Heftroman der Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Elbsagen 78

Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig

79. Das freundliche Gesicht zu Magdeburg

Am westlichen Ende der großen Münzstraße, der Königlichen Bank gegenüber, steht ein ansehnliches Haus, über dessen Tür man noch heutigen Tages einen menschlichen Kopf mit der Unterschrift Das freundliche Gesicht sieht. Die Sage gibt von dem Entstehen dieses Bildes folgende Ursache an. Es soll vor langen Jahren zu Magdeburg ein reicher Kaufmann gelebt haben, der eine Frau besaß, die auf einmal beständig Unzufriedenheit und Missmut äußerte, ohne dass ihr Mann die Ursache erfahren konnte. Er hatte sich demzufolge viel Mühe gegeben, seine Frau zu besserer Laune zu bringen, allein umsonst. Endlich hatte er sich an eine Kartenschlägerin gewendet und von dieser erfahren, dass ein schönes Haus mit kostbaren Möbeln und Gerät der Gegenstand der Wünsche seiner Frau sei. Da war ihm auch sehr bald ein Licht aufgegangen, und er hatte gewusst, dass seine Frau sich das ebenso schön gebaute wie kostbar eingerichtete Haus eines anderen Kaufmanns, der ihm gerade gegenüber wohnte, wünsche. Er hatte also nichts eiliger zu tun gehabt, als bei diesem anzufragen, ob er es ihm nicht vielleicht verkaufen wolle. Allein umsonst, es war ihm nicht feil. Hierauf hatte er seiner Gattin angeboten, das Haus, welches sie selbst bewohnten, wegreißen und von einem geschickten Baumeister ein neues aufbauen zu lassen, das dem gegenüberliegenden ähnlich oder auch noch schöner ausfallen sollte. Allein dieser Vorschlag hatte ihren Beifall nicht gefunden, weil sie einwandte, dazu gehörte viel Zeit, und sie wolle eben jenes und kein anderes haben. Also hatte er schon alle Hoffnung aufgegeben, ihre Wünsche zu erfüllen, da war auf einmal der Nachbar selbst gekommen, als gerade die besagte Frau vor Ärger, dass sie das Haus nicht bekommen konnte, krank im Bett lag, und hatte ihnen angeboten, er wolle ihnen freiwillig das Haus für einen weit geringeren Preis, als es wert sei, abtreten, wenn sie sich entschließen wollten, ein kleines Männchen, das er an der Hand mitgebracht hatte, im Haus zu behalten, ohne es je zu fragen, wer es sei und was es treibe. Beide gingen auf die Bedingung ein, der Handel wurde abgeschlossen und der Sage nach soll jener unbekannte fremde Geselle noch über ein Jahrhundert lang bei dieser Familie und ihren Kindern und Enkeln im Haus gewohnt haben. Der erfreute Kaufmann ließ aber zum Andenken an dem Haus den oben erwähnten Kopf anbringen, welcher anzeigen sollte, dass mit dem Ankauf des Hauses auch das freundliche Gesicht wieder dort eingezogen sei.