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Sherlock Holmes im Labyrinth der Lügen

Sie hoben den Kopf etwas mehr und musterten den alten Seebär vor Ihnen nun genauer. Ihr Kopf schwankte hin und her, betrunken wie sie waren, doch ihr Blick klärte sich in genügendem Maße, um meine Verkleidung zu durchschauen. »Holmes?«, flüsterten sie leise und voller Furcht. »Kann das sein?«

(Gary Lovisi – Die fehlenden Jahre)

Friedrich Gerhard KlimmekMrs. Hudsons Theorie (Die wahre Geschichte vom gesprenkelten Band)

Mrs. Hudsons Theorie ist so etwas wie eine Alternativversion von Arthur Conan Doyles Das gefleckte Band. Wir erinnern uns: Helen Stoner aus Stoke Moran ersucht Sherlock Holmes um Hilfe bei der Aufklärung des rätselhaften Todes ihrer Schwester Julia. Vor Ort machen Holmes und Watson allerlei merkwürdige Beobachtungen, allen voran eine Klingelzugatrappe, ein Ventilator zwischen zwei Zimmern und ein am Boden festgeschraubtes Bett. Im Zusammenspiel mit weiteren Indizien wird der Hausherr, Dr. Grimesby Roylott als Täter entlarvt, der seine Stieftochter mit Hilfe einer Giftschlange ermordet hat, um deren Mitgift nicht auszahlen zu müssen.

Friedrich Gerhard Klimmek war scheinbar mit Holmes Schlüssen im Fall des gefleckten Bands und der Ignoranz gegenüber einigen biologischen Tatsachen nicht zufrieden und präsentiert mit Mrs. Hudsons Theorie seine eigene Version des Falls. Er lässt dabei Watson – als Holmes treuen Chronisten – die vollständige Geschichte nochmals, mit den nun notwendigen, kleinen Abweichungen, erzählen. Dieser überwiegende Teil der Erzählung ist für alle, die mit Das gefleckte Band vertraut sind, eher überflüssig. Richtig punkten kann Mrs. Hudsons Theorie erst gegen Ende, das – durch Holmes veränderte Schlussfolgerungen – die Abweichung zur bekannten Geschichte darstellt.

Eine Holmes-Geschichte so aufzuziehen, als hätte Watson ursprünglich eine veränderte Version der Ereignisse beschrieben ist eine durchaus interessante Herangehensweise. Zwangsläufig beinhaltet das Resultat aber über weite Strecken bereits Bekanntes.

Gary LovisiDie fehlenden Jahre

Nach Sherlock Holmes finaler Auseinandersetzung mit seinem Erzfeid James Moriarty, fällt auch er selbst in die Tiefe der schweizer Reichenbach-Fälle. Er stirbt jedoch nicht, sondern wird bewußtlos gefunden und von einem fürsorglichen Ehepaar wieder gesund gepflegt. Aus einer englischen Zeitung erfährt Holmes, dass Moriarty, der zerschmettert auf dem Grund der Reichenbachfälle liegen müsste, in der englischen Heitmat dem baldigen Ritterschlag durch König Edward entgegensieht. Weitere merkwürdige Ereignisse lassen Holmes zu dem Schluss kommen, dass er in einer alternativen Realität gelandet ist, in der Moriarty immer mehr Macht gewinnt und zum mächtigen Drahtzieher hinter der Krone zu werden droht. Holmes nutzt die Gunst der Stunde, um unerkannt nach London zurück zu kehren, seine alten Freunde um sich zu scharen und wieder gegen Moriarty anzutreten.

Gary Lovisi spickt seine Geschichte mit zahlreichen Verweisen auf Doyles Holmes-Erzählungen: Sebastian Moran – hier Commissioner von Scotland Yard – taucht dort bereits als zweiter Mann nach Moriarty in dessen Verbrecherorganisation, auf. Auch das spezielle Luftgewehr, mit dem Moran einen Anschlag auf Holmes verüben will (Das leere Haus), wird hier genannt. Weiterhin ist das Holmes-Alias Sigerson bereits aus den Doyle-Geschichten bekannt.

Klaus-Peter WalterAuftrag in Kiew

Wie in Laurie R. Russels Romanen hat sich Holmes hier bereits in den Ruhestand zurückgezogen und verbingt seine Zeit als Bienenzüchter in Sussex. Die Bitte eines alten Freundes und Kollegen von John Watson führt den Detektiv jedoch nach Kiew, wo ein russischer Jude ein Kind ermordet haben soll. Korruption und schlampige Ermittlungen erhärten den Verdacht eher, als dass sie ihn ausräumen. Natürlich bleibt die Anwesenheit des Detektivs in Kiew nicht lange unentdeckt und Holmes wird zum Spielball politscher Winkelzüge, die ihn in Lebensgefahr bringen.

Klaus-Peter Walter glänzt wieder einmal durch die Kenntnis der Holmes-Geschichten (auch der Pastiches) und baut zahlreiche Verweise in seine Geschichte ein. Auch die Recherchen dürften gewohnt fundiert sein.

An sich ist Auftrag in Kiew sehr schön ausgewogen und verfügt über ein ungewöhnliches Setting, ist aber nicht, was man von einer Holmes-Geschichte erwartet. Was bleibt, ist lediglich ein Episode über Antisemitismus im historischen Russland, die Sherlock Holmes als Beobachter begleitet.

Ralph E. Vaughan  – Holmes und die alten Götter

Sommer 1927. Sherlock Holmes befindet sich während einer Amerika-Rundreise in Boston, als er von dem Linguistikprofessor Martin Philips aufgesucht wird. Dessen Cousin Carter Randolph ist verschwunden. Aufgrund des seltsamen Betätigungsfeld seines Bruders, befürchtet Carter Randolph, dass dieser den Anhängern gewisser Kulte in die Hände gefallen ist. Kulte, die Vorbereitungen treffen, die Herrschaft prähistorischer Götter auf der Erde wieder herzustellen. Die Durchsuchung von Carter Randolphs Wohnung führt den Detektiv schließlich zu H. P. Lovecraft höchstpersönlich.

Randolph Carter, Lovecrafts ausufernde Korrespondenz mit Schriftstellerkollegen und den Bewunderern seiner Arbeit und ein Finale, das aus Cthulhus Ruf entliehen ist: Die Verweise auf Lovecraft und sein Werk sind hier zahlreich vorhanden. Leider ist es Ralph E. Vaughn nicht gelungen, beide literarischen Welten zu etwas Größerem zu verschmelzen. Immerhin wurde Sherlock Holmes ohne nennenswerte Brüche in Lovecrafts Welten versetzt (oder umgekehrt). Immerhin hat Holmes und die alten Götter nostalgische Bedeutung, stellt sie doch angeblich das erste Aufeinandertreffen des großen Detektivs mit Lovecrafts Monstern dar, dem inzwischen zahlreiche weitere gefolgt sind (siehe z.B. Schatten über Baker Street, Bastei Verlag oder Sherlock Holmes im Reich des Cthulhu, Blitz-Verlag).

Ahmed A. KhanDr. Watsons geheimes Tagebuch

Was wäre, wenn John Watson all die langen Jahre, die er an der Seite seines »Freundes« verbracht hat, diesen hinters Licht geführt hat? Wenn es John Watson nie gegeben hätte und Holmes Begleiter sich als jemand ganz und gar anderes entpuppen würde?

Diese Fragen wirft Dr. Watsons geheimes Tagebuch auf. Ein nettes Experiment, über das man sicherlich geteilter Meinung sein kann.

Ich breche ein selbst auferlegtes Schweigen zum Teil jener vagen, doch beinahe greifbaren Wolke von Gefahr und Verderben wegen, die sich über mir zusammenzieht, doch vor allem aufgrund des geheimnisvollen Verschwindens von Mr. Sherlock Holmes, des berühmten Detektivs, der früher in der Baker Street 221B in London seinen Wohnsitz hatte. Zwei Briefe an die Adresse seiner Villa in den südlichen Sussex Downs blieben unbeantwortet und ich fürchte das Schlimmste.

(Ralph E. Vaughan – Holmes und die alten Götter)

Entgegen den weit verbreiteten Sherlock Holmes Pastiches, die den Detektiv in möglichst reißerische Fälle (aller Genres) zu verwickeln suchen oder in nicht unerheblichem Maße Crossover mit historischen oder literarischen Figuren darstellen, finden sich in Sherlock Holmes im Labyrinth der Lügen einige sehr ungewöhnliche und teils experimentelle Sherlock Holmes-Geschichten, die sich sehr von den »Standardfällen« abheben. Holmes-Puristen sollten sich die Anschaffung also zweimal überlegen.

Klingen die Beschreibungen und Intentionen der einzelnen Beiträge durchweg vielversprechend, bleibt nach der Lektüre jedoch nur ein blasser Eindruck zurück. Ideellen Wert haben die Geschichten jedoch allemal: Mrs. Hudsons Theorie wurde für die vorliegende Anthologie überarbeitet, Die fehlenden Jahre ist ein »Edgar Award«-Nominee, Holmes und die alten Götter gilt als früheste literarische Begegnung von Holmes mit Lovecrafts Großen Alten. Auftrag in Kiew und Dr. Watsons geheimes Tagebuch sind (deutsche) Erstveröffentlichungen.

Abgeschlossen wird die Sammlung von Kurzbiografien der Autoren. Von zweien der Autoren sind inzwischen weitere Bücher in dieser Reihe erschienen bzw. angekündigt: Sherlock Holmes und Old Shatterhand von Klaus-Peter Walter und Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughn.

Sherlock Holmes im Labyrinth der Lügen ist, wie bereits die Vorgängerbände, zweifellos ein Schmuckstück im Bücherregal. Hardcover mit Schutzumschlag, sauber gebunden und auf hochwertigem Papier gedruckt. Dazu versehen mit einem Titelbild von Mark Freier, das die Schlange aus Das gesprenkelte Band/ Mrs. Hudsons Theorie zeigt.

Der sehr großzügige Satz (große Schriftart, breite Ränder) allerding zeigt, dass der Inhalt auch auf 200 Seiten gut unterzubringen gewesen wäre.

Copyright © 2012 by Elmar Huber

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Roman Sander (Hrsg.)
Sherlock Holmes – Neue Fälle
Sherlock Holmes im
Labyrinth der Lügen
Hardcover Edition
Blitz Verlag, Windeck, 2010
Hardcover mit Schutzumschlag
Krimi/Detektivgeschichten
256 Seiten, 17,95 Euro
ISBN: 9783898402880
Covermotiv: Mark Freier

www.blitz-verlag.de
www.freierstein.de