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Der Nebel Notre Dames

Der Nebel Notre Dames

Hoch über den Dächern von Paris, auf der Galerie des Chimères zu Notre Dame, weht in Nächten, in denen der Mond der Welt sein schmales Lächeln schenkt, eine Nebelwehe. In ihrem Herzen klirren leise Glöckchen, und in ihr hallen die Worte eines Versprechens nach: »Immer, wenn der Mond am Himmel lacht.«

Sie hatte ihn gefunden. Lange hatte sie gesucht, aber schlussendlich – und das war, was zählte, hatte sie ihn gefunden – hoch über den Dächern von Paris. Reglos stand er da – einer der stummen Wächter Notre Dames war er geworden. Unter seinen wachsamen aber doch reglosen Steinaugen floss die Seine entlang, trug in ihren Wellen Geschick und Schicksal. Ob das ihre ebenfalls dabei war? Oder das seine?

»Stein kann nicht sprechen, wie sollte die Seine von ihm erfahren?«, schoss es ihr durch den Kopf, während sie dichter zu ihm schwebte, über sein steinernes Antlitz strich.

»Das hätte nicht passieren müssen«, flüsterte sie leise. Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit. Sie wusste, dass es hatte passieren müssen. Dass ihre Worte nur eine Lüge waren, die sie trösten sollten, aber auch ihre Worte hatten an Macht verloren. Das war der Preis gewesen.

Eine Träne rollte über ihre Wange, seine Augen hingegen starrten nur reglos auf die schlafende Stadt.

Sie straffte ihre Schultern, griff nach dem Tuch, das ihre nackte Haut unter einem dünnen Schleier verbarg und hinter ihr wie eine Nebelschwade durch die Luft wehte. Mit einer Bewegung ihrer Hände ließ sie das Tuch auf ihn zuschweben, umgarnte ihn damit, seinen nackten Oberkörper, seine Ohren, die so spitz waren wie die ihren – sein Gesicht mit dem Falkenschnabel, das nicht länger menschlich war.

Aber all das rührte sich nicht – denn er war zu Stein geworden.

Sie umarmte ihn, drückte ihren warmen Körper gegen seine Kälte, und ihre Tränen legten sich auf seine steinerne Stirn wie Regentropfen.

Irgendwann drückte sie sich von ihm weg, versuchte ein Lächeln. »Ich werde dich befreien.«

In ihrem Kopf hörte sie die Stimmen der Geister, die sie immer begleiteten. »Er hat es nicht verdient. Er hat dich verletzt, hat dein Herz gebrochen.«

Sie schüttelte energisch den Kopf, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Ihre Haare, die die Farbe des Schleiers hatten, der sie umhüllte, wehten durch die Nacht.

Die Geister, die die Vergangenheit waren, hatten recht, aber sie konnte nicht anders.

Sie wusste, dass er Schmerz sein würde. Aber auch Liebe.

Ihre Liebe war es auch, die ihn verflucht hatte. Wer sie liebte und ihr Herz brach, wurde zu dem, aus dem sein Herz gemacht war. Herzen waren aus allerlei Stoffen gefertigt – Glas, zerbrechlich fein und empfindsam, Holz, robust und weich und Stein – hart und unnachgiebig. Ihr Vater hatte den Fluch über ihr Herz gelegt, um sie zu schützen. »Es ist der Preis, den sie zu zahlen haben, für den Schmerz, den du empfinden wirst«, hatte er gesagt. Und sie hatte nur gedacht: »Und was ist mit dem Schmerz, den ich bringen werde?«

Sie war nicht sofort los geflogen ihn zu suchen, nachdem er gegangen war. Zuerst hatte sie ihre Wunden gepflegt, ihn verflucht und beweint – und dann hatte sie nach dem gesucht, das den Fluch brechen würde.

Im Herzen Montmartres hatte sie schließlich Rat gefunden, dort, wo Bilder Welten waren und jene lebten, die alles wussten und die man in ihrer Sprache die Schattentänzer nannte. Die Schattentänzer wussten, was die Maler wussten, und die Maler wussten die Welt, so sagte man in den Straßen der Stadt.

»Ein Herz aus Stein«, hatten sie gesprochen, als sie aus den Schatten von gemalten Dingen und Figuren getropft waren, in denen sie lebten, »kann Nichts erweichen.«

Tausend Formen hatten sie, tausend Größen, und alle hatten im flackernden Licht der Laternen auf dem Platz getanzt.

Sie hatte geweint, um ihn, sein Herz, und um sich selbst, denn sie wusste, dass sein Herz nicht nur aus Stein war. Er hatte sie geliebt, wenn auch nur auf seine ängstliche Weise, und Stein konnte nicht lieben, auch wenn es in ihrer Welt Steine gab, die lebten.

»Mondlicht kann es erreichen, wird zugleich ein Schlüssel sein«, waren die Worte der Schattentänzer gewesen, als sie es ihnen gesagt hatte. Ihre Worte waren wie das Flüstern von Regentropfen auf Pflasterstein.

Und sie hatte geschluckt, und wieder war eine Träne ihre Wange herunter gelaufen, denn den Mond hatte er gestohlen, ehe er zu Stein geworden war. Er hatte ihn einfach vom Himmel genommen, weil er die Dunkelheit, die er in sich trug, zur Dunkelheit der Welt machen wollte. Sie würde also auch den Mond finden müssen.

Dann hatte sie sich bedankt und in die Lüfte erhoben, um die Figur zu finden, zu der er geworden war. Aber ehe sie den Platz verlassen hatte, war ihr noch eine Frage über die Lippen gekommen: »Was werde ich am Ende tun müssen?«

»Du musst sein Herz brechen«, hatten die Bilder geraunt, in denen die Schattentänzer wieder verschwunden waren.

»Du musst noch bezahlen«, hatten Borsten und Haare der vergessenen Pinsel geknistert, als sie losfliegen wollte, und sie hatte es getan, hatte ihre Kleider abgelegt und ihre Kräfte – nur das Fliegen hatte sie behalten dürfen, und das Stück Nebelschleierstoff, das sie jetzt bedeckte.

»Er wird Gift für dich sein«, hatten die Bilder ihr zugeraunt, als sie schon am Himmel war. Und sie hatte genickt und war doch ausgezogen, um den Mond zu suchen.

Den Mond hatte sie befreit. Sie kannte all die Verstecke, die es in seinem Leben gab. In der Kuppel von Sacré Cœr hatte sie ihn entdeckt, denn das heilige Herz der Stadt war der Ort gewesen, an dem sie ihn getroffen hatte. Ihre Hände glitzerten immer noch silbern vom Staub des Himmelkörpers, aber nun leuchtete der Mond wieder in seiner lächelnden Sichelform am Himmel über ihr. Sie schenkte dem Mond ein Lächeln zurück, denn wer könnte einem Himmelslachen widerstehen, doch dann sah sie ihn wieder an.

»Du musst sein Herz brechen«, hatten die Schattentänzer gesagt.

Doch wie brach man ein Herz aus Stein, das in einem Körper steckte, der ebenso aus Stein war? Den man nicht erreichen konnte?

Sie sank ein wenig tiefer, ließ sich in einem Fenster Notre Dames nieder. Spürte, dass seine steinernen Blicke auf ihr ruhten.

Sie schloss die Augen und der Schlaf kroch in ihre Glieder und ließ sie erst wieder los, als die Sonne sie mit ihren Strahlen kitzelte.

Sie flog hinauf und strich ihm über die Wange. Tropfen waren über seine Wangen gelaufen, wie Tränen. Sie überlegte, ob es geregnet hatte, aber die Luft roch nicht danach und so stellte sie sich stumm die Frage, ob Stein weinen kann, aber mehr noch die, wie sie sein Herz brechen sollte.

Es wurde Abend, und immer noch harrte sie bei ihm aus.

»Mondlicht wird dein Schlüssel sein«, hallten die Worte der Schattentänzer durch ihren Kopf.

Die Glocke Emanuelle und ihre Schwestern begannen in den Türmen Notre Dames zu läuten, und ihr Klang war wie ein Ruf, der sie ins Innere der Kathedrale zu locken versuchte. Sie folgte den klingenden Stimmen, flog durch ein Fenster und schwebte hinab zu den Bänken, von denen die Menschen ihre Gebete, Sorgen und Wünsche in den Himmel schickten. Müde ließ sie sich auf einer der Bänke nieder. Ihre Hände berührten das Holz und hinterließen winzige Spuren von Mondstaub darauf, der im bunten Schein der Fensterrose leuchtete.

»Ich bin lange nicht mehr von einer Elfe gerufen worden«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr, die alt wie die Welt klang. Sie drehte sich um, aber sie sah keine alte Frau, sondern ein kleines Mädchen mit langen hellblonden Haaren und blitzenden blauen Augen. Es trug weiße Strumpfhosen und ein knielanges buntes Kleid. Ein roter Umhang lag über ihren Schultern und ihre Haare wurden von einem türkisblauen Tuch zusammengehalten. Überall an ihr klirrten Glöckchen ein leises Lied.

»Sei willkommen«, sagte das Mädchen.

»Wer bist du?«, fragte sie und zog den Nebelumhang dichter um sich.

Das Mädchen kicherte. »Ich habe viele Namen. Dame Aurelie ist der, den ich am meisten mag. Doch bin ich die, die im Herzen dieses Hauses lebt. Die das Herz dieses Hauses ist.«

»Du-du-du bist«, stammelte sie, und als sie ihre Worte wieder fand, fügte sie ehrfürchtig hinzu: »Notre Dame.«

Das Mädchen kicherte wieder und nickte.

»Du bist sehr jung.« Sie konnte nicht anders, als das zu sagen. Vor ihren Augen wandelte sich das Mädchen in eine junge Frau, dann in eine alte und am Ende wieder in das kleine Mädchen. »Ich bin weder alt noch jung und doch beides zugleich.« Die Stimme der Dame Aurelie war immer noch alt wie die Welt. Sie lachte, die Glöckchen an ihrer Kleidung bimmelten, dann wurde sie wieder ernst.

»Du hast den Mond befreit«, sagte das Mädchen leise. »Damit hast du mich gerufen«, erklärte es und deutete auf ihre mit Mondstaub bedeckten Hände.

Sie nickte. Ihre Haare hatten den regenbogenfarbenen Schimmer des Fensterrosenmosaiks angenommen.

»Ich muss ein Herz brechen«, sagte sie irgendwann, als die Dame Aurelie eine Weile nichts gesagt hatte. Die Dame Aurelie nickte und der Klang der Glöckchen an ihrem Kopftuch erfüllte die Stille.

»Du liebst ihn«, stellte Notre Dame, die ein Mädchen war, fest. Sie nickte wieder.

»Ich brauche meine Wächter«, sagte das Mädchen, das das Herz der Kathedrale war, nachdenklich.

»Er war nicht immer einer von ihnen«, widersprach sie.

Die Dame Aurelie nickte. Dann schien sie zu überlegen, und nach einer Weile des Zögerns flüsterte sie leise: »Du musst die Zwillingssonnen finden, die unter dem Regenbogen erwachen. Fange einen Tropfen ihres Lichtes.«

Sie verbeugte sich dankbar vor dem Mädchen.

»Wie werde ich damit sein Herz brechen können?«

Mit trauriger Stimme erklärte die Dame Aurelie es ihr.

Sie nickte.

Das Mädchen, das Notre Dame war, fragte leise: »Wirst du den Preis bezahlen?«

Leise wisperte sie: »Ja.«

»Dann werde ich dich aufnehmen, dass du um mich tanzen kannst«, versprach ihr das Mädchen mit der Stimme alt wie die Welt.

»Werde ich ihn wieder sehen?«

»Immer, wenn der Mond am Himmel lacht«, antwortete die Dame Aurelie, dann verschwand sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Nur ein leises Glöckchenbimmeln schwirrte noch durch die Luft und schien ihr Glück zu wünschen. Dann war da nichts mehr, nur die Glocken der Kathedrale läuteten noch.

Sie war zu ihm zurückgekehrt und hatte ihm weitere Tränen auf der steinernen Stirn hinterlassen, ehe sie nach Montmartre flog und dort wartete – zu den Füßen von Sacré Cœr, bei dem alten Karussell, das er immer zum Drehen gebracht hatte. In einer der Kutschen wartete sie, lauschte dem beginnenden Regen und dachte an ihn. Und als die Sonne aufging, brachte sie ihre Schwester mit, die sich in den Wolken über der weißen Kirche spiegelte und über beiden Sonnen bildete sich ein Regenbogen, ganz kurz nur, doch lang genug, um sie den Tropfen Licht fangen zu lassen, der nötig war.

»Er wird dich zerbrechen«, hörte sie erneut die Stimmen der Geister, als sie zu ihm zurückflog, wie ein Nebelschweif durch den Morgen. Sie hörte nicht auf sie.

»Mondlicht kann es erreichen«, hatten die Schattentänzer gesagt, und so setzte sie sich neben ihn und umarmte ihn mit Wärme und Nebeltuch, damit seine Kälte verschwand.

Wieder wartete sie, diesmal auf den fernen Bruder der Sonne, den Mond. In ihrer Hand ruhte der Tropfen Zwillingssonnenlicht.

»Er ist Gift für dich«, warnte die Erinnerung erneut und die Stimmen der Schattentänzer fielen ein.

Scheu drückte sie ihm einen Kuss auf die steinerne Wange. Traurig dachte sie daran, dass all diese Stimmen recht hatten, sie aber doch nichts auf die Worte geben konnte, weil sie nicht gegen die Wahrheit ankamen, die in ihr lebte. Sie liebte ihn.

Die ersten Mondstrahlen tropften zur Erde. Sie löste sich aus der Umarmung, die sie nicht gehalten hatte und schwebte vor ihn. Legte den Tropfen Sonnenlicht auf ihre Zunge. Beobachtete, wie Mondlicht auf ihn fiel. Schluckte den Zwillingssonnentropfen.

Hinter ihr leuchtete der Mond hell auf sie, und ihr Schatten traf ihn.

»Der Mond zürnt ihm noch immer«, dachte sie, als das sonst so sanfte Strahlen greller wurde und die Welt um sie herum in silberne Schatten tauchte. Es mischte sich in ihr mit dem Zwillingssonnenlicht.

Sie sah, dass sein Stein zu glühen begann, langsam wieder lebendig wurde, wie seine Züge wieder die eines Elfen wurden. Dann sah er sie an, Erkennen flackerte in seinen Augen, dann blitzte Entsetzen auf, das sich in Traurigkeit verlor, als sie sich verwandelte und er wusste, dass er sie verloren hatte.

Und dann, ganz leise nur, sagte sie »Ich liebe dich«.

Sie hörte, wie etwas in seinem Inneren leise knackte. Eine Träne lief über seine Wange, als er sich über die Galerie beugte und den Nebel zu berühren versuchte, zu dem sie geworden war und in dem ihre Silhouette noch zu erkennen war.

Hoch über den Dächern von Paris, auf der Galerie des Chimères zu Notre Dame, steht in Nächten, in denen der Mond der Welt sein schmales Lächeln schenkt, eine Frau, die aus Nebel besteht. Ein junger Mann, der ein gebrochenes Herz besitzt und froh darüber ist, weil ihn nun das Licht erreicht, tritt auf sie zu und beide umarmen sich. »Ich liebe dich«, flüstert er in ihr Nebelhaar.

© Coverbild Elke Brandt, Manticor Illustrations, mit freundlicher Genehmigung von Elke Brandt

(fb)