Mörder und Gespenster – Band 1 – 3. Teil
August Lewald
Mörder und Gespenster
Band 1
Der Werwolf
Kapitel 3
Es war später Abend. Durch die kalte Winterluft hallte mancherlei Getöse scharf in seine Einsamkeit hinüber. Vom Kirchturm summte die Glocke neunmal. Der Wind pfiff durch die Ritzen seiner baufälligen Hütte, das Röhricht klapperte im Sumpf und dazwischen ertönte ein schriller Laut irgendeines verspäteten Tieres, gefolgt vom Bellen ferner Hunde.
Mit dem Licht des Tages waren ihm alle schönen Träume wieder entschwunden. Er fühlte sich wieder einsam und unglücklich, schauderte vor Kälte und der Hunger plagt ihn aufs Neue. Das wenige Reisig, das er in einer Ecke der Hütte angezündet hatte, ist nur noch ein Häufchen Asche und hier und da verglimmende Glut, in die er verzweifelt starrt. So sitzt er da. Da zieht ein Blitz des Lächelns über seine verfallenen Züge, denn er denkt an seine Liebe.
Ja, seiner Liebe! Dieses Gefühl war wie benommen in ihm entstanden, als er am Morgen den Druck der Hand verspürt hatte. Mit diesem Gefühl war aber auch eine Erhebung, ein Mut über ihn gekommen, von dem er früher keine Ahnung gehabt hatte. Liebe und Hass keimten nun auf einmal mächtig in seiner Brust empor; Mitgefühl war ihm zuwider, er wollte Vernichtung.
»Wäre ich ein Werwolf«, rief es in ihm, »ich würde sie quälen, wie sie mich! Warum raubte mir der Himmel den Zauber, wenn er mir seine unheilbringenden Folgen dennoch aufladen wollte? Wenn meine Väter nachts als Wölfe umherwandeln konnten, warum dann nicht ich? Dann müsste ich nicht sterben und vergehen, und könnte doch mindestens Rache an meinen Peinigern üben!«
Die Glut verlöschte und ein seltsames Grauen überkam ihn in der Finsternis. Er hatte kein Holz mehr und fühlte stärker denn je das Bedürfnis, nicht so allein zu sein. Das Feuer, das freundliche Element, gewährt seltene Tröstung und ist dem Unglücklichen stets ein belebender Gesellschafter. Finsternis raubt dem Beklommenen vollends den Atem, während Feuer neue Lebenslust herbeiführt. Auf angenehme Weise zerstreuen die lebendigen Gestaltungen, die züngelnden, leckenden Flammen, das rege Farbenspiel und das Einstürzen der Asche die Trauernden, wodurch sich immer Neues auf dem Tummelplatz der Glut entwickelt. Auch Simon musste vor allem Feuer haben, damit seine finsteren Gedanken seinen guten Geist nicht vollends übermannten.
Er tastete sich im Dunkeln zu einer kleinen Leiter, die zu einem engen Winkel unter dem Dach führte. Dort wurde seit langen Jahren das Verjährte, Abgelegte, der Kehricht dieses jämmerlichen Hausrats aufbewahrt. Es war ein Chaos der unscheinbarsten und schlechtesten Gegenstände, ein Erbe, das vom Vater auf den Sohn überging, ohne dass es diesem die Mühe wert schien, es auch nur in Augenschein zu nehmen. Simon dachte, hier verbrennbaren Stoff zu finden, da er kein Holz mehr hatte. Unter alten, zerrissenen Kleidern und Schuhen fand er endlich ein paar Bretter. Er wollte schon die Leiter hinabsteigen, um das Feuer in dem Winkel zu entzünden, als er an einen größeren Gegenstand stieß. Nach dem Betasten im Dunkeln erkannte er, dass es sich um eine mit Leder beschlagene Kiste handelte, von deren Existenz er früher keine Kenntnis gehabt hatte. Er entzündete schnell das Feuer und eilte mit einem flackernden Span hinauf, um seinen Fund näher zu untersuchen. Er steckte die Leuchte in eine Mauerritze, beugte sich über die Kiste und öffnete das verrostete Schloss. Erwartungsvoll hob er den Deckel und zog, von innerem Schauder ergriffen, etwas Seltsames aus der Kiste hervor. Es war ein großes Fell eines reißenden Tieres mit Schweif und Klauen und einer furchtbaren Larve, in deren weit geöffnetem Rachen ein gelbes Pferdegebiss eingesetzt war. Erstarrt blickte er auf diese Gegenstände. Es schien ihm ein Wink des Himmels oder der Hölle zu sein, denn der letzte Wunsch, den er ausgesprochen hatte, sollte in Erfüllung gehen.
Er musste sich setzen, so stark war er ergriffen, seine Knie wankten. Er erinnerte sich dunkel an eine entsetzliche Geschichte, die ihm sein Großvater erzählte, als er ein Kind war. Er hörte ihm lächelnd zu, während seine Mutter still in sich hinein weinte, und begriff kaum die Tatsachen. Dieses unglückselige Geschenk, voller geheimnisvoller Zauberkraft, das zu nächtlichen Untaten verführt und anreizt, hatte den Fluch über sein Geschlecht gebracht. In dieser Verkleidung hatten seine Vorfahren Gräueltaten verübt, die sich nun an ihrem unschuldigen Nachkommen bis ins letzte Glied so fürchterlich rächten. Darum hatte seine arme Mutter geweint, wenn der Großvater dieser Geschichte gedachte.
Nachdem Simon wieder etwas Fassung erlangt hatte, setzte er die Untersuchung dieses verbrecherischen Erbteils fort. Ein fürchterlicher Kampf begann in seinem Inneren, kühne Gedanken erwachten in ihm. Von Minute zu Minute erhitzte sich seine Einbildungskraft mehr und verlor sich bald in die tollsten Kombinationen. Fast besinnungslos schlug er das Fell um seine Glieder, seine Hand fuhr in die mit Krallen bewaffneten Tatzen und die fürchterliche Larve schloss sich wie von selbst an sein Gesicht.
»Soll ich denn wirklich hungern und verzweifeln?«, schrie er auf.
Er sah nur noch Blut um sich, seine Zähne spürten eine unbezwingliche Lust zu zerfleischen, er musste hinaus ins Freie, er heulte. Schwindel hatte ihn ergriffen, seine ganze Natur war verwandelt. Er hatte keine Erinnerung an das Vergangene. Der fürchterlichste Zauber schien sich seiner zu bemächtigen.
Er stürzte aus dem Haus in die vom Sturmwind glatt gefegten Felder und lief wie ein Gespenst durch Moor und Sumpf. Wenn ihm nun die Besinnung zurückgekehrt wäre, müsste er vor sich selbst erschrocken sein.
So lief er eine lange Strecke von seiner Wohnung allein durch die Winternacht. Niemand begegnete ihm.
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