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Der Welt-Detektiv Band 6

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Colorado Sunrise – Folge 4

Das Haus der Sünde

Von Mrs Willings Wohnzimmer aus beobachtete Mae durch die geöffnete Tür die junge Frau, die auf den Stufen der Veranda stand. Das dunkelblaue Kleid war für die üppige Figur zu eng. Sie trug weder Haube noch Hut, das hellblonde Haar war im Nacken zusammengebunden. Tränen nässten ihr hübsches, rundliches Gesicht. Mrs Willings fasste sie am Arm und wollte sie ins Haus ziehen, doch die Frau schüttelte heftig den Kopf und entzog sich ihr.

Die ersten Worte gingen in Schluchzen über und waren unverständlich.

»Was ist geschehen, Stella?«, fragte Mrs Willings leise.

»Meine Schwester ist schwer verletzt.« Stella holte tief Luft. »Sie hat tiefe Schnittwunden. Wir versuchen ihr zu helfen, doch sie blutet unentwegt. Ich war beim Arzt, aber er hat nicht geöffnet.«

Ein Schwall Tränen rann ihre Wangen hinab.

»Weinen hilft nicht«, meinte die Witwe forsch. »Ich komme mit.«

Mae trat einige Schritte nach vorne. »Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie. Vielleicht kann ich helfen.«

Sie konnte mit den beiden kaum Schritt halten. Stella blieb am Stadtrand vor einem der wenigen Häuser mit einem Stockwerk stehen und öffnete die Tür. Mae traute ihren Augen nicht und blickte die beiden fassungslos an.

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Dieses Haus kann ich unmöglich betreten.«

»Was dachten Sie denn, weshalb Stella vergebens an die Tür des Arztes gepocht hat? Jetzt kommen Sie endlich!«

»Ich verständige den Arzt. Es ist seine Pflicht, zu helfen«, ereiferte sich Mae.

Die Witwe fasste sie am Arm. »Der Doc wird nicht kommen und ich habe genug von Ihrem Getue.«

»Ich wusste ja nicht, wohin wir gehen«, stammelte Mae.

Wimmernde Laute drangen zu ihnen. Stella und Mrs Willings liefen die Treppe hoch.

Wenn sie dieses Haus betrat, machte sie das zu einer Sünderin? Ein Schrei festigte Maes Entschluss. Der Herr möge ihr verzeihen, dass sie ein Haus der Sünde betrat, doch er würde wissen, dass sie gutgläubig mitgegangen war und nur helfen wollte. Die Augen starr auf den Boden gerichtet, um nichts von dem Laster zu sehen, eilte sie dem Stimmengewirr nach. In einem der Zimmer standen einige Frauen um ein Bett. Sie flüsterten, sprachen durcheinander, bis eine Stimme barsch befahl: »Verschwindet! Euer Gegacker ist keine Hilfe. Nelly bleibt hier. Na los, geht schon.«

Mae erkannte erleichterte, aber auch erschrockene Mienen, der zum Teil sehr jungen Mädchen. Eine Rothaarige blieb im Raum. Das Erste, das Mae schockierte, war die Schamlosigkeit. Niemand machte sich die Mühe, den nackten, blutverschmierten Körper der Verletzten wenigstens notdürftig zu verhüllen. Das Zweite waren die tiefen Schnittwunden. Kein normaler Mensch konnte so etwas jemand anderen zufügen. Die Frau mochte knapp zwanzig sein. Ihr Gesicht war tränen- und blutverschmiert, das blonde, schulterlange Haar klebte verschwitzt auf ihrer Schulter. Ihre Finger krallten sich in das blutdurchtränkte Bettlaken. Stella kniete vor dem Bett nieder und streichelte das blasse Gesicht. Eine ältere Frau, deren dunkles Haar von Silberfäden durchzogen war, und Mrs Willings versorgten die Verletzte. Die Rothaarige riss Streifen aus einem Laken und reichte sie den beiden.

»Die verdammte Wunde hört nicht auf zu bluten«, fluchte die Grauhaarige und warf ein blutdurchtränktes Tuch auf den Boden.

Eine Welle des Mitgefühls wogte in Mae. Niemand hatte solch Schmerzen verdient. Sie trat näher zum Bett.

»Dieser Schnitt muss genäht werden«, sagte sie und deutet auf die Wunde, die unter der linken Brust begann und sich bis zum Nabel zog.

»Was wollen Sie hier?«, zischte die Frau und musterte Mae.

Ihr Gesicht war alt und verlebt, mit Falten und Kerben, die Augen glanzlos. Augen, die zu viel gesehen hatten.

»Bringen Sie mir Nadel, Faden und Alkohol«, verlangte Mae. »Schnell!«

Du lieber Himmel, was sagte sie da? Ein Arzt musste das Mädchen versorgen. Sie war kein Arzt. Das Wimmern der Verletzten war leiser geworden, es kostete zu viel Kraft.

Eine Kopfbewegung der Älteren reichte, um die Rothaarige hinauszuschicken. Mae griff sich an die Stirn. Was hatte sie nur angerichtet? Sie konnte nicht leisten, was einem Arzt oblag. Sie fixierte Nadel und Faden, die ihr bald darauf gereicht wurden. Ihre Kehle wurde eng, die Hände zitterten. Nein. Das konnte sie nicht tun. Die Mädchen, die vorhin das Zimmer verlassen hatten, erschienen mit neugierigen Gesichtern. Mae öffnete den Mund, um zu sagen, dass es ihr leidtat, aber ein Blick zur Verletzten und in die hoffnungsvollen Mienen der anderen, verschloss ihren Mund.

»Bitte. Claudia wird sonst sterben.« Stellas Stimme war nur ein Wispern, ihr Blick flehend.

»Sie wird vor Schmerzen verrückt werden«, flüsterte Mae.

Die Grauhaarige kniete vor Sandras Bett, erhob sich und warf ein weiteres blutiges Tuch zu Boden.

»Das ist sie bereits. Machen Sie endlich, oder verschwinden Sie.«

Eine der Jüngeren kam mit einem Glas und gab der Verletzten zu trinken.

»Beginnen Sie, sie wird bald schlafen.«

»Ich verstehe nicht …«

Die Frau packte Mae am Arm und drückte ihn schmerzhaft.

»Entweder Sie tun nun etwas oder Sie verschwinden«, zischte sie.

Nicht die Angst vor der Frau, die anscheinend die Bordellbesitzerin war, brachte Mae in Bewegung. Sie wollte dem Sterben der jungen Frau nicht tatenlos zusehen. Sie nahm die Flasche Alkohol entgegen, schüttete etwas in das Glas und tauchte Nadel und Faden hinein. Ihr Vater glaubte fest daran, dass mit besserer Hygiene mehr Patienten überleben konnten. Er war ein berühmter Arzt, doch in solchen Belangen stieß er auf taube Ohren. Er wurde belächelt.

Es war unmöglich, die unschicklichen Körperstellen zu übersehen, doch das war mit einem Male unwichtig. Mit heißem Gesicht beugte sich Mae über die Frau. Als sie mit der Nadel in das weiche Fleisch stach, schrie die Verletzte auf. Mit jedem Stich wurden die Schreie leiser, bis sie erstarben. Das Herz drohte Mae stehenzubleiben, sie hielt den Atem an. Tot. Die Frau war tot. Sie hielt mit ihrer Bewegung inne und starrte in das bleiche Gesicht. Als hätten die Anwesenheit ihre Gedanken erraten, sagte eine Stimme: »Sie schläft.«

Wahrhaftig, der Brustkorb der Verletzten hob uns senkte sich. Scheinbar hatte man ihr eine Droge verabreicht. Mae atmete erleichtert aus.

Wie oft hatte sie ihren Vater gebeten, er möge ihr eine Ausbildung als Ärztin erlauben. Als Vaters Liebling durfte sie viele Freiheiten genießen, doch in diesem Punkt ließ er sich nie umstimmen. Er beantwortete lediglich einige Fragen zu Verletzungen und Krankheiten und gestattete ihr die Behandlung eines Straßenköters, den sie eines Morgens vor ihrem Elternhaus fand. Der Hund hatte schlimme Verletzungen. Nie würde sie seine qualvollen Laute vergessen, als sie seine klaffenden Wunden vernähte. Für einen nichtsnutzigen Köter stellte ihr Vater kein Betäubungsmittel zur Verfügung. Der Hund überlebte die Tortur nicht. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie daran dachte. Sie vernähte den letzten Stich und kappte den Faden mit einem Messer. Eine große Narbe würde zurückbleiben.

Mae richtete sich auf und blickte in anerkennende Gesichter. Schwindel erfasste sie. Mit zitternden Knien trat sie zur Kommode und hielt sich daran fest. Ihre blutigen Hände hinterließen Schlieren auf dem Holz. Heute hatte sie etwas getan, was sie sich immer gewünscht hatte. Helfen. Die Blutstropfen von ihren Fingern färbten das Wasser in der Waschschüssel hellrot. Helfen. Dieses Wort klang schön. Stolz regte sich in ihr. Sie wusste nicht, ob sie wirklich helfen konnte, aber sie hatte es zumindest versucht.

»Der Blutverlust ist hoch, ich hoffe …« Mae wollte den Satz nicht vollenden.

»Eine wie Sie tut so etwas normalerweise nicht.« Die Stimme der älteren Frau klang verblüfft. »Ich bin Phyllis.«

»Mrs Phyllis …«

»Nein, nur Phyllis.« Sie lachte kehlig. »Niemand nennt mich Mrs.«

»Also gut, Phyllis. Ich bin die neue Lehrerin Mae Dunlay. Mehr kann ich leider nicht tun. Ein Arzt sollte sich die Wunde ansehen.«

»Wir haben eine gute Heilsalbe, das ist ausreichend. Ich schulde Ihnen etwas«, bedankte sich Phyllis.

Stella trat zu Mae. »Sie haben für meine Schwester mehr getan, als irgendjemand zuvor. Ich werde Ihnen niemals genug danken können.«

Jede Erwiderung würde überheblich klingen. Mae nickte und lächelte.

»Wer hat das getan?« Mae starrte in das Gesicht der Schlafenden.

»Er war ein Fremder, den ich hier noch nie gesehen hab«, antwortete Phyllis leise.

»Es ist noch sehr früh«, warf Mrs Willings ein.

»Ja«, grollte Phyllis. »Er hat anständig bezahlt, darum ließ ich ihn ein. Sollte ich den Bastard noch einmal zu Gesicht bekommen, reiße ich ihn eigenhändig in Stücke.«

Phyllis‘ Gesichtsausdruck war dermaßen finster, dass Mae ihr das ohne Weiteres abnahm.

»Sie haben die Tat doch angezeigt, oder?«

Der Reihe nach betrachtete Mae die fünf jungen Frauen, die sich um das Bett der Verletzten drängten. Alle waren sehr hübsch. Bei einigen hatte das Leben bereits Linien und Kerben im Gesicht hinterlassen.

Phyllis winkte ab. »Ob Tucker ihn finden wird, werden wir sehen.«

»Ich finde Ben ganz in Ordnung«, sagte eine große, schlanke Braunhaarige und kicherte.

Die Rothaarige zeigte ihr die Zunge und giftete: »Ich hatte ihn als Erste, vergiss das nicht, Cheryl.«

»Anscheinend hat er bei dir nicht gefunden …«

»Genug«, gebot Phyllis und machte eine Handbewegung.

Mrs Willings legte ihre Hand auf Maes Arm. »Kommen Sie, wir gehen.«

Sie verabschiedeten sich und gingen schweigend nach Hause.

***

»Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Wo haben Sie das gelernt?«

»Mein Wunsch Ärztin zu werden, wurde mir leider nie erfüllt. Ich konnte einiges von meinem Vater lernen. Seine Medizinbücher habe ich heimlich gelesen. Ich hoffe sehr, dass der Arzt nach der Frau sieht.«

»Das denke ich nicht.« Mrs Willings wiegte den Kopf. »Ivory Ocean, unser Doc ist kein schlechter Mensch. Er würde ohne Weiteres in das Hurenhaus gehen und den Frauen helfen, doch seine Frau ist der Meinung, Sünder müssten sich selbst helfen. Elizabeth Ocean ist ein Drache. Aber Sie, Mae, halten diese Frauen für Abschaum und doch haben Sie geholfen.«

»Werden die Frauen gezwungen?«

»Das Leben zwingt sie dazu, Mae.«

»Nein.« Mae schüttelte den Kopf. »Es gibt andere Möglichkeiten.«

»Sie sind naiv. Täglich strömen Menschen ins Land auf der Suche nach einer neuen Heimat. Sagen Sie mir, welche Chancen haben Frauen, deren Ehemänner und Väter sterben?«

»Das ist noch lange kein Grund, sich zu verkaufen«, ereiferte sich Mae. »Die Frauen können in Hotels und Geschäften arbeiten.«

»Glauben Sie das wirklich?«, fragte die Witwe.

»Man muss an sich selbst glauben und darf sich niemals aufgeben.«

»Sie scheinen nicht viel Ahnung zu haben, oder Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit. Nicht jeder hat die Möglichkeit, in einem vornehmen Haus aufzuwachsen und lesen und schreiben zu lernen.«

Mae blickte auf die Blutspritzer an ihrem Kleid. Die Witwe hatte recht.

»Ich wünsche mir mein altes Leben zurück«, flüsterte sie.

»Dann gehen Sie zurück oder bauen sich eine neue Existenz auf. Die Wahl liegt bei Ihnen.« Mrs Willings Worte waren hart. »Niemand darf sich anmaßen, diese Frauen zu verurteilen. Sie werden noch viel lernen, Mae. So wie ich lernen musste.«

Sie schwiegen eine Weile. Die Witwe faltete ihre behandschuhten Hände vor sich und wartete, bis Mae ihren Blick hob.

»Bevor Sie sich entscheiden, in meinem Haus zu bleiben, sollten Sie etwas wissen, denn ich möchte in meinen eigenen vier Wänden nicht ständig den Schleier tragen müssen.«

Als die Witwe ihre Handschuhe abstreifte, hegte Mae eine Ahnung. Als sie das Gesicht sah, wusste sie, dass der Schleier kein Ausdruck von Trauer war.

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