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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 6 – Kapitel 1

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Sechste Episode
Die Ritter des Chloroform

Erstes Kapitel
Die Banditen aus Chinatown

Obwohl der Grizzly-Club seine Räumlichkeiten im zweiunddreißigsten und letzten Stockwerk eines kürzlich erbauten Wolkenkratzers eingerichtet hatte, kamen seine Mitglieder in den Genuss eines herrlichen Parks, der in gewisser Weise mit den Hängenden Gärten von Babylon vergleichbar war, die einst von Königin Semiramis angelegt worden waren. Er war als Terrasse gestaltet und mit einer dicken Schicht Bitumen bedeckt.

Wochenlang hatten die Aufzüge Kisten voller Mutterboden hinaufbefördert. Schließlich, dank viel Geld und Geduld, blühten nun schattige Wäldchen über den zartgrünen Rasenflächen, die durch sandige Wege voneinander getrennt waren. Eine Quelle schlängelte sich durch den Rasen, aus dem Rhododendron-, Kamelien- und Orangenbaumbeete emporragten.

In diesem Garten, der auf magische Weise auf dem Dach des monströsen Gebäudes aus Ziegeln und Stahl entstanden war, herrschte selbst an den heißesten Tagen der Hitzewelle eine angenehme Kühle. Lässig in Schaukelstühlen oder bunten Rattansesseln liegend, konnten die Clubmitglieder inmitten des grünen Laubwerks das weite Panorama der New Yorker Bucht, die gigantischen Gebäude der Stadt, den mit Schiffen übersäten Hudson und die grandiose Freiheitsstatue genießen, deren Fackel in der Dämmerung leuchtete.

Vor allem am Abend, wenn die massiven Gebäude von Tausenden kleiner blauer und grüner elektrischer Lampen beleuchtet wurden, bot der Park des Grizzly-Clubs einen märchenhaften Anblick. An die Marmorbalustraden gelehnt, konnten die Clubmitglieder die titanischen Gebäudekomplexe bewundern, deren Silhouetten sich vor einem Hintergrund grellen Lichts abzeichneten. In der Ferne glitzerten die Wellen des riesigen Atlantiks sanft im Mondlicht, und die unzähligen, in Ufernähe vor Anker liegenden Schiffe beleuchteten mit ihren bunten Laternen und Masten wie ein Wald im Wind das nächtliche Panorama.

Zu den Reizen dieses weltweit einzigartigen Panoramas kamen noch andere, weniger poetische Verlockungen hinzu. Barkeeper, die wie Diplomaten gekleidet waren und ernst dreinblickten, reichten auf Silbertabletts mit dem Wappen des Clubs die ganze beeindruckende Palette amerikanischer Getränke: den Mint Julep, der duftete wie ein Strauß Wildblumen, den tückischen Milk Punch, auch Prairie Oyster (Prärieauster) genannt, die Vorsehung der Trinker, und den unfehlbaren und endgültigen Nightcap (Nachtmütze).

Dies war der Ort, den der Milliardär Fred Jorgell, Direktor der Compagnie des paquebots Éclair, gelegentlich frequentierte.

An diesem Abend war er in Begleitung seines Privatsekretärs, einem in seinem Land als Dichter berühmten Franzosen, der nach zahlreichen Abenteuern sein Vermögen endgültig mit dem des Milliardärs verbunden hatte.

Fred Jorgell vertraute Agénor Marmousier voll und ganz und behandelte ihn eher wie einen Freund als wie einen Angestellten.

Beide hatten sich unter einer Magnolie gegenüber einem kleinen Marmor-Beistelltisch niedergelassen und spielten, während sie ein Glas Extra Dry genossen, eine Partie Dame. Dieses meditative Spiel war das Einzige, dem sich der Milliardär jemals hingab. Er fand in den simplen Kombinationen eine Ablenkung von den anstrengenden Berechnungen, die seine Spekulationen erforderten.

Fred Jorgell und der Dichter waren übrigens gleich stark und schafften es manchmal, eine einzige Partie fast unendlich lange hinauszuzögern.

Sie spielten bereits seit fast einer Stunde und genossen die Schönheit dieses lauen Abends, als plötzlich Unruhe unter den Clubmitgliedern ausbrach, die hier und da im Schatten des Parks saßen.

Fieberhaft reichten sie sich eine Abendzeitung von Hand zu Hand.

»Was ist denn los?«, fragte Fred Jorgell einen der Barkeeper, der auf den elektrischen Klingelton hin herbeigeeilt war.

»Sir, es handelt sich wieder um eine neue Heldentat der Chloroformritter.«

Der Milliardär konnte ein Zusammenzucken nicht unterdrücken.

»Können Sie mir die Zeitung besorgen?«, fragte er den Barkeeper.

»Sofort, Sir.«

Kurz darauf kam dieser mit einer Ausgabe des NIGHT zurück. Der Dichter griff danach und las die Meldung, die die Mitglieder des Grizzly-Clubs so in Aufregung versetzt hatte, laut vor:

HOTELBESITZERIN ERMORDET

Während wir in Druck gehen, erfahren wir, dass unter mysteriösen Umständen ein Mord an der ehrenwerten Mrs. Griffton begangen wurde, die seit mehr als zehn Jahren ein Bordell in der 30. Avenue Nr. 93 leitete.

Nachdem sie wie jeden Abend mit ihren Bewohnern, die sie sehr schätzten, Tee getrunken hatte, ging Mrs. Griffton, die schottischer Herkunft war, in ihr Zimmer, um einige Postkarten mit Ansichten von Edinburgh zu holen, die sie einer Freundin zeigen wollte. Als sie nicht wieder herunterkam, befürchteten ihre Bewohner, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte, und beschlossen, nach ihr zu sehen. Nachdem sie lange geklopft hatten, ohne eine Antwort zu erhalten, brachen sie die Tür auf. Ihnen bot sich ein schrecklicher Anblick.

Mistress Griffton lag vollständig bekleidet auf ihrem Bett. Ihr Gesicht war mit einer Gummimaske bedeckt und sie gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Der widerliche Geruch von Chloroform, der den Raum erfüllte, ließ keinen Zweifel daran, wie das Verbrechen begangen worden war. Der berühmte Arzt Cornelius Kramm, dessen Wohnsitz nicht weit entfernt war, wurde eilig herbeigerufen, aber seine Bemühungen waren vergeblich – er konnte nur noch den Tod feststellen.

Dieser Fall weist viele mysteriöse Aspekte auf, und es wird zweifellos noch einige Zeit dauern, bis die New Yorker Polizei die Schuldigen gefasst hat. Der Leichnam wies keine Spuren eines Kampfes oder von Gewalt auf. Niemand hatte den Mörder hereinkommen oder hinausgehen hören und konnte Angaben zu seiner Person machen. Schließlich waren die Möbel im Zimmer nicht aufgebrochen und es schien, als sei kein Wertgegenstand gestohlen worden. Polizisten und Richter rätseln über das Motiv für diesen dreisten Mord.

Eine einzige Hypothese erscheint uns plausibel. Unsere Leserinnen und Leser erinnern sich vielleicht, dass in der von Mistress Griffton geleiteten Einrichtung der berühmte Mörder Baruch Jorgell verhaftet wurde. Lange Zeit nahm man an, er gehöre der Vereinigung der Roten Hand an. Es wäre unserer Meinung nach nichts Ungewöhnliches, wenn der Tod der ehrenwerten Mistress eine Racheaktion des gefürchteten Geheimbundes wäre.

Dieser Mord mit Chloroform ist der dritte innerhalb eines Monats. Die Bevölkerung unserer Hauptstadt ist in Angst und Schrecken versetzt. Sie bezeichnet die Mitglieder dieser mysteriösen Bande, von denen noch keiner gefasst werden konnte, bereits als Ritter des Chloroform.

Abschließend sei daran erinnert, dass Baruch Jorgell, der derzeit in einer Irrenanstalt interniert ist, der Sohn des bekannten Milliardärs und Bruder der charmanten Miss Isidora ist, deren Porträt wir vor einigen Tagen veröffentlicht haben und die in Kürze den angesehenen Ingenieur Harry Dorgan heiraten wird.

Um Fred Jorgell nicht zu verärgern, hatte Agénor den letzten Absatz übersprungen. Doch der Milliardär las über die Schulter des Dichters hinweg und verschlang die Beleidigung bis zum Ende.

Sein Gesicht wurde blass, seine Hände zitterten, er zerknüllte die Zeitung und warf sie zu Boden.

»Man wird also immer noch über diesen elenden Baruch reden!«, rief er verzweifelt. »Hoffentlich sehen Isidora und Harry das nicht, es würde ihnen das Herz brechen!«

»Mr. Dorgan ist im Moment so beschäftigt, dass er kaum Zeit zum Lesen hat. Und ich werde dafür sorgen, dass Miss Isidora diese unglückselige Zeitung oder ähnliche nicht findet.

»Danke«, antwortete der Milliardär traurig. »Ich zähle auf Sie, nicht wahr?«

Es folgten einige Minuten schmerzhafter Stille.

»Sollen wir weiter spielen?«, fragte Agénor schließlich.

»Nein, ich bin nicht mehr bei der Sache. Diese verdammte Meldung hat mir den Abend verdorben. Außerdem ist es schon spät.«

»Es ist kurz nach Mitternacht.«

»Möchten Sie, dass wir zurückfahren?«

»Wie Sie wünschen.«

Eine Minute später stiegen sie in den Aufzug, der sie bis ins Zentrum des Luftparks fuhr. Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zum elektrischen Coupé des Milliardärs.

Der Chauffeur öffnete respektvoll die Tür, doch Fred Jorgell winkte ihn mit einer Geste weg.

»Es ist so schön heute Abend«, sagte er, »dass ich lieber zu Fuß nach Hause gehen möchte. Das wird meine Kopfschmerzen vertreiben, es sei denn, Mr. Agénor möchte lieber mit dem Auto zurückfahren.«

»Keineswegs«, antwortete der Dichter mit seiner üblichen Höflichkeit. »Ich werde Sie begleiten.«

Beide machten sich gemächlich auf den Weg und folgten einer breiten Allee, auf der die Menge der Nachtschwärmer bereits dünner geworden war.

Sie waren noch keine Viertelstunde unterwegs, als Agénor sich umdrehte und annahm, verdächtige Schatten zu sehen.

»Ich glaube«, sagte er zu dem Milliardär, »wir werden verfolgt.«

Fred Jorgell zuckte lächelnd mit den Schultern.

»Sie haben wahrscheinlich recht«, erklärte er. »Es kommt selten vor, dass ich keine Spione an meinen Fersen habe. Aber ich bin so daran gewöhnt, dass ich gar nicht mehr darauf achte.«

»Spione?«

»Ganz genau. Ich weiß, dass meine finanziellen Gegner alle meine Handlungen von Spezialagenturen überwachen lassen. Ich gebe zu, dass ich bei einigen von ihnen genauso vorgehe. William Dorgan und sein Sohn Joë zum Beispiel. Außerdem zahle ich, wie es unter uns Milliardären üblich ist, jedes Jahr einen bestimmten Betrag an die New Yorker Polizei, um besonderen Schutz zu erhalten. Was die Berufsverbrecher, die Spezialisten für nächtliche Überfälle, angeht, so habe ich keine Angst vor ihnen. Ich bin ein Mann der Tat und habe mir meinen Weg im Leben oft mit der Browning oder sogar mit den Fäusten gebahnt.«

In die sehr reale Tapferkeit des Milliardärs mischte sich ein Hauch von Selbstgefälligkeit. Agénor musste lächeln.

Beide setzten ihren Weg fort und unterhielten sich über dies und das. Fred Jorgell schien seine schlechte Laune, die er beim Lesen des Artikels in der NIGHT gehabt hatte, völlig vergessen zu haben. Doch dem war nicht so.

Plötzlich sprang ein Zeitungsverkäufer aus einer Seitenstraße auf die Allee und rief: »Fragen Sie nach der fünfzehnten Ausgabe des NIGHT! Fragen Sie nach dieser kuriosen Ausgabe. Neue Details zum Mord an Mrs. Griffton!«

»Hierher! Hierher!«, rief der Milliardär, doch der Mann hatte ihn nicht gehört und entfernte sich schnell.

»Seien Sie so freundlich und laufen Sie ihm nach, mein lieber Agénor. Versuchen Sie, ihn einzuholen. Ich kann nichts dafür, dieses Verbrechen interessiert mich. Ich werde langsam die Allee entlanggehen, Sie werden mich leicht einholen können.«

Der Dichter nahm die Verfolgung des Zeitungsausrufers auf und folgte ihm in eine schlecht beleuchtete Gasse.

Doch er hatte kaum Zeit, ein paar Schritte weiterzugehen. Plötzlich legte sich eine Maske über sein Gesicht, er fiel zu Boden, wie vom Blitz getroffen, und konnte keinen Schrei mehr ausstoßen.

Der Mörder, eine Art Herkules mit langem Bart, beugte sich über den Körper seines Opfers, stieß ihm mit einer Sicherheit, die auf langjährige Gewohnheit hindeutete, einen Dolch ins Herz, nahm die Maske ab, eignete sich eine Brieftasche an und verschwand.

Diese Schreckensszene hatte sich blitzschnell abgespielt. Nur wenige Sekunden hatten ausgereicht, um den fröhlichen, intelligenten und loyalen Dichter in eine anonyme Leiche zu verwandeln, die verlassen am Fuße eines Grenzsteins lag, die Stirn im Bach, in einer verlassenen Gasse.

Fred Jorgell setzte seinen Weg fort, doch als er nach einer Viertelstunde seinen Begleiter immer noch nicht zurückkommen sah, begann er sich Sorgen zu machen und kehrte um.

»Ich bin auch dumm«, murmelte er, »Agénor mit einem solchen Auftrag betraut zu haben. Dumm auch, nicht mit dem Auto zurückgefahren zu sein! Ich wäre schon wieder zu Hause und hätte einen Diener geschickt, um mir alle Abendzeitungen zu holen!«

Der Milliardär kehrte zu der Stelle zurück, an der Agénor ihn verlassen hatte, und begab sich seinerseits in das Gewirr der kleinen Seitenstraßen. Je weiter er vorankam, desto mehr stellte er fest, dass ihm dieses Viertel unbekannt war und alles hier einen seltsamen Charakter hatte.

Über bunten, farbenfrohen Verkaufsständen baumelten Papierlaternen. Schwanzlose Hunde und fette Ratten, die in den Müllhaufen wühlten, flohen in alle Richtungen. Die Häuser wirkten schäbig und verwahrlost. Solche Verhältnisse hatte Fred Jorgell sonst nur im Orient gesehen. Außerdem waren alle Geschäfte geschlossen. Nur hier und da drang ein Lichtstrahl aus einem Kellerfenster oder durch einen Spalt in den schlecht geschlossenen Fensterläden.

Als er an einer dunklen Gasse vorbeikam, deren Ende im rötlichen Licht einer rauchigen Laterne schimmerte, stieg Fred Jorgell ein beißender, widerlicher und seltsamer Geruch in die Nase. Es roch wie ein starkes Parfüm, das sehr übel roch. Er kannte diesen Gestank, der schon von Weitem die Spelunken verriet, in denen das schwarze Gift verkauft wurde.

»Opium«, murmelte er mit einer Geste des Ekels. »Das stinkt nach Opium. Ich bin in Chinatown.«

Allerdings fand er keine Spur von Agénor und begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er durchsuchte einen ganzen Block mit baufälligen Gebäuden, die vor Schmutz und Elend nur so stanken, jedoch ohne Erfolg. Agénor war nirgends zu finden.

Dieser verdammte Franzose muss etwas erfahren haben, das eine schnelle Entscheidung erfordert, dachte der Milliardär. Vielleicht ist er, ohne mich zu benachrichtigen, zu einer Zeitung gegangen, um den beleidigenden Artikeln über mich ein Ende zu setzen … Ich werde ihn sicher finden, wenn ich zurückkomme.«

Nach einer Dreiviertelstunde vergeblicher Suche beschloss Fred Jorgell, sehr unzufrieden und insgeheim alarmierter, als er sich selbst eingestehen wollte, wegen des Verschwindens seines Sekretärs, zu seinem Hotel zurückzukehren.

Er schlenderte also in Richtung der Allee, die er verlassen hatte, durch die Straßen und Gassen zurück. Bald merkte er jedoch, dass er sich verlaufen hatte. Je weiter er ging, desto düsterer, stinkender und hässlicher wurde die Gegend.

»Ich glaube, bei Jove!«, murmelte er, »ich habe mich verlaufen! Dieses Chinatown ist wie ein Labyrinth, aus dem ich wohl nie wieder herauskomme. Am einfachsten ist es, geradeaus zu gehen. Dann komme ich irgendwann zu einer Allee, wo ich einen Taxistand und Polizisten finde, die mir Auskunft geben können!«

Nachdem er sich zweimal vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte, und festgestellt hatte, dass seine Browning griffbereit in der Tasche seines Mantels steckte, setzte er sich mit elastischen, gleichmäßigen Schritten wieder in Bewegung. Fred Jorgell hatte keinerlei Angst. Er war lediglich wütend, dass er so viel Zeit verloren hatte, und verärgert, dass er sich wie ein einfacher Cockney vorkam, der gerade mit dem Schiff angekommen war.

Viel weniger beruhigt wäre er gewesen, wenn ihm ein riesiger Schurke gefolgt wäre, der an den stummen Fassaden entlangschlich, sich in dunklen Ecken versteckte und regungslos verharrte, sobald sich der Milliardär umdrehte. Dieser hartnäckige Verfolger war derselbe Bandit, der gerade den unglücklichen Agénor ermordet hatte.

Fred Jorgell, dessen schlechte Laune immer größer wurde, begann, eine gewisse Müdigkeit von dem langen Marsch durch die schlecht gepflasterten Gassen zu verspüren. Er gelangte an den Eingang einer Straße, in der die Schaufenster einiger rund um die Uhr geöffneter Bars noch beleuchtet waren.

Menschen in Lumpen kamen und gingen auf dem Bürgersteig und drängelten sich vor den Türen der Kneipen.

»Endlich«, rief der Milliardär, »bin ich in einem zivilisierteren Viertel angekommen! Dann werde ich jemanden finden, der mir Auskunft geben kann.«

Er beschleunigte fröhlich seine Schritte, betrat entschlossen die erste Bar, die ihm begegnete, und bestellte ein Glas Whiskey.

Als er eintrat, wurde es unter den Armen, die sich um die Theke drängten oder auf hohen Hockern saßen, plötzlich still. Alle betrachteten mit glänzenden Augen diesen gut gekleideten Fremden, der sich zu dieser Stunde nicht scheute, sich an einen solchen Ort zu wagen. Doch Fred Jorgell wirkte so ruhig, so selbstbewusst und so vollkommen ungezwungen in dieser von Tabak- und Alkoholrauch verpesteten Atmosphäre, dass man ihn für einen hochrangigen Polizeibeamten hielt. Niemand rührte sich und die Gespräche wurden wie vor seiner Ankunft fortgesetzt.

Ohne auch nur einen Schluck von dem übelriechenden Likör zu nehmen, der ihm gerade serviert worden war, fragte er mit ruhiger Stimme nach dem kürzesten Weg zur Zehnten Avenue. Ein bärtiger Hüne, der fast unmittelbar nach ihm die Bar betreten hatte, gab ihm freundlich Auskunft.

Er bezahlte, verließ die Bar ohne Zwischenfälle und machte sich wieder auf den Weg. Er war ungeduldig, diesen erzwungenen Ausflug in ein übelriechendes Viertel hinter sich zu bringen.

Bald stellte er fest, dass in der Straße, in die er auf Anweisung des Mannes mit dem langen Bart eingebogen war, alle Gaslaternen mit Steinen zerschlagen worden waren. Es herrschte völlige Dunkelheit, doch er maß diesem Detail, das in einem solchen Viertel nichts Ungewöhnliches war, nur wenig Bedeutung bei.

Als er die Mitte der Straße erreicht hatte, drehte er sich um und bemerkte, dass er von dem Mann verfolgt wurde, der ihm gerade Auskunft gegeben hatte. Der Mann machte nicht einmal die Mühe, sich zu verstecken.

Vielleicht geht dieser Kerl ja doch denselben Weg wie ich, dachte der Milliardär.

Er ging weiter, aber langsamer und mit der Hand am Griff seiner Browning. Doch plötzlich stieß er einen Ausruf der Wut und Enttäuschung aus. Die Straße, die man ihm als Weg beschrieben hatte und die er naiv für den richtigen Weg gehalten hatte, endete in einer Sackgasse.

»Bei Gott!«, knurrte er. »Diese Schlingel haben mich wie eine Ratte in einer Falle gefangen! Aber wir werden schon sehen!«

Er drehte sich abrupt um, die Browning in der Hand.

Mitten auf der Straße stand der Riese mit dem langen Bart und versperrte ihm den Weg. In der Hand hielt er die blanke Klinge eines Bowiemessers, das fast so lang war wie eines dieser riesigen Messer, mit denen man Wale zerlegt. Ein weiterer Bandit, der aus dem Nichts aufgetaucht war, stand hinter dem ersten und war bereit, ihm zu Hilfe zu kommen.

Glücklicherweise war Fred Jorgell kein Neuling in solchen Abenteuern. Er verlor keine Sekunde lang seine unerschütterliche Gelassenheit, hob mit einer sicheren und präzisen Bewegung seine Browning, ohne auf einen Angriff zu warten, zielte und schoss.

Der bärtige Riese rollte schreiend auf dem Pflaster, sein Bein war gebrochen.

»Ich habe zu tief geschossen«, murmelte der Milliardär kühl.

Er suchte mit den Augen nach dem zweiten Banditen, doch dieser war verschwunden.

»Diese Schurken sind von einer einzigartigen Feigheit«, sagte Fred Jorgell lächelnd. »Sobald man ihnen die Stirn bietet, sind sie wie vom Erdboden verschwunden!«

Ohne weitere Emotionen machte er sich bereit, seinen Weg fortzusetzen, als ihn eine kräftige Hand von hinten packte und begann, ihn zu würgen, bis er fast erstickte.

»Töte ihn!«, schrie der zu Boden gefallene Mann mit heiserer Stimme. »Du weißt, dass es der Befehl der Lords ist.«

»Ein Hurra für die Rote Hand!«, antwortete der Zweite begeistert.

Gleichzeitig versetzte er Fred Jorgell einen heftigen Messerstich, der durch das Scheckheft, das der Milliardär gewöhnlich in der Innentasche seines Jacketts trug, abgefedert wurde.

In einer verzweifelten Bewegung befreite sich der Milliardär und feuerte, halb erwürgt und mit blutunterlaufenen Augen, drei Schüsse hintereinander ab.

»Töte ihn doch!«, wiederholte die Stimme des Verwundenen, diesmal fast drohend.

Im selben Moment wurde Fred Jorgell von einem heftigen Kopfstoß in den Magen zu Boden geworfen und ließ seine Browning fallen. Er war verloren.

»Schneide ihm die Kehle durch, das ist das Beste!«, sagte der Verwundete, der es geschafft hatte, sich aufzurichten. Er war offenbar der Anführer des Überfalls.

Fred Jorgell spürte kein Blut mehr in seinen Adern; der Mörder hatte sein Knie auf seine Brust gedrückt. Es war aus mit ihm.

Er sah einen Stahlblitz vor seinen Augen aufleuchten. Die Klinge des Dolches wurde für einen Moment durch den dicken Kragen aufgehalten, der gemäß der Mode dieses Jahres sehr hoch und geschlossen war. Die Schneide knirschte gegen den großen Diamanten, der die Krawattennadel zierte.

In dieser Sekunde hatte der Milliardär ein ganzes Jahrhundert voller Angst durchlebt.

Der Verletzte kroch trotz seines gebrochenen Beines näher heran.

»Beeil dich doch!«, schrie er. »Muss ich ihn etwa selbst töten? Die Polizei kommt! Die Fenster öffnen sich! Und ich verliere Blut, mein Bein schmerzt höllisch!«

»Aber, Monsieur Slugh, ich beeile mich«, stammelte der andere.

Mehr konnte er nicht sagen.

Eine vierte Person, die plötzlich aus einer dunklen Gasse auftauchte, hatte ihm mit einem Knüppel den Schädel zertrümmert. Er fiel wie ein Klotz auf Fred Jorgells Körper. Zwei Blutströme flossen aus seinen Nasenlöchern.

Der Neuankömmling war klein, verkrüppelt und leicht bucklig. Er trug eine alte Matrosenjacke und eine orange-grüne Jockeymütze. Er beeilte sich sofort, Fred Jorgell aufzuhelfen.

»Nun, Sir«, sagte er in gebrochenem Englisch, »ich hoffe, Sie sind noch nicht tot, und ich bin rechtzeitig gekommen?«

»Gerade noch rechtzeitig«, antwortete der Milliardär, der nun wieder tief durchatmen konnte.

»Sind Sie verletzt?«

»Nein, ich habe nur eine kleine Schnittwunde am Hals von dem Messer dieses Schurken. Außerdem habe ich einen heftigen Stoß in den Magen bekommen.«

»Das wird schon wieder. Sollen wir zu einer Apotheke gehen?«

»Ja, aber da ist noch dieser Mörder«, sagte er und deutete auf den Verletzten. »Der ist anscheinend der Anführer der Bande.«

Fred Jorgell hob seine Browning auf und schoss zweimal auf Slugh, wie ein Mann, der seine Pflicht erfüllt. Danach steckte er seine Waffe wieder in die Tasche und reichte seinem Retter freundlich die Hand.

»Sie sind ein mutiger Junge«, sprach er. »Möchten Sie mit mir ein Glas Wein trinken?«

»Gerne, Sir«, antwortete der Bucklige. »Aber möchten Sie nicht vorher zum Apotheker gehen? Es gibt einen ganz in der Nähe, dessen Apotheke die ganze Nacht geöffnet ist.«

»Gerne, denn ich merke, dass ich Blut spucke. Der Schlag dieses Banditen hat mir den Magen in Mitleidenschaft gezogen.«

Beide machten sich auf den Weg und erreichten ohne weitere Zwischenfälle die Apotheke des Chemist and Druggist, die nur zwei Schritte entfernt lag und schon von Weitem durch ihre leuchtenden Gläser erkennbar war.

Vor dem Laden hatten sich etwa zwanzig Personen versammelt. Fred Jorgell erfuhr, dass man gerade einen Verletzten dorthin gebracht hatte, den Polizisten an einer Straßenecke gefunden hatten.

Der Chemist war, wie in allen angelsächsischen Ländern, gleichzeitig auch Physician, also Arzt. Es handelte sich um einen Mann mit blauer Brille und langem, fadem blonden Schnurrbart. Er verband die Schnittwunde, die das Messer des Mörders am Hals des Milliardärs verursacht hatte, und versicherte ihm, dass der Kopfstoß, den er erhalten hatte, keine ernsthaften Folgen haben werde, sofern er bestimmte Vorsichtsmaßnahmen befolge, die er ihm erklärte.

Fred Jorgell, den plötzlich eine unheilvolle Vorahnung überkam, bat den Chemiker um einige Details zu dem Verletzten, den die Polizisten gerade zu ihm nach Hause gebracht hatten. Um seine Frage zu rechtfertigen, erzählte er kurz seine eigenen Erlebnisse.

»Möchten Sie den Verletzten sehen?«, bot der Arzt freundlich an. »Dann werden Sie sofort erkennen, ob es sich um Ihren Freund handelt.«

Fred Jorgell willigte ein und ging in einen zweiten Raum, in dessen hinterem Teil ein Mann auf einer Liege lag, bewacht von einem Polizisten. Der Milliardär machte eine Geste schmerzhafter Überraschung: Er hatte gerade den Dichter Agénor erkannt, der regungslos und blass dalag und keine Lebenszeichen mehr von sich gab.

»Ich hoffe, er ist nicht tot?«

»Er ist sehr schwer verletzt. Seit er hier ist, hat er das Bewusstsein nicht wiedererlangt.«

»Gibt es noch Hoffnung?«, fragte Fred Jorgell voller Angst.

»Das kann ich noch nicht sagen, aber das Herz ist nicht betroffen.«

Von heftigen Emotionen überwältigt lief der Milliardär mit ruckartigen Schritten im Raum auf und ab.

»Doktor«, sagte er aufgeregt, »ich bin Fred Jorgell, der Milliardär. Dieser Verletzte ist ein Freund von mir. Retten Sie ihn, und ich werde Sie großzügig belohnen.«

»Ich werde es versuchen.«

»Ich vertraue ihn Ihrer Obhut an. Sie werden mir jedoch stündlich telefonisch einen Bericht über seinen Zustand schicken. Sobald er transportfähig ist, werden Sie mich benachrichtigen, damit ich ihn zu mir nach Hause bringen lassen kann.«

»Well, Sir.«

»Ich hätte fast vergessen … Hier ist eine Anzahlung auf Ihr Honorar.«

Der Arzt nahm den Geldschein, den Fred Jorgell ihm reichte, nahm tiefes Anzeichen und begleitete seinen illustren Besucher respektvoll zur Tür.

Der Milliardär wollte in ein Taxi steigen, das der Bucklige eilig herbeigerufen hatte. Doch zuvor wollte er einen der Polizisten, die sich in der Praxis befanden, über die Ereignisse informieren.

Diese eilten zu dem Ort, an dem der Überfall stattgefunden hatte. Dort fanden sie nur zwei große Blutlachen vor. Die Leichen der Banditen waren verschwunden, vermutlich wurden sie von ihren Komplizen weggebracht.

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