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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 2 – Die Totenstadt – 1. Teil

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 2
Die Totenstadt
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Einleitung

Richard ist bis zum zwölften Jahr ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.

Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:

In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammertür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Tür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im Voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Tür überschritten, dann ist am Lauf der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen.

Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traum einen Ersatz für sein unglückliches Leben.

Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingibt.

Auf dem Kirchturm

Als Richard die Kammertür öffnete, kam ihm eine schneidende Kälte entgegen, und wie er die Schwelle überschritt, sah er sich auf dem Söller des Kirchturmes seiner Vaterstadt.

Er stand nicht zum ersten Mal hier oben und kannte schon das Panorama, das sich tief unter ihm ausbreitete.

Es war ein kalter, klarer Januartag eines schneereichen Winters. Der Schnee lag zu beiden Seiten der Straßen hoch aufgehäuft und hing festgefroren über die Dächer hinab.

Reizend war das lebende Bild, von hier oben aus gesehen. Wie die kleinen Menschlein in den Straßen trippelten, wie sie in den Durchgängen verschwanden und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kamen, wie die Pferdchen vor den winzigen Wagen trabten und die Droschkenkutscher unten am Halteplatz neben der Kirche die Arme um den Leib schlugen! Dort war der Schwanenteich; Schlittschuhläufer tummelten sich darauf, und weiter über die Stadt hinaus sah Richard die Umgegend unter dem weißen Leichentuch des Winters liegen, und nur dunkle Punkte bezeichneten die Lage der eingeschneiten Dörfer.

Plötzlich geschah dort unten etwas Besonderes. Zuerst sah Richard eine Dame hinfallen, die ausgeglitten sein mochte, und die nicht wieder aufstand, da ihr niemand behilflich sein mochte, dann stürzten zwei andere Menschen, dann ein Pferd und noch eins, und nun sanken die soeben auf der Promenade mit klingendem Spiel marschierenden Soldaten eines Regimentes in Reihen zu Boden, gerade so, als ob man aufgestellte Bleisoldaten der Reihe nach umwirft. Und überall, wohin Richard auch blicken mochte, wiederholte sich dieses sonderbare Schauspiel.

Von hier oben beobachtet, wirkte es allerdings nur possierlich, dort unten aber schien eine Panik entstanden zu sein. Die ganze Stadt glich einem aufgestocherten Ameisenhaufen, die Straßenpassanten gingen nicht mehr nur in schnellem Geschäftsschritt, nein, jetzt rannten sie wirklich aufgeregt hin und her – um dann früher oder später ebenfalls niederzustürzen und sich nicht wieder zu erheben.

Gleichzeitig merkte Richard noch etwas anderes. Bis vor einem Augenblick hatte er noch die schneidende Kälte verspürt; nun plötzlich wurde es ihm siedend heiß. Und das war keine Einbildung. Die Wärme lag wirklich in der Luft, denn plötzlich begann es von den Dächern zu tropfen. Es floss, es goss, und schon polterte der Schnee donnernd auf die Straßen hinab!

Richard verließ den Söller, um sich hinunterzubegeben.