hin den Zwillingen ihre offenen Rückenmodule zu.

»Los geht’s, Kinder! Der Einsatz könnte jederzeit beginnen.«

Unverzüglich lösten sich die Schläuche und sonstigen Dinge, die normalerweise in den Körpern des Pärchens steckten, mit metallischen Klicken aus ihren Kontakten. Die Mutantin beeilte sich ein bisschen, um so schnell wie möglich in die stark gepanzerte Schutzvorrichtung eingebettet zu werden.

Diese Prozedur dauerte nur wenige Augenblicke, in denen der winzigen Gestalt alle Versorgungsanschlüsse wieder eingeführt wurden. Zum Abschluss umfassten schlussendlich elastische Gurtsysteme automatisch ihren Leib und vor allem den empfindlichen Schädel. Daraufhin schloss sich der Behälter leise surrend.

Nun war die sehr zerbrechliche Begabte sicher aufgehoben und vorzüglich geschützt – vor allen Eventualitäten. Selbst dem Einschlag einer verheerenden Sprengrakete, konnte der Insasse dieses Modul widerstehen. Rein theoretisch.

Nachdem sich Semmar anschließend kurzzeitig im Dunkeln befand, konzentrierte sie sich ein wenig und nahm ohne Verzögerung mentalen Kontakt zu ihrem Träger auf, der sie auch sogleich bereitwillig in seinen Verstand eindringen ließ. Die fragile Psymutantin sah ihre Umgebung schlagartig mit seinen Augen.

Eine machtvolle Verbindung war soeben hergestellt worden, die sie zu einer unaufhaltsamen Kampfeinheit verschmolz, in der die Aufgaben klar verteilt waren. Der exzellent gewappnete Alphabegabte würde kämpfen, seine wertvolle Fracht beschützen und für sie sterben, wenn es erforderlich werden sollte.

Derweil übernahm Semmar die Navigation, gab die Befehle und konnte ihre ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Primärobjekt lenken, wenn es soweit war. Auf diese Weise würde es definitiv gelingen, den Eindringling zu verhaften.

Ihr Bruder Tarest, der sich zunächst noch hatte überwinden müssen, war mittlerweile an sein Gefängnis herangeschwebt. Jetzt war er ebenfalls bereit für seine eigene Vereinigung und ließ die gesamte Prozedur ausgesprochen widerwillig über sich ergehen.

Nach so vielen mühevollen Jahren, in denen ich eure Psychen aufeinander abgestimmt habe, ist es mir heute endlich gelungen, euch fertig zu stellen, meine geliebten Kinder, kam es Skimrod indessen stolz und überaus glücklich in den Sinn.

Den dafür investierten Milliardenbetrag verdrängte er inzwischen beruhigt aus seinem ohnehin bloß leicht belasteten Gewissen. Denn schließlich hatte er ihrem glorreichen Planetaren Bund eine perfekte Abwehreinheit erschaffen, die ihnen vermutlich für viele Jahrzehnte zur Verfügung stehen und garantiert niemals versagen würde.

Als dem Hohen Rat zu guter Letzt wahrhaftig klar wurde, welch grandiose Schöpfung ihm da eigentlich gelungen war, begann er plötzlich hemmungslos zu weinen. Dieser so bewegende Moment – der erhabenste seines bisherigen Lebens, würde ihn bis zum Ende seiner Tage erfreuen.

***

»Ihr dürft mich niemals dazu zwingen, ein Leben auszulöschen. Auf gar keinen Fall werde ich töten!« Das kleine Sternenkind sagte dies sehr bestimmt und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

»Oh, du meinst so etwas wie: He, dieser Hohe Rat da gehört gemeuchelt und alles wird wieder gut. Arin, mach du das doch bitte mal auf die Schnelle.«

Lesandor lachte bei der Vorstellung, dass er oder Rali jemals auf den, irgendwie reichlich absurden, Gedanken kommen könnten, sie als Auftragsmörderin einzusetzen. Bis dem jungen Mann plötzlich erneut ihr Wutausbruch einfiel. Dieser heiße, nahezu glühende Zorn, der einen Menschen sicherlich mit Leichtigkeit verbrennen würde, wenn sie es darauf anlegte.

Er sah zu Ralissan, die offenbar an dasselbe dachte.

Ich sollte wohl niemals vergessen, dass du die Tochter einer Sonne bist, kam es ihm abschließend in den Sinn.

Zu guter Letzt versprachen sie dem Mädchen, keinesfalls so etwas von ihr zu verlangen, egal wie verlockend das vielleicht auch einmal erscheinen mochte. Dann war diese Sache endgültig geklärt und alle freuten sich total darüber, dass es nun definitiv keinen betrüblichen Abschied mehr geben musste.

Danach unterhielten sie sich eine Weile angeregt über Lesandors Ideen, als Rali konzentriert unterbrach.

»Es ist sieben Uhr dreiunddreißig! Ich denke, wir sollten uns langsam vorbereiten. Eventuell wäre es sogar sinnvoll, ein paar Flaschen Wasser und etwas Proviant mitzunehmen.«

»Du hast Recht. Ich schau mal, ob ich ein paar Dosen auftreiben kann. Wasser haben wir genug im Fährenunterdeck.«

Lesandor stand auf und ging nachsehen, was sich noch alles da unten befand. Und tatsächlich gelang es ihm, mit einer gut gefüllten Plastiktasche, die er ebenfalls im kleinen Abstellraum entdeckt hatte, zurückzukehren.

»Das wird für ein paar Tage reichen, den Rest klauen wir uns auf dem Frachter. Ich nehme an, das wird nicht weiter auffallen, da an Bord dieser Raumschiffe jede Menge Vorräte lagern, die der Mannschaft normalerweise für mehrere Flüge reichen.«

Zum Schluss steckte er umsichtig sein Kistchen mit den Rauchutensilien und den Sonnenfächerblüten dazu.

»Damit können wir hinterher unsere Flucht feiern«, grinste er Nolder an.

Anschließend verließen sie schnellstmöglich ihr Versteck und standen kurz darauf vor dem Werkzeuglager. Wiederum nahm Arin die beiden Menschen auf eine außergewöhnliche, leider viel zu kurze Reise mit, die sie direkt vor das Heck der Fähre brachte.

***

»Sieben Uhr Fünfzig – zwölf. Kontakt bestätigt, Sektoren X19, Y68.«

Der Pilot des Gleiters flog direkt zu dem angegebenen Zielpunkt und informierte den Hohen Rat Skimrod über die Sichtung.

»Flüchtlinge wurden soeben entdeckt, Herr. Wir sind bereits unterwegs. Kontakt in zwei Minuten – elf Sekunden.«

Plötzlich sagte sein Navigator: »Neue Daten empfangen, X2, Y198. Kontakt bestätigt.«

Der Kapitän zögerte keinen Augenblick und riss die Maschine sofort in die so abrupt geänderte Richtung. Dann ließ er seinen Kameraden kurz die Entfernungen berechnen und teilte Karden daraufhin mit: »Neue Daten sind übertragen worden. Befinden uns auf korrigiertem Kurs. Wir werden in drei Minuten – zweiundfünfzig Sekunden eben erhaltene Koordinaten erreichen, Herr.«

***

»Du musst mich nach unserer Ankunft unbedingt einmal über Shyr Velengar fliegen, Arin. Allerdings sehr viel langsamer.«

Lesandor beugte sich zu einer Schaltfläche neben der runden Zutrittsschleuse, deren unteres Ende sich vielleicht sechzig Zentimeter über den Boden befand und die einen Durchmesser von einem Meter fünfzig besaß. Dort gab er eilig den Öffnungscode ein, worauf es laut zischte, als sich ihr Sicherheitsmechanismus behäbig, doch einigermaßen konstant entfaltete.

Für Lesandors Geschmack ging es aber trotzdem viel zu schleppend und seine angespannten Nerven vibrierten. Äußerst erleichtert hörte er schließlich, wie die Haltevorrichtungen einrasteten. Daraufhin sah er in eine schmale Röhre, welche sich vielleicht fünf Meter tief in die Finsternis erstreckte.

»Am Ende des Schachts ist eine zweite Tür, die ungesichert ist und sich selbstständig öffnet. Dahinter befindet sich der kleine Wartungsraum mit den sechs Notsitzen. Wenn wir dort angekommen sind, müssen wir uns einfach bloß anschnallen und auf die Reise freuen. Dann hinein mit euch.«

Das kleine Sternenkind überlegte es sich kurz. War indessen gar nicht begeistert davon, wiederum Stunden in einen ungemütlichen, arg engen Raum zu verweilen. Als erwünschte Abwechslung käme ihr die eisige Weite des Alls – diese Freiheit verheißende, von Sonnen erleuchtete Dunkelheit – sehr gelegen. Etwas anderes stand für sie momentan eigentlich gar nicht zur Debatte.

Aus diesem Grund entschied sie sich nun endgültig dagegen, zusammen mit ihren Freunden zu reisen.

»Och, wisst ihr, ich stoße dann erst nachher wieder zu euch. Wahrscheinlich irgendwann auf dem Frachter, spätestens jedoch auf Shyr Velengar.«

Sie lächelte ihren Freunden dabei freundlich ins Gesicht, die natürlich Verständnis dafür aufbrachten. Vor allem Thalen, der es bestimmt auch nicht anders machen würde, wenn er durch den Weltraum fliegen könnte.

»Weißt du, dass habe ich mir im Grunde schon gedacht.«

Gleichwohl stieg jetzt unaufhaltsam leichter Zweifel in ihm hoch.

»Rali, geh du zuerst. Würdest du bitte die Tasche mitnehmen?«

Er drückte sie der flüchtig nickenden Alphabegabten in die Hand, die sich daraufhin lächelnd von dem Mädchen verabschiedete.

»Bis bald, Arin.«

Nachdem sie sich in den Gang drückte und die Sensoren einen Menschen wahrnahmen, ging die Beleuchtung automatisch an. Anschließend begann sie, sofort zur Kammer zu robben, in der sie ein wenig später ankam. Geschwind blickte sie sich in ihr um und besetzte gleich den erstbesten Platz.

Dabei sicherte sie sich, ohne großartig darüber nachzudenken, mit einem ungewohnten Gurtsystem. Hinterher verstaute sie die Tasche in einer, scheinbar für solche Fälle vorgesehenen, Vertiefung im Fußboden. Als alles erledigt war, schloss Nolder erschöpft und so nervös wie bislang niemals zuvor in ihrem Leben ihre Lider. Sie hoffte, dass Lesandor bald nachkommen würde.

Unterdessen stellte er dem kleinen Sternenkind draußen eine sehr wichtige Frage. Ohne die Antwort darauf konnte er nicht beruhigt abreisen.

»Du verziehst dich hoffentlich nicht klammheimlich, oder? Versprich mir, dass wir uns erneut treffen.«

Arin flog etwas höher und umarmte ihn ganz fest. Indes lachte sie leise, trotz allem herzerfrischend.

»Ich werde da sein, keine Sorge. Denn ich freue mich bereits auf unseren gemeinsamen Flug über Shyr Velengar, der natürlich ganz gemächlich sein wird. Das verspreche ich dir«, flüsterte sie ihm sanft ins Ohr und küsste ihn auf die Stirn.

Rali rief derweil laut aus dem Inneren der Maschine: »In vier Minuten ist es soweit. Du solltest rasch hereinkommen, Lesandor. Ich spüre schon die Triebwerke.«

»Ich eile«, schrie Thalen zurück und konnte die Turbinen währenddessen sogar ebenfalls leise summend wahrnehmen.

Er erwiderte Arins wohlige Zärtlichkeit sachte, bevor er sich beinahe widerwillig von ihr löste.

»Ich verlasse mich auf dich«, grinste er sie an.

Weiterhin schmunzelnd wollte Thalen sich gerade hinein bewegen, als völlig unerwartet zwei Kugeln seinen Oberkörper durchschlugen. Durch die Wucht der Treffer wurde er nach hinten gerissen und prallte hart an die Fährenwand direkt auf den Schließmechanismus der Schleuse, den er prompt aktivierte.

Zur gleichen Zeit wurden Arin – jäh und höchst brutal – unerträgliche Leiden zugefügt. Es war dieselbe widerlich tastende Präsenz in ihrem Geist wie bei dem ersten Treffen mit der Psybegabten Ralissan. Nur war diese unerträgliche Pein nahezu ins Extrem potenziert.

Das kleine Sternenkind begriff zuerst gar nicht richtig, was mit ihr und Lesandor geschah. Verkrampfend sah sie nichts anderes als die Einschusslöcher in seinem Hemd und dem Fleisch darunter. Danach das viele Blut, welches unaufhörlich aus ihm herausströmte.

Nichtsdestoweniger konnte sie sich nicht mehr länger darauf konzentrieren oder die Geschehnisse überhaupt noch realisieren, da die gewaltige Qual in ihr sie schlicht ausschaltete. Thalen rutschte inzwischen in eine hockende Position, in der er sich heftig zitternd hielt. In Sekundenbruchteilen erfasste er die Szene, die sich ihm darbot.

Arin befand sich in diesem Moment mit fürchterlich verzerrtem Gesicht dicht über dem Metall. Den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen und mit ausdruckslos in die Leere starrenden Augen. Flugs fiel sie, genau wie eine Marionette, deren Fäden man gehässig durchtrennte, die letzten Zentimeter herunter.

Übergangslos fing die Kleine danach an, unkontrolliert zu zucken und wand sich, schlagend und tretend, über die Metallplatten unter ihr. Sogleich sprühte Schaum in rötlichen, feucht glänzenden Blasen aus ihrem weit offenen Mund.

Fortsetzung folgt …

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