Detektiv Schaper – Das Katzenpalais – Kapitel 1
M. v. Neuhof
Das Katzen-Palais
Kapitel 1
Rechtsanwalt Heiling erreichte den Stadtbahnzug am Bahnhof Börse im letzten Augenblick. Nun, nach Geschäftsschluss in der Millionenstadt Berlin, spuckte die Stadt das unzählige Heer der Angestellten wie ein übersättigter, müder Moloch aus. Die Züge nach den westlichen Vororten waren mehr als überfüllt. Aber Ernst Heiling hatte Glück. Während er sich gerade noch in ein Abteil der zweiten Klasse hineinschwang, winkte ihm zwischen einer älteren Dame und einem fast überelegant gekleideten Herrn ein freies Plätzchen zu.
Er setzte sich, rückte den durch den eiligen Lauf etwas nach vorne gerutschten Klemmer auf seiner schmalen, feingebauten Nase zurecht und entfaltete die Abendzeitung. Seine Aktenmappe, in der sich dringende Papiere befanden, die er daheim erledigen wollte, stellte er neben sich.
Doch zum ungestörten Genuss der Lektüre sollte er nicht kommen. Sein Nachbar, in dessen fahlem Gesicht die Brille wie festgemauert saß, duftete derart aufdringlich nach einem süßlichen Parfüm, dass der Rechtsanwalt sich schleunigst eine Zigarette anzündete, obwohl die Luft im Abteil bereits von Rauchschwaden erfüllt war und Heiling sonst aus Rücksicht auf die anwesenden Damen auf seine geliebte Manoli verzichtet hätte. Doch dieser widerlich süße Duft, der seine Nase fortgesetzt belästigte, war anders nicht zu ertragen.
Nachdem die Zigarette brannte, lehnte er sich weit in die Polster zurück und betrachtete diesen Herrn, der seine Mitmenschen mit diesem unausstehlichen Parfüm zu peinigen wagte, nun erst einmal genauer. Das Gesicht des Betreffenden ließ mit seiner ungesunden Farbe und den feinen Fältchen um Mund und Augen keinen sicheren Schluss auf das Alter zu. Anfang dreißig, schätzte Heiling, dem das scharfe Beobachten anderer bei seinem Beruf zur zweiten Natur geworden war. Die Kleidung war zu jugendlich, überlegte der Anwalt weiter. Der Kragen könnte ein paar Zentimeter niedriger sein und der Stein in der Nadel der locker geschlungenen Krawatte war wohl aus Talmi – eine Eleganz, wie man sie in Berlin in gewissen Kreisen, die Heiling durch seine Tätigkeit nur zu gut kannte, nur zu häufig antraf.
Bei alledem schien den in so unfeiner Weise parfümierten Menschen eine fast krankhafte Unrast zu peinigen. Er klebte gerade noch auf dem vorderen Rand des Polsters und saß keinen Augenblick ruhig. Bald fuhr sein von einem spiegelblanken Zylinderhut gekrönter Kopf nach dieser, bald nach jener Seite, während er durch sein Monokel die vorbeihuschenden Häuser und Straßenzüge aufmerksam betrachtete. Offenbar hatte er es sehr eilig und erwartete das Eintreffen am Ziel seiner Fahrt mit höchster Ungeduld. Eine Ledermappe, die in Größe und Farbe der des Anwalts glich, hielt er ängstlich unter dem linken Arm geklemmt.
Am Bahnhof Friedrichstraße füllte sich das Abteil noch mehr. Auch der Mittelgang war nun von Leuten, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten, völlig gefüllt. Nur mit Mühe gelang es Heiling, der sich inzwischen an den aufdringlichen Geruch gewöhnt hatte und dem der Stutzer bereits wieder gleichgültig war, seine Zeitung zu entfalten.
Da – kurz vor dem Einlaufen in den Lehrter Bahnhof – wurden die Bremsen plötzlich mit voller Wucht angezogen. Es gab einen so starken Ruck, dass die Insassen des Abteils, in dem sich der Rechtsanwalt befand, gründlich durcheinandergeworfen wurden. Erst nach einer Weile gelang es Heiling, seine Aktentasche, die vom Sitz gefallen war, wieder an sich zu nehmen.
Im selben Augenblick riss ein Schaffner die Tür auf und rief den bestürzten Fahrgästen zu, dass die Maschine entgleist sei und alle sich zu Fuß den Gleisen entlang zum nahen Lehrter Bahnhof begeben müssten.
Mit einem halb unterdrückten Fluch sprang Heilings Nachbar als Erster auf und drängte sich rücksichtslos durch die offen gebliebene Tür.
»Nette Wirtschaft – verdammter Aufenthalt!«, hörte der Anwalt den Fremden murmeln. Dann verlor er ihn aus den Augen.
Eine Viertelstunde später befand sich Heiling, der eine elektrische Straßenbahn zur Weiterfahrt benutzt hatte, in seiner Privatwohnung in Charlottenburg. Schon unterwegs hatte er bemerkt, dass der geringfügige Eisenbahnunfall ihm doch in einer Beziehung verhängnisvoll geworden war. Fraglos hatte er seine Aktentasche nämlich mit der des parfümierten Herrn vertauscht, die gleichfalls ihrem Besitzer entglitten war. Denn er spürte deutlich durch das Leder mehrere harte, längliche Gegenstände in der Mappe, während seine eigene nur ein paar dünne Aktenhefte enthalten hatte – leider zu spät, woran nur die allgemeine Aufregung Schuld trug.
In seinem aus zwei vornehm möblierten Zimmern bestehenden Junggesellenheim betrachtete er die vertauschte Aktentasche genauer. Die Sache war ihm insofern recht ärgerlich, als er nicht wissen konnte, wann der Fremde ihm sein Eigentum wieder zustellen würde. Zudem befanden sich unter den Aktenstücken zwei Exemplare, die er morgen Vormittag unbedingt benötigte. Vielleicht entdeckte er jedoch in der Mappe etwas, das ihm die Adresse des Besitzers verriet. Und so versuchte er, die Tasche zu öffnen. Das Schloss widerstand zunächst allen seinen Bemühungen, bis er, ungeduldig geworden und nur vom Wunsch beseelt, seine Papiere schleunigst zurückzuerhalten, einige kleine Schlüssel herbeiholte und diese probierte. Einer passte wirklich.
Mit einer gewissen Neugierde breitete Heiling nun den Inhalt der Aktentasche auf seiner Schreibtischplatte aus.
Zu seiner Enttäuschung enthielt sie jedoch nur ein flaches, in ein schwarzes Tuch eingewickeltes Paket und ein zerknittertes Blatt Papier, auf dem einige Reihen deutscher Wörter in verstellter Schrift standen, die aber keinen Sinn ergaben.
Mutlos wickelte Heiling das Tuch auseinander, um sich die darin befindlichen Gegenstände anzusehen. Ein leises Klirren belehrte ihn, dass es sich, wie er schon aus dem Gewicht des Bündels geschlossen hatte, um Metallsachen handeln müsse.
Dann lagen diese vor ihm und glitzerten im Licht des elektrischen Kronleuchters.
Der Anwalt stand einen Augenblick ganz regungslos vor Überraschung da. Unwillkürlich drängte sich ein leiser Ausruf höchsten Staunens über seine Lippen.
Denn seine Augen ruhten wie gebannt auf dem am besten gearbeiteten Einbrecherwerkzeug, das ihm je in seiner Praxis vorgekommen war. Da fehlte nichts: Von einer haarscharfen, dünnen Stahlsäge bis zu einem aufklappbaren Brecheisen war alles vertreten, womit der moderne Dieb sich bietende Hindernisse zu bezwingen weiß.
Nachdenklich starrte Heiling noch immer auf diese aus feinstem Stahl gefertigten Instrumente, deren verbrecherischen Zweck ihm als Strafverteidiger sofort klar geworden war. Blitzschnell überlegte er sein weiteres Vorgehen. Auf keinen Fall durfte der Fremde ahnen, dass er durchschaut war. Und so legte der Rechtsanwalt die Diebeswerkzeuge schleunigst wieder in die Tasche zurück. Schon wollte er diese verschließen, als ihm ein anderer Gedanke in den Sinn kam. Im Nu hatte er den rätselhaften Inhalt des Papiers wörtlich abgeschrieben. Erst jetzt ließ er die Feder des Schlosses einschnappen und warf die Ledermappe achtlos auf den nächsten Sessel.
Damit noch nicht genug, stellte er das Tischtelefon für die Portierloge ein und rief den Hausmeister an.
»Tomsen, sind Sie dort?«
»Jawohl, Herr Rechtsanwalt. Sie wünschen?«
»Ist Werner zu Hause?«
»Natürlich. Er sitzt gerade beim Abendessen. Soll ich etwas für Sie besorgen?«
»Allerdings. Er kann sofort heraufkommen. Die Sache ist dringend.«
»Gut.« Eine Pause. Dann: »Er ist schon unterwegs, Herr Rechtsanwalt.«
»Danke!«
Befriedigt legte Heiling den Hörer zurück und ging hinaus, um die Flurtür selbst zu öffnen.
Werner Tomsen hastete in großen Sprüngen die mit Läufern belegte Treppe empor. Ganz atemlos stand er nun vor seinem Gönner und Brotherrn.
»Was wünschen Sie, Herr Rechtsanwalt?«
»Nicht hier. Komm in mein Zimmer.«
Es war ein hochgewachsener Junge von etwa fünfzehn Jahren, der abwartend vor Heiling stand.
»Du weißt, wozu ich dich verpflichtete, als ich dich als Schreiber in mein Büro aufnahm«, begann der Rechtsanwalt hastig.
»Jawohl – zur Ehrlichkeit und Verschwiegenheit!«, erwiderte Werner Tomsen prompt.
Heiling nickte.
»Von dem Auftrag, den ich dir jetzt geben werde, zu niemandem ein Wort! Es wird heute Abend wahrscheinlich noch ein Herr zu mir kommen, um seine Aktentasche abzuholen. Er hat sie in der Bahn mit meiner vertauscht. Diesem Herrn folgst du unauffällig, verstanden? Hier hast du für etwaige Auslagen sechs Mark. Sollte es nötig sein, benutze zur Beobachtung des Betreffenden jede sich dir bietende Möglichkeit: Auto, Taxameter, Elektrische – von allem mache Gebrauch, um ihm auf der Fährte bleiben zu können. Auto, Taxameter, Elektrische – von allem mache Gebrauch, um ihm auf der Fährte bleiben zu können. Ich möchte herausfinden, mit wem er verkehrt, in welchem Haus er verschwindet beziehungsweise welches Restaurant er besucht. Du verstehst mich …?«
Der junge Mensch, dessen gesundes, offenes Gesicht mit den schlauen, gar nicht mehr kindlichen Augen jetzt förmlich strahlte, entgegnete eifrig: »Ob ich Sie verstehe, Herr Rechtsanwalt! Natürlich! Ich werde die Sache schon machen, verlassen Sie sich ganz auf mich. Auch wenn ich kein geborener Berliner bin, sind wir doch hell!«
»Schon gut. Wenn du den Auftrag zu meiner Zufriedenheit erledigst, erhältst du drei Mark. Außerdem weißt du ja, dass ähnliche Angelegenheiten bei uns im Büro häufig vorkommen. Wenn du dich geschickt anstellst, werde ich dich in Zukunft des Öfteren einsetzen. Also, verschwinde jetzt. Halte dich vor der Haustür auf der anderen Straßenseite auf und achte genau darauf, ob ein Herr mit einer solchen Aktentasche den Flur betritt und bald wieder erscheint. Das ist dann der Richtige.«
Werner Tomsen verließ das Zimmer mit einer höflichen Verbeugung.
Eine Viertelstunde später klingelte es an der Flurtür der zweiten Etage, deren linke Hälfte die verwitwete Frau Hauptmann von Gersten bewohnte und in der der Rechtsanwalt Dr. jur. Ernst Heiling als Untermieter zwei Vorderzimmer innehatte.
Gleich darauf klopfte Frau von Gersters Stubenmädchen bei dem Rechtsanwalt an.
»Herr Doktor – für Minna war ein Doktor mehr als ein Rechtsanwalt – ein Herr wünscht Sie zu sprechen.«
»Ich lasse bitten.«
Heiling erhob sich aus seinem Schreibtischsessel und ging dem Eintretenden entgegen.
Es war tatsächlich der Fremde aus dem Stadtbahnzug.
»Schmidt, Ingenieur der Firma Siemens & Halske«, stellte er sich mit leicht näselnder Stimme vor.
Heiling machte eine einladende Handbewegung in Richtung eines der Sessel, die um den großen Mitteltisch gruppiert waren.
»Wollen Sie bitte Platz nehmen, Herr Schmidt? Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Danke verbindlichst«, lehnte der angebliche Ingenieur ab. »Ich habe Eile. Der Zweck meines Besuches ist es, Ihnen diese Aktentasche wieder auszuhändigen. Wir haben unsere Mappen vertauscht, als sie bei dem plötzlichen Bremsen des Zuges zu Boden fielen.«
Heiling lächelte liebenswürdig.
»Ich ahnte, dass Sie kommen würden, Herr Schmidt. Meinen Namen und meine Adresse mussten Sie ja auf den Akten in meiner Ledertasche finden. Darauf habe ich gerechnet und war daher über die Verwechslung nicht weiter besorgt. Vielen Dank. Hier ist Ihre Mappe. Ich will ehrlich sein: Ich habe versucht, sie zu öffnen, um vielleicht aus dem Inhalt Ihren Namen zu erfahren. Da sie jedoch verschlossen war, gab ich mich mit dem Gedanken zufrieden, dass Sie mich fraglos bald aufsuchen würden.«
Einen Moment ruhten die Augen des Fremden fast durchdringend auf Heilings Gesicht. Offenbar war irgendeine misstrauische Regung in ihm wach geworden. Da die Mienen des Rechtsanwalts aber unverändert den harmlos zuvorkommenden Ausdruck beibehielten, schien er sich wieder zu beruhigen. Und mit einem Scherz meinte er:
»Die Verwechslung ist Ihnen wohl sehr schnell infolge des nicht gerade geringen Gewichtsunterschiedes der beiden Taschen aufgefallen. Tut mir leid, dass Sie sich mit meinen Modellteilen für einen neuen Flugzeugmotor haben schleppen müssen, Herr Rechtsanwalt.«
Nette Modellteile!, dachte Heiling. Laut aber sagte er: »Ah, da habe ich wohl kurzzeitig die Vorarbeiten für ein neues Patent in meiner Obhut gehabt, Herr Schmidt. Nur gut, dass ausgerechnet ich Ihre Mappe mitnahm. Wer weiß, ob Ihr Modell bei einem Ingenieur nicht doch die Neugier geweckt hätte. Denn dass sich Metallgegenstände in der Ledertasche befinden, ist deutlich genug durchzufühlen.«
Das klang alles so harmlos freundlich, dass auch der letzte Rest von Misstrauen des Fremden schwand.
»Ja, ich bin auch sehr froh darüber«, entgegnete er mit einer gezierten Verbeugung. »Es handelt sich in der Tat um eine wichtige Erfindung, deren Kenntnis für einen Fachkollegen höchst wertvoll gewesen wäre …«
»Na, jetzt können Sie jedenfalls ganz beruhigt sein«, sagte Heiling gut gelaunt. »Ebenso wie ich mich freue, dass ich meine Akten wiederhabe.«
Dann fügte er in ernsterem Ton hinzu: »Pardon, ich vergaß mich bei Ihnen zu entschuldigen, dass ich Sie in Morgenschuhen und Hausjoppe empfangen habe. Ich war so in meine Arbeit vertieft …«
»Aber lassen Sie doch, Herr Rechtsanwalt …!«, unterbrach ihn der andere. »Das bedarf keiner Entschuldigung, wirklich nicht. Gestatten Sie mir nun, dass ich mich verabschiede. Guten Abend, Herr Rechtsanwalt. Es war mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«
»Ganz auf meiner Seite, Herr Schmidt …«
- Heiling begleitete den Besucher bis zur Flurtür und kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück.
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