Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius … Teil 12
Oskar Ludwig Bernhard Wolff
Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius,
seinem Leben, seinen Taten und seinem Ende
Volksbücher Nr.46, Verlag Otto Wigand, Leipzig
Wie Virgilius seine Kurzweil hatte mit des Sultans Tochter
Virgilius hatte so oft die Schönheit von des Sultans Töchterlein rühmen hören, dass er sich zuletzt in sie verliebte, ohne sie je gesehen zu haben. Vermittelst seiner Kunst schlug er eine Brücke in die Luft und ging auf derselben zu ihr. Als er mit ihr gesprochen und ihr seine Gesinnung zu erkennen gegeben hatte, willigte sie ein, die seine zu werden, obwohl sie ihn früher nie mit Augen angeschaut. Einstmals sagte sie zu ihm, sie wolle mit ihm in sein Land ziehen, er möge ihr aber kundtun, wer er sei und wo er zu Hause gehöre.
Da antwortete Virgilius ihr: »Du sollst mit mir über viele Länder ziehen und sie nicht betreten.«
Darauf führte er sie auf der Luftbrücke nach Rom. Als er mit ihr in seinem Palast angekommen war, fragte er sie, ob sie unterwegs jemanden gesehen habe. »Niemanden als dich allein«, entgegnete sie.
Nun zeigte er ihr seinen Palast und den Obstgarten, und die ehernen Männer, welche auf seinen Befehl eine Zeitlang innehielten und nicht mit den Hämmern auf den Amboss schlugen. Er zeigte ihr auch alle seine Schätze und Reichtümer und bot ihr dieselben zum Eigentum an.
Sie wollte aber nichts annehmen, sondern sagte, sie habe schon genug von ihrem Vater.
Virgilius behielt sie nun so lange bei sich im Garten, wie es ihm gefiel.
Der Sultan jedoch, als er seine Tochter vermisste, wurde voll Kummer, da er sich gar nicht denken konnte, was aus ihr geworden war, und ließ sie überall suchen, aber niemand wusste sie zu finden.
Als nun des Sultans Töchterlein eine geraume Zeit bei Virgilius in dessen Obstgarten verweilte, wünschte es wieder in seines Vaters Land zu ziehen. Virgilius fasste die Jungfrau, nahm sie in die Arme, warf sie auf die Luftbrücke, brachte sie selbst zu ihres Vaters Palast, legte sie dort auf ihr Bettlein, empfahl sie den Göttern und begab sich nach Rom zurück.
Als nun der Tag anbrach, stand der Sultan auf und war tief betrübt über der Tochter Verlust; da kam aber einer seiner Kämmerlinge und meldete ihm, sie sei wieder da und liege schlafend in ihrem Bettlein.
Der Sultan eilte nun augenblicklich zu ihr und fragte sie, wo sie gewesen und wie sie wieder zurückgekommen sei.
»Vater«, antwortete sie, »es war ein Zauberer da aus fremden Landen, der brachte mich durch die Luft zu seinem Palast und Garten, aber ich habe außer ihm allein weder Mann noch Frau gesprochen und ich weiß nicht, in welchem Land es war. Der Sultan erwiderte ihr und sprach, sie solle ihm irgendeine Frucht aus jenem Land mitbringen und sie antwortete, das wolle sie tun.
Nach einer Weile kam Virgilius abermals nach Babylon und nahm die Sultanstochter mit sich fort in sein Land und behielt sie dort so lange bei sich, wie es ihm gefiel. Als sie nun wieder von ihm schied, nahm sie Walnüsse und andere Früchte mit, die sie ihrem Vater zeigte, so wie sie wieder daheim war.
»Aha!«, sagte der Sultan, es ist nach der fränkischen Seite hin, wohin er dich so oft geführt hat. Wenn er wieder sich einstellt, um dich mitzunehmen, so gib ihm diesen Trunk, den ich dir hier reiche, aber koste du selbst nicht davon; denn, sobald er davon genossen hat, wird er in tiefen Schlaf sinken. Dann sendest du zu mir und lässt mich holen und wir werden ihn fangen und sehen, wer es ist.«
Die Jungfrau tat, wie ihr befohlen worden. Als Virgilius sich wiederum einstellte, reichte sie ihm zu trinken von dem Trank, den ihr Vater ihr gegeben hatte.
Sobald er getrunken hatte, versank er in tiefen Schlaf und wurde gefangen genommen und vor den Sultan gebracht, in Gegenwart von des Sultans Tochter und den Großen des Hofes. Der Sultan zeigte ihn seinen Rittern und sagte, das sei der Mann, der seine Tochter gestohlen habe.
Als Virgilius darüber erwachte, sprach er zu diesem: »Für das, was du getan hast, wirst du den Tod erleiden.«
Virgilius aber antwortete dem Sultan: »Ich wollte, ich hätte sie nie gesehen, und lasst Ihr mich frei, so gelobe ich, nie wieder zu kommen.«
»Nein«, entgegnete der Sultan, »für deine Missetat musst du eines schmählichen Todes sterben.«
Da aber rief des Sultans Töchterlein: »So Ihr ihn tötet, sterbe ich mit ihm.«
»Das ist auch mein Wille«, entgegnete der Sultan, »du sollst mit ihm verbrannt werden.«
Worauf Virgilius erwiderte: »Solches werdet Ihr nicht tun und wenn Ihr noch so große Macht und Gewalt hättet.«
Vermöge seiner Zauberkunst brachte Virgilius nun zu Wege, dass der Sultan und seine Höflinge glaubten, der große Fluss von Babylon komme über sie; und während sie schwammen und patschten und wateten wie die Enten, nahm er die Prinzessin und schwang sich mit ihr auf die Luftbrücke. Als er das getan hatte, löste er den Sultan und dessen Ritter von dem Zauber und diese sahen nun, wie Virgilius die Jungfrau über die Luftbrücke führte. Sie wunderten und betrübten sich sehr darüber und wussten nicht, was sie tun sollten, denn sie konnten es nicht ändern. Auf sotane Weise brachte Virgilius die Jungfrau über die See nach Rom. Er war äußerst verliebt in sie und überlegte bei sich, wie er sich mit ihr vermählen könne. Und es kam ihm in den Sinn, durch seine Kunst mitten im Meer einen Zauberturm zu schaffen, mit reichen Landen, so dazu gehören sollten. Solches tat er denn auch und nannte das Land Neapel.
Der Grund davon bestand aus Eiern und in dieser Stadt Neapel errichtete er einen viereckigen Turm, auf dessen Spitze er einen Apfel auf einer eisernen Stange aufhing. Niemand konnte den Apfel wegnehmen, ohne die Stange zu zerbrechen. Das Eisen steckte er in eine Flasche, auf diese Flasche legte er ein Ei und hängte den Apfel an einer Kette daran und so hängt derselbe noch da. Wenn das Ei sich bewegte, so sollte die Stadt Neapel erbeben und zerbrach es, sollte sie untergehen. In dieser Stadt aber bewahrte er einen Teil von seinen Schätzen auf, und auch seine Geliebte, die schöne Sultanstochter, der er für sie und ihre Kinder die Stadt Neapel und alle dazu gehörigen Lande schenkte. Nach einer kurzen Weile aber vermählte er sie mit einem Herrn aus Spanien.
Nicht lange danach geschah es, dass der Kaiser große Lust bekam, die Stadt Neapel zu besitzen, denn dieselbe hatte den Ruf, die schönste auf Erden zu sein.