Der Welt-Detektiv – Band 12 – 2. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 12
Das Grab im Moor
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
2. Kapitel
Wenn ein Inspektor aus den Wolken fällt
Seit zehn Tagen hatten Sherlock Holmes und Jonny Buston, sein treuer Freund und Schüler, Besuch. Harry Taxon war es, des Weltdetektivs früherer Famulus, der sich vor einiger Zeit verheiratet und als selbstständiger Detektiv in New York niedergelassen hatte, nun aber auf ein paar Wochen nach England gekommen war, um seinen verehrte Meister nach langer Trennung wiederzusehen und von vergangenen Zeiten zu plaudern. Ja, diese vergangenen Zeiten! Es waren herrlich-schöne, aber auch oft verflixt gefährlich gewesen! Jonny saß still dabei, aber seine Augen glühten vor Begeisterung, als er die beiden Männer von ihren Kämpfen gegen die Verbrecherwelt in allen Winkeln des Erdballs reden hörte.
Seit zwei Tagen war die friedliche Ruhe aus der gemütlichen Wohnung in der Baker Street gewichen, und die Plätze am Kamin, wo man plaudernd beisammen gesessen hatte, blieben leer. Schlag auf Schlag waren die verschiedensten Verbrechen in London erfolgt. Da hielt es die Männer einfach nicht länger. Ihr Spürtrieb war stärker als die Sehnsucht nach Ruhe und Erholung. Und überdies brannte Harry Taxon förmlich darauf, wieder einmal an des geliebten und vergötterten Meisters Seite gegen unbekannte Gegner zu Felde zu ziehen.
Anfangs hatte Sherlock Holmes geschwankt, welchem Verbrechen er sich zuwenden sollte, stand ihm doch eine traurige Auswahl zur Verfügung. Dann war sein Augenmerk jedoch auf den jungen Inspektor Tyst gefallen, der sich verzweifelt mit dem Raub der Toten abmühte.
»Wir wollen sehen, ob wir dem armen Burschen ein wenig unter die Arme greifen können«, hatte Sherlock Holmes lächelnd zu seinem Mitarbeitern gesagt. Und so war man denn sogleich mit Feuereifer an die Arbeit gegangen, ohne dass Tyst auch nur das Geringste davon merkte.
Als Tyst nun in seiner Erregung vor dem Haus des Weltdetektivs aus der Taxe sprang, wusste Sherlock Holmes, der die Anfahrt vom Fenster aus mitangesehen hatte, genug.
»Da haben wir’s«, meinte er. »Tyst sitzt fest. Ein Glück, dass wir uns ein bisschen um die Geschichte gekümmert haben, was, Jungs?«
Harry Taxon und Jonny Buston machten vergnügte Gesichter dazu.
Drei Minuten später stand Inspektor Tyst im Zimmer.
»Wie nett, dass auch Sie mich einmal aufsuchen«, empfing ihn Sherlock Holmes freundlich, um ihn dann Harry und Jonny vorzustellen. »So, und nehmen Sie bitte Platz. Rauchen Sie, Inspektor? Navy cut? Sie ist recht gut. Oder mögen Sie keine Zigaretten? Hier habe ich eine famose Brasil …«
Tyst wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirn.
»Ich rauche gar nicht«, murmelte er. »Wenigstens nicht dann, wenn … wenn ich wenn ich …«
»Aber was haben Sie denn?«, fragte Sherlock Holmes mit gut gespieltem Erstaunen. »Sie haben gewiss gleich vier Treppenstufen auf einmal genommen, dass Sie so außer Atem sind!«
Tyst verneinte.
»Es ist … ach … Sie glauben ja gar nicht. Mr. Holmes … die Geschichte in der Morgue …«
»Ach so«, sprach der Weltdetektiv und setzte umständlich die geliebte Shagpfeife in Brand. »Ach so!«, wiederholte er noch einmal und blies den blauen Rauch zur Decke empor. »Jetzt verstehe ich erst. Daher weht der Wind!«
»Ja«, stieß Tyst hervor, »und ich flehe Sie an, Mr. Holmes, mir Ihre Unterstützung zu leihen. Tag und Nacht habe ich mich mit der Angelegenheit beschäftigt. Es war alles umsonst. Das kann mich meine Stellung kosten, und eben darum …« Er brach ab und starrte verzweifelt zu Boden.
»Warum sollte ich Ihnen nicht helfen?«, fragte der Weltdetektiv bedächtig und ließ die Finger knacken. »Schließlich wäscht noch immer eine Hand die andere. Und was die Herren von Scotland Yard anbelangt«, schloss er trocken, »so kann ich mich durchaus nicht beklagen: Sie strotzen förmlich vor Kollegialität!«
Harry Taxon brach in ein herzhaftes Gelächter aus. Der Inspektor bekam einen roten Kopf.
»Ja«, murmelte er. »Ich weiß, dass man von Scotland Yard aus oft unfreundlich gegen Sie war und dass Sie allen Grund haben, sich über die Schwierigkeiten zu beklagen, die man Ihnen hier und da in den Weg legte. Aber im Großen und Ganzen verehrt man Sie trotz allem ungemein hoch.«
»Diese Verehrung«, warf Sherlock Holmes freundlich ein, »macht sich aber meistens nur dann bemerkbar, wenn die Herren von der Polizei nicht weiterwissen. Dann fällt ihnen der Kerl ein, der in der Baker Street wohnt! Aber lassen wir das, Inspektor. Ich will Sie nicht büßen lassen, was Ihre Kollegen in ihrer ehrgeizigen Sucht nach Ruhm schon alles gesündigt haben. Kommen wir also auf die Morgue zurück …«
Tyst atmete auf. »Ich bin verzweifelt, Mr. Holmes«, sagte er. »Die Täter haben nicht die geringste Spur zurückgelassen und …«
»Stopp!«, fiel ihm der Weltdetektiv ins Wort. »Das ist schon falsch. Die Burschen, die mit einem Kraftwagen vorfuhren, haben sogar mehrere Spuren zurückgelassen!«
Tyst federte von seinem Stuhl empor. »Was?«, rief er entgeistert.
»Ja, ja«, merkte Sherlock Holmes an, »es ist schon so, wie ich sage. Wenn Sie keine Spuren bemerkt haben, so muss ich Sie, so leid es mir tut, tadeln. So wissen Sie scheinbar auch noch nicht genau, wie viele Personen den Raub ausführten, wie?«
»Nein!«, stammelte der Inspektor.
»Nun«, gab der Weltdetektiv gemütlich zurück, »es waren drei Männer. Zwei von ihnen trugen Khasel-Gummiabsätze. Der Abdruck war auf dem Asphalt noch am nächsten Tag herrlich zu sehen. Der Dritte ist, ohne dass er darum ein Krüppel zu sein braucht, mit einem Fußleiden behaftet. Sein linker Fuß ist um drei Zentimeter kürzer als der rechte.«
Der Inspektor fiel aus allen Wolken. Er wurde abwechselnd blass und rot, sank auf den Stuhl zurück und starrte den Sprecher an wie ein Weltwunder.
»Das … das ist … das ist wahr?«, keuchte er. »Sie werden doch wohl kaum annehmen, dass ich Ihnen hier Räubergeschichten erzähle, die ich mir aus den Rippen schneide!«
»Dann … dann haben Sie sich also schon mit dem… mit dem Fall beschäftigt?«
»Allerdings, und ich glaube, das war gut so!«
Tyst geriet außer Luft und Atem.
»Mr. Holmes!«, bat er, »spannen Sie mich nicht auf die Folter! Bitte erzählen Sie!«
Der Weltdetektiv lehnte sich tief in den Sessel zurück.
»Lieber Freund«, sagte er, »ich weiß zwar viel, doch lange nicht alles. Als Täter kommen also, wie gesagt, drei Männer infrage. Zur Wegschaffung ihres Raubes benutzten sie einen Rolls-Royce. Einen Kraftwagen dieser Marke hat nämlich jemand in der Nähe des Schauhauses um die fragliche Zeit gesehen, und außerdem hat auch das Auto Spuren auf dem Asphalt hinterlassen. Die Stelle, wo die Räder längere Zeit gestanden hatten, war deutlich zu sehen. Die Maße lassen darauf schließen, dass es sich um einen Rolls-Royce handelt.«
»Einen Rolls-Royce«, wiederholte Tyst zweifelnd. Sein Staunen war nicht unberechtigt, denn die Rolls-Royce-Wagen waren die teuersten Englands. Leichenräuber, die einen Luxuswagen fahren.
»Aber es ist so«, sagte Sherlock Holmes. »Diese Feststellung gab mir in Verbindung mit den Fußspuren der drei Männer immerhin einiges Material in die Hand. Vor allen Dingen sahen wir uns nach den Leuten um, die in London Rolls-Royce-Wagen benutzen. Es sind derer zweiundzwanzig: alles Herrschaften, die schwer reich sind. Sogar sieben Millionäre sind darunter!«
»Und nun glauben Sie«, murmelte Tyst, »dass einer dieser Leute …?«
»Wir werden sehen. Fünfzehn Besitzer von Rolls-Royce-Wagen haben wir schon heimlich beobachtet. Ohne Erfolg. Es bleibt also abzuwarten, wie die Prüfung der verbleibenden sieben Personen ausfällt. Wären Sie eine halbe Stunde später gekommen, hätten Sie uns nicht mehr angetroffen.«
Der Inspektor rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Ein Dutzend Fragen schwebten ihm auf den Lippen.
Aber Sherlock Holmes ließ ihn nicht dazu kommen, sie auszusprechen.
»Sie tun gut, morgen im Laufe des Vormittags bei mir anzurufen«, sagte er und erhob sich, die Unterredung beendend. »Für heute kann ich Ihnen nicht mehr berichten. Schweigen Sie über das, was ich Ihnen anvertraut habe, und sehen Sie nicht allzu trübe in die Zukunft. Ich denke, dass auch der geheimnisvolle Raub aus der Morgue bald kein Geheimnis mehr sein wird. So, und nun müssen wir wieder an die Arbeit gehen. Good day, Inspector!«
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