Jimmy Spider – Folge 2
Jimmy Spider und der Galgen am Abgrund
Wieder einmal ein mysteriöser Auftrag, wieder mal eine mysteriöse Beschreibung vom Chef und mysteriöserweise führte mich mein neuer Auftrag wieder mitten ins Nirgendwo. Weniger mysteriös war, dass ich wieder mein übliches Outfit trug und eine Einsatzkiste mit verschiedensten Waffen, Unterlagen und unheimlichen Ingredienzien mit mir trug.
Die Holzkiste hatte ich leider nicht mit nach Sibirien nehmen können, denn schließlich fand ich unter anderem eine Flasche Wodka darin, und Kisten mit derartigem Inhalt verschwanden gerne mal am Moskauer Flughafen. Seltsam, dabei haben die Russen doch so viel davon.
Der Fall um den geheimnisvollen Tunnel war abgeschlossen, für mich jedenfalls. Wie mein Chef gehört hatte, wurde der Tunneleingang mittlerweile zubetoniert. Was auch immer sich darin noch für Schrecken befinden mochten, sie mussten sich nun damit begnügen, sich gegenseitig zu erschrecken. Schreckliche Vorstellung.
Zumindest hatte dieses Nirgendwo auch einen Namen – Barcelona.
Leider hielt das nicht lange an, denn nach der Ankunft am Flughafen ging es mit einem bereitgestellten Geländewagen (die Marke verrate ich lieber nicht, wir sind ja hier nicht bei der Werbung) mitten in die Einöde hinein. Während der äußerst langweiligen Fahrt, die ich durch die Gläser meiner wertvollen Dienstsonnenbrille betrachtete, begleitete mich stets das Scheppern meiner im Kofferraum liegenden Kiste.
Schließlich kam ich doch an und stellte mein Auto neben einen beinahe identischen Geländewagen. Offenbar hatte mir der TCA Unterstützung zukommen lassen. Es sollte mir recht sein, denn geteilte Arbeit ist bekanntlich halbe Arbeit. Zumindest für mich.
Vom Himmel herab drückten weiterhin die wärmenden Strahlen der Mittagssonne auf mein Gemüt. Kein einziges Wölkchen zeigte sich am Firmament, als hätten sie alle gemeinsam Urlaub genommen, um mich zu ärgern.
Als ich ausstieg, kam mir bereits mein Kollege entgegengelaufen. Es war niemand anderer als Steven McLaughington, Jungspund der TCA und gleichzeitig ein entfernter Verwandter meines Chefs. Das konnte ja heiter werden.
Steven trug wie immer ein weißes T-Shirt, das ihm bis über die Hüften fiel, dazu eine kurze Jeanshose und Sandalen. Seine kurz geschorenen blonden Haare wollten so gar nicht zu seiner blauen Sonnenbrille passen. Offenbar hatte er von seinen Vorfahren, den Schotten, kein besonderes Modebewusstein geerbt. Immerhin hatte er auf einen Kilt verzichtet.
»Ah, Mr Spider, ich habe Sie schon erwartet. Kann ich Ihnen etwas abnehmen?«
Ich reichte ihm meine Sonnenbrille. »Viel Spaß damit.«
Meine Kiste trug ich lieber selbst. Wer wusste denn schon, was dieser fleischgewordene Albtraum eines jeden Modeschöpfers damit anstellen würde. Blieb die Frage, ob er mit dem Fall genau so wenig bewandert war wie mit seinem Stilgefühl.
»Eine Frage, Mr McLaughington, warum in aller Welt kümmert sich die TCA eigentlich um diesen Galgen? Und warum gerade jetzt?«
Hinter mir stöhnte mein Kollege auf. Ob wegen der Kiste, der Hitze, meiner Frage oder weil er gemerkt hatte, dass er mit seinem Aufzug nicht mal in die heruntergekommenste Kneipe von Barcelona hereingelassen worden wäre, würde ich wohl nie herausfinden.
»Irgendwelche Touristen haben sich wohl vor gut einer Woche hierher verfahren, diesen Galgen entdeckt und es der örtlichen Polizei gemeldet. Und bevor sich irgendwelche Boulevard-Journalisten-Geier auf die Story stürzen konnten, hat der Polizeichef dieser Gegend seine Beziehungen spielen lassen. Wer weiß, vielleicht ist er irgendwie mit dem Chef verwandt. Jedenfalls hat man uns damit beauftragt, dieses Ding zu untersuchen, sein Geheimnis zu lüften und ihn verschwinden zu lassen.«
»Aha.«
Der Chef musste ja eine tolle Verwandtschaft haben.
Der Weg war zum Glück nur kurz. Schon nach gut einer halben Minute war ich am Tatort angekommen. Gut, Tatort war etwas übertrieben, also nennen wir es einmal eine Besonderheit. Dabei handelte es sich um einen Galgen, wie man ihn aus verschiedenen Western, gegebenenfalls auch aus dem Mittelalter kannte. An sich nichts Ungewöhnliches, wäre da nicht die Tatsache, dass der Galgen einsam und verlassen direkt auf einem kleinen Felsvorsprung am Rande einer Schlucht stand.
Vor mir baumelte der Galgenstrick leicht im Wind. Unter ihm war nur der Abgrund.
Ich stellte meine Kiste direkt auf den Felsvorsprung, um so besser meine Untersuchungen durchführen zu können.
Mein Kollege war mir gefolgt und konnte sich eine obligatorische Frage nicht verkneifen. »Was machen wir jetzt?«
Ich verdrehte die Augen. Ob Steven McLaughington den ganzen Weg darüber nachgedacht hatte, wie er diese Frage formulieren sollte?
»Wir untersuchen das Ding.«
»Den Galgen?«
»Nein, den dritten Stein von links.«
Mein Kollege sah mich, wie sollte es anders sein, nur verwirrt an.
Nichtsdestotrotz öffnete ich meine Einsatzkiste und kramte eine Packung Streichhölzer hervor.
McLaughington, der nun direkt neben mir ebenfalls auf dem Felsvorsprung stand, schaute mich wie üblich leicht verwirrt an.
»Was wollen Sie damit? Den Galgen anzünden?«
»So in etwa …« Es sollte ein Test werden, ob dies vor mir zumindest ein physisch normaler Galgen war.
Ich zündete ein Streichholz an. Etwas knackte.
»Haben Sie das gehört, Mr. Spider?«
»Natürlich. Irgendwo hat ein Stein geknackt.«
Mein Kollege zuckte mit den Schultern.
Die Hand mit dem Streichholz näherte sich langsam dem Galgen. Wer ihn wohl dorthin gebaut hatte? Ein betrunkener Inquisitor? Ein blinder Henker? Die Daltons?
Noch bevor die Flamme das Holz erreichen konnte, knackte es wieder, diesmal lauter.
McLaughington tippte mir auf die Schulter.
»Mr. Spider, ich denke …«
»Schon gut, überlassen Sie mir lieber das Denken.«
Wieder knackte etwas, sogar mehrfach hintereinander. Irgendetwas schien unter mir zu brechen. Mein Kollege war bereits einige Schritte zurückgetreten.
Ich schaute auf meine Füße. Um sie herum waren größere Risse entstanden. Langsam sackte der Vorsprung dem Abgrund entgegen – mit mir als blindem Passagier.
Doch so leicht ließ ich mich von einem Felsen nicht umbringen. Ich nahm kurz Anlauf und sprang.
Unter mir krachte es, der Felsvorsprung verschwand gen Tiefe, und ich segelte wieder auf festen Untergrund, rollte mich ab und sprang sofort wieder auf. Gemeinsam mit meinem Kollegen lief ich zur Klippe.
Von dem Galgen war nicht mehr allzu viel zu sehen. Es sollte mir recht sein.
»Tja, Mr. McLaughington, es sieht aus, als wäre der Fall gelöst.”
Mein Kollege begann plötzlich hysterisch mit den Armen zu fuchteln.
»Gelöst? Sagten Sie gelöst? Wir haben doch überhaupt nichts gelöst. Der Galgen hat …«
»… sich selbst gerichtet. Er konnte sich ja schlecht aufhängen.«
»Aber mit verschwinden lassen meinte ich … ich …« Mein Kollege verschluckte sich beim Sprechen.
Plötzlich wurde ich blass. In seiner letzten Aktion hatte es der Galgen tatsächlich noch geschafft, mein wertvollstes Mitbringsel mit in den Abgrund zu reißen, die Kiste mit dem Wodka!
»Mr. McLaughington, sorgen Sie unverzüglich dafür, dass das Abgestürzte gesichtet und gesichert wird.«
Mein Kollege sah mich entgeistert an. »Aber …«
»Danken Sie mir nicht, dieser Fall hatte einen zu hohen Preis.«
Danach drehte ich mich um und ging zu meinem Wagen. Der nächste Auftrag wartete bestimmt schon sehnsüchtig auf mich.
Copyright © 2008 by Raphael Marques