Archiv

Femegerichte und Hexenprozesse in Deutschland – Teil 3

Oskar Wächter
Femegerichte und Hexenprozesse in Deutschland
Stuttgart, Verlag von W. Spemann, 1882

Erster Abschnitt
Zwei Erzählungen1

II. Macht in die Ferne

Im Oktober des Jahres 1429 wurde in Nürnberg eine prächtige Hochzeit gefeiert. Der Ratsherr Tucher verheiratete seine jüngste Tochter Mechtild an den Bürgermeister Pferinger von Nördlingen. Aus weiter Ferne kamen die Gäste herbei. Die Herbergen waren von Pferden und Reisenden besetzt. Denn in jenen Zeiten des Faustrechts schien es nicht ratsam, unbewaffnet zu reisen. Besonders lebhaft war es in der Herberge Zur goldenen Au. Sie lag dicht am Tor, wo die Landstraße nach Nördlingen einmündete. Der geräumige Saal fasste kaum die Gäste, die ihr Mittagsbrot heischten und dem Würzburger Wein, der hier gezapft wurde, tüchtig zusprachen. Viele von ihnen schienen Kaufleute zu sein.

An einem kleinen Tisch im Erker saß ein großer, blonder Mann in bäuerlicher Tracht. Seine kleinen blauen Augen musterten die Gäste mit scharfem Blick. Einer der Eintretenden schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er trug einen Jagdanzug und hatte die Büchse auf der Schulter, die er an der Wand aufhing. Dann setzte er sich mit einem leichten Gruß dem Bauern gegenüber. Beiden wurde das Mittagessen vorgesetzt. Der Jäger nahm das Messer, welches neben seinem Teller lag, auf und legte es so, dass es mit der Spitze gegen seine Brust zielte. Dabei sah er seinen Nachbarn an. Dieser legte in demselben Augenblick sein Messer in derselben Weise hin. Zwischen beiden entspann sich eine Unterhaltung.

»Nach Eurer Kleidung zu schließen«, sprach der Jäger, »seid Ihr nicht aus dieser Gegend.«

»So ist es«, antwortete der andere. »Ich komme vom Niederrhein und habe ein Geschäft hier in Nürnberg.«

Beide verzehrten schweigend ihr Mahl und leerten ihre Krüge. Der Jäger stand auf und trat zu seinem Gewehr. Der andere folgte ihm, trat neben ihn, legte seine rechte Hand auf dessen linke Schulter und sagte leise: »Ich grüße Euch, lieber Mann. Was führt Euch hierher?«

Sofort legte der Jäger ebenfalls die rechte Hand auf die linke Schulter des Bauern und erwiderte, für die anderen Gäste unverständlich: »Alles Glück kehren ein, wo die Freienschöppen sein!«

Darauf sprach der Jäger die Worte: »Strick, Stein«, und der Bauer erwiderte: »Gras, Grein.«

»Erlaubt mir, dass ich Euch begleite«, sagte der Bauer.

Beide verließen den Saal und gingen schweigend ins Freie. Dort, unter den Bäumen vor dem Tor, nahm der Bauer wieder das Wort: »Es ist mir lieb, dass Ihr ein Wissender seid. Könnt Ihr hier abkommen?«

Darauf der Jäger: »Ich habe mich auch auf roter Erde zu Dortmund unter der Linde wissend machen lassen. Aber was ist Euer Begehr?«

»Ich heiße Konrad Oilpe, wohne ganz in der Nähe von Dortmund und habe eine Sache mit Kuntz von Schweinsberg. Falls ihr ihn kennenlernen möchtet?«

»Ich bin Friedrich von Eberbach und lebe zwei Stunden von hier auf Burg Eberbach. Den Schweinsberg kenne ich und habe ihn schon einige Male bei Freunden getroffen. Er ist kurz angebunden und macht nicht viele Worte.«

»Ist Euch auch zu Ohren gekommen«, begann Oilpe wieder, »dass Herr Kuntz vor gerade einmal einem Jahr zwei Kaufleute auf offener Straße überfallen, den einen erschlagen und den anderen für ein Lösegeld festgesetzt hat?«

»Davon habe ich vernommen«, antwortete der von Eberbach. »Aber wie kommt Ihr an die Sache? Oder … sollte die heimliche Acht …?«

»Ich will es Euch berichten«, entgegnete Oilpe. »Herr Kuntz hat seinen Gefangenen drei Monate in einem abscheulichen Verlies festgehalten, bis endlich das Lösegeld – 300 Goldgulden – herbeigeschafft war. Danach hat der Eingekerkerte geklagt, aber gegen den mächtigen Raubritter kein Recht gefunden. Darüber ist er gestorben. Seine Witwe war mit einem Freischöffen verwandt und brachte die Sache vor den Freistuhl zu Dortmund. Sie wurde als Femwrige erkannt, die Ladung gegen den Angeklagten wurde ausgefertigt und zwei Freischöffen überantwortet. Diese traten alsbald die Reise an und als sie in Nürnberg erfuhren, dass der Angeklagte auf einem Schloss saß, in das man ohne Sorge und Abenteuer nicht gelangen konnte. So ritten sie bei Nacht vor die Burg des Kuntzen, hauten aus dem Bannbaum drei Späne und steckten den Ladungsbrief in die Kerben. Dann riefen sie dem Burgwächter zu, sie hätten einen Königsbrief an das Tor gesteckt. Er sollte dem in der Burg sagen, er solle seines Rechtstags an dem freien Stuhl bei den höchsten Rechten und des Kaisers Bann warten.

Der Burgwächter berichtete seinem Herrn mit großem Schrecken davon, doch der lachte und sagte: »Hans, meinst du, ich scheue die heilige Feme? Die soll ihre Boten nicht wieder an mich schicken.«

Nun, ihr wisst, wie die Sache weiter verlaufen musste. Der Geladene erschien nicht. Am letzten Termin hatte man unter der Femlinde auf ihn gewartet, bis die Sonne am höchsten stand. Als man den Freigrafen daraufhin fragte, ob niemand von seinetwegen da sei, der ihn zu seinem Recht und seiner höchsten Ehre verantworten wolle, und niemand vorgetreten war, wurde dem Beistand der Witwe nun gewiesen, dass er die Klage beweisen solle. Dieser leistete sofort den feierlichen Eid auf des Freigrafen Schwert vor gespannter Bank mit zwei Eidhelfern, die beschworen, der Ankläger schwöre rein, nicht mein.

Zur gespannten Bank waren aber nicht nur die nötigen sieben Schöffen erschienen, sondern zwanzig. Und diese haben einmütig auf des Freigrafen Frage das Urteil gesprochen, dass der Angeklagte der Tat schuldig sei. Daraufhin verurteilte der Freigraf den Kuntz von Schweinsberg und rief: Er weihe seinen Hals dem Strick, seinen Leib den Tieren und Vögeln in der Luft, die ihn verzehren sollen. Er befehle seine Seele Gott im Himmel in seine Gewalt, wenn er sie zu sich nehmen wolle. Er setze sein Leben und Gut ledig, sein Weib solle Witwe, seine Kinder Waisen sein. Darauf nahm der Graf einen Strick aus Weiden, warf ihn aus dem Gericht und gebot allen Freischöffen, ihn bei ihren Eiden und Treuen, die sie der heimlichen Acht getan, zu ermahnen, sobald sie den verurteilten Mann bekämen, ihn an den nächsten Baum zu hängen, nach alter Macht und Kraft.

Weil der Ankläger, der Freischöffe Niklas vom Steinhof, nun selbst krank geworden war und auf dem Totenbett lag, hat er mir das Urteil der heimlichen Acht, das vom Freigrafen ausgefertigt worden war, zur Vollstreckung übergeben. Und so bin ich nun hier und ersuche euch bei eurem Eid, dass ihr mir Beistand leisten wollt!«

»Verweigern darf ich es nicht«, erwiderte Friedrich von Eberbach, »wiewohl es kein leichtes Werk sein wird. Auch müssen wir, wie ihr wisst, noch einen Freischöffe suchen, da nur drei von ihnen den Spruch nach Freistuhls Recht vollziehen dürfen.«

Olpe ergriff die Rechte des anderen und sagte: »Ich kann mich auf Euer Wort verlassen. Auch wisst Ihr, dass nach Freistuhls Recht, wenn ein Schöffe den Brief und Siegel des Freigrafen sieht, er zur Hilfe verpflichtet ist, mag es auch gegen Freund und Bruder gehen. Ihr seid hier ortskundig. Sucht einen Wissenden, der uns guten Beistand leisten und Gelegenheit schaffen möge, dass wir den Verweigerten da antreffen, wo ein Baum in der Nähe ist.«

»Ihr könnt unbesorgt sein«, erwiderte Friedrich. »Geht nur wieder in die Herberge zurück. Ich werde Euch ein Brieflein dorthin senden und mich bei Euch melden. Ich suche den Schweinsberg, gehe ins Tucher’sche Haus und ehe die zweite Nacht kommt, werden wir den Verfemten festmachen.«

Am nächsten Tag hielt der Ratsherr Tucher eine Jagd im Forst an der Pegnitz ab. Unter einem Zelt lagerte die Gesellschaft in fröhlicher Stimmung zum Morgenimbiss. Die Hörner riefen zum Aufbruch – schon sah man einzelne Rehe am Rand der Wiese vorbeispazieren. Der Ritter von Schweinsberg, ein großer, rothaariger Mann, bestieg sein Pferd. Neben ihm hielt Friedrich von Eberbach. Beide ritten schweigend in den Wald.

»Ihr wollt etwas mit mir ausmachen?«, begann der Ritter von Schweinsberg. »Ich habe nicht lange Zeit.«

»So gestattet mir, dass ich noch zwei Männer rufe, die auch zur Sache gehören«, erwiderte Friedrich und stieß plötzlich zweimal in sein Jagdhorn. »Ich ersuche Euch aber, mit mir abzusteigen, damit Ihr einen Brief lesen könnt, der Euch nahe angeht.«

In diesem Augenblick traten Konrad Oilpe und der Ratsherr Tucher eilen Schrittes heran. Oilpe näherte sich dem von Schweinsberg, während Friedrich sich dem Ratsherrn stellte. Oilpe zog das Femurtel hervor und hielt es dem von Schweinsberg unter die Augen. Dieser erbleichte, griff aber an sein Jagdgewehr und wollte sich zur Wehr setzen. Doch sofort fand er sich von den ehernen Fäusten des Westfalen gepackt und an einen Baum gedrückt, sodass er sich nicht rühren konnte.

Mit schäumendem Mund rief er: »Herr Ratsherr, schützt Euren Gast vor meuchlerischem Überfall!«

Doch Tucher legte die Hand auf seinen Arm und sprach: »Hier ist kein Verrat! Ihr seid der kaiserlichen Acht und dem Spruch der heiligen Feme verfallen. Dagegen kann Euch weder die Stadt Nürnberg noch ich als Einzelner schützen. Auch bin ich als Schöffe dem Freistuhl verpflichtet.«

Und im selben Augenblick hatte Konrad Oilpe den aus Weiden geflochtenen Strick zur Hand. Er legte ihn dem Verurteilten mithilfe von Eberbach um den Hals, und sie hängten den Mann an den Ast einer Eiche. Danach zog Oilpe ein Messer hervor und steckte es neben den Geächteten in den Baum.

Der Ratsherr aber ging zu seinen Gästen zurück und gab ihnen zu verstehen, dass der von Schweinsberg an der Eiche auf dem Niederbühl durch die Feme hingerichtet worden sei.

Am nächsten Tag führte der Bürgermeister von Nördlingen seine junge Frau heim. Der Ratsherr Tucher und einige Freunde des Hauses gaben ihm das Geleit bis zur nächsten Station. Dort sollte der zweite Frühtrunk eingenommen werden. Die warme Herbstsonne lockte die Gäste auf die Wiese vor dem Wirtshaus. Da saßen auch Friedrich von Eberbach und Konrad Oilpe. Beide erhoben sich. Eberbach ging auf den Ratsherrn zu, bot ihm den Willkomm und sagte: »Es ist mir eine Freude, Euch noch einmal zu treffen, auch wenn es mir und vermutlich auch Euch nicht recht war, dass ich bei der Hochzeit und der gestrigen Jagd für Unruhe gesorgt habe. Daran trägt jedoch die Schuld mein Begleiter Konrad Oilpe, den ich Euch hiermit vorstelle und der mich zum Dank noch ein Stück des Weges begleitet hat.«

Tucher und Pferinger zeigten sich erfreut, einen Schöffen vom hochberühmten Dortmunder Freistuhl und einen Vertrauten des angesehenen Freigrafen Konrad von Lindenhorst zu treffen. Sie konnten schließlich nicht wissen, ob nicht heute oder morgen die gewaltige Feme auch über Nürnberg oder Nördlingen ihre Hand ausstrecken könnte.

»Ich habe noch ein besonderes Anliegen an Euch«, sagte Tucher zu Oilpe. »Ich weiß, was es auf sich hat, Freischöffe zu sein, und ich wünsche, dass auch mein Schwiegersohn von der heimlichen Acht ausgenommen wird. Auch der Rat zu Nördlingen wünscht dasselbe. Nur hat Pferinger noch immer gezögert, nach Westfalen zu reisen. Er war auch unsicher, an welchen Freistuhl er sich wenden könne.«

Pferinger bestätigte das, woraufhin Oilpe ihm die Hand bot und sagte: »Nun, wohledler Herr Bürgermeister von Nördlingen, lasst es nicht länger anstehen. Wenn der Mai ins Land kommt, wollt Ihr Euch aufmachen und nach Dortmund reisen. Von dort aus seid Ihr in zwei Stunden auf meinem Hof und werdet als Gast willkommen sein. Ich führe Euch zum Freigrafen Lindenhorst, und die Sache wird bald im Reinen sein.«

Tucher forderte nun Friedrich von Eberbach und Konrad Oilpe auf, mit der Frau Bürgermeisterin anzustoßen. Sie unterhielt sich bald mit den Fremden. Als von der Reise Pferingers nach Westfalen die Rede war, meinte Eberbach scherzend, er müsse sich vorher versichern, ob seine junge Frau nicht neugierig sei. Er wolle sein Leben mit einem hohen Eidschwur verpfänden, das Geheimnis der Feme vor Weib und Kind, vor Sand und Wind zu hüten.

Die Bürgermeisterin entgegnete jedoch, dass es keine Gefahr gebe, dafür sei ihr Gemahl Manns genug. Im Übrigen sei sie die Tochter eines Freischöffen und werde es für eine hohe Ehre achten, auch die Frau eines Wissenden zu sein.

Show 1 footnote

  1. Die technischen Ausdrücke finden ihre Erklärung im zweiten Abschnitt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert