Ein Hörbuch-Experiment
 

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Adventskalender 2024 – 12. Türchen

Das Ziegengesicht
Neapolitanisches Märchen

Ein Bauer hatte zwölf Töchter, keine war einen Kopf höher als die andere; denn jedes Jahr schenkte die gute Frau Ceccuzza ihrem Mann ein Töchterlein, sodass der arme Schelm, um sie ehrlich durchzubringen, jeden Mor­gen hinging und den ganzen Tag hindurch grub, sodass man nicht füglich sagen könnte, ob ihm mehr Schweiß von der Stirn rann oder er mehr in die Hand spie. Kurz, er bewahrte seine kleine Herde durch den Ertrag dieser Arbeit vor dem Hungertod.

Er grub eines Tages am Fuß eines Berges, der der Luginsland der anderen Berge war, so hoch streckte er sein Haupt in die Wolken, um zu sehen, was im Himmel vorging, und zwar nahe bei einer Höhle in diesem Berg, die so dunkel war, dass die Sonne sich fürch­tete hineinzugehen. Aus dieser Höhle kam eine grüne Eidechse, so dick wie ein Krokodil und der arme Bauer erschrak so sehr, dass er nicht die Kraft hatte, vom Fleck zu gehen, indem er fürchtete, von dem hässlichen Tier verschlungen zu werden.

Aber die Eidechse richtete sich auf und sagte: »Fürchte dich nicht, guter Mann, denn ich will dir nichts zu Leide, sondern etwas zugutetun.«

Als Masaniello, so hieß der Bauer, das hörte, fiel er auf die Knie und sagte: »Madam Ungenannt, ich bin gänzlich in ihrer Macht; handeln Sie wie eine vortreffliche Person, und haben Sie Mitleid mit diesem Stamm, der zwölf Äste zu erhalten hat.« »Eben deswegen«, sagte die Eidechse, »bin ich geneigt, Euch zu helfen; darum bringt mir morgen früh Eure jüngste Tochter. Ich will sie erziehen, wie mein eigenes Kind, und so lieb haben, wie mein Leben.«

Als der arme Vater dieses hörte, wurde er bestürz­ter als ein Dieb, bei dem man das gestohlene Gut findet. Denn da die Eidechse nach einer von seinen Töchtern, und zwar nach der jüngsten und zartesten fragte, so schloss er, dass auf dem Kleid keine Wolle sei, und dass sie wohl nur einen Mund voll haben wolle, um Ihren Appetit zu beschwichtigen.

Er sagte daher zu sich selbst: »Gebe ich ihr meine Tochter, so gebe ich ihr meine Seele; schlage ich sie ihr ab, so nimmt sie meinen eignen Körper; über­lasse ich sie ihr, so verliere ich meine eigenen Eingeweide; weigere ich mich, so saugt sie mir das Blut aus; willige ich ein, so gebe ich ihr einen Teil von mir; tue ich es nicht, so nimmt sie das Ganze. Was soll ich tun? Welchen Plan fassen? Welchen Weg einschlagen? Das war ein schlechtes Tagewerk! Welches Unglück ist vom Himmel auf mich herabgefallen!«

Während er so sprach, sagte die Eidechse zu ihm: »Entschließe dich schnell und tue, was ich dir gesagt habe, oder du wirst deine Gebeine hier lassen. So will ich es haben und so soll es sein.«

Als Masaniello dieses Urteil hörte und nirgends zu appellieren wusste, so ging er ganz melancholisch nach Hause und so gelb im Gesicht, als ob er die Gelbsucht hätte.

Als Ceccuzza ihn so bleich, verfallen und elend sah, fragte sie ihn: »Was ist dir widerfahren, Mann? Hast du mit je­mandem Streit gehabt? Ist eine Pfändung im Werke gegen dich? Oder ist der Esel gestorben?«

»Nichts von dem allen«, erwiderte Masaniello, »aber eine ge­hörnte Eidechse hat mir solchen Schreck eingejagt; denn sie hat mir gedroht, dass sie mir den Garaus ma­chen würde, wenn ich ihr nicht meine jüngste Tochter brächte. Mein Kopf dreht sich wie ein Kreisel. Ich weiß nicht, welchen Fisch ich nehmen soll. Auf der einen Seite treibt mich die Liebe, auf der anderen die Sorge für die meinen. Ich habe Renzolla sehr lieb, aber mein eigenes Leben auch. Gebe ich ihr nicht die Frucht meiner Lenden, so nimmt sie die ganze Masse dieses unglücklichen Körpers. Darum rate mir, teure Ceccuzza, oder ich bin verloren.«

Als die Frau das hörte, sagte sie: »Wer weiß, diese Eidechse macht vielleicht allem unseren Unglück ein Ende. Sieh doch, wie oft wir uns die Axt vor die Füße legen, und wenn wir Falkenaugen haben sollten, um das Gute zu sehen, das uns in die Arme läuft, so haben wir Schuppen auf den Augen. Wir haben jetzt den Haken in der Hand, um das Glück festzuhalten. Darum geh hin und bringe sie ihr, denn meine Ahnung sagt mir, es werde zum Besten der armen Kleinen sein.«

Masaniello billigte ihre Rede, und am nächsten Morgen, als die Sonne mit ihrer Strahlenbürste anfing, den Himmel zu scheuern, den die Schatten der Nacht be­schmutzt hatten, nahm er das kleine Mädchen bei der Hand und führte es zur Höhle.

Die Eidechse, welche auf ihn wartete, kam sogleich auf ihn zu, gab ihm einen Beutel mit Patacken und sagte, das Kind neh­mend: »Geh nur, und verheirate deine anderen Töch­ter mit diesem Geld und lebe glücklich, denn Renzolla hat Vater und Mutter gefunden; wohl ihr, dass ihr ein solches Glück begegnet!«

Masaniello, hoch erfreut, dankte sehr, kehrte zu seiner Frau zurück und zeigte ihr das Geld, mit dem er alle seine anderen Töchter ausstattete und doch noch genug Essig übrig behielt, um die Mühen seines ganzen übri­gen Lebens damit hinunterzuspülen.

Sobald die Eidechse Renzolla bekommen hatte, ließ sie einen prächtigen Palast erscheinen, brachte das Kind hin­ein und erzog es in solchem Glanz und Herrlichkeit, dass es selbst die Augen einer Königin geblendet haben würde. Ihr könnt sicher sein, dass es ihr nicht an Ameisenmilch fehlte. Ihre Nahrung passte sich für einen Grafen und ihre Kleidung für einen Prinzen. Sie hatte hundert Mädchen zu ihrer Bedienung und wurde durch die gute Behandlung in vier Sekunden so rund wie ein Ring.

Es trug sich zu, dass der König, als er zufällig in dieser Gegend jagte, von der Nacht überrascht wurde und nicht wissend, wohin er sein Haupt legen solle, in dem Palast Licht sah. Deshalb sandte er einen seiner Diener ab, um den Eigentümer um ein Nachtquartier zu bitten. Als der Diener zu der Eidechse kam, die wie eine schöne Dame erschien, und sein Anliegen vorbrachte, so sagte sie, dass der König tausend Mal willkommen wäre, und es weder an Brot noch an einem Messer feh­len solle. Der König begab sich, als er diese Ant­wort vernahm, dahin, und wurde wie ein Ritter em­pfangen. Hundert Pagen gingen ihm mit brennenden Fackeln entgegen, und sahen aus wie die Dienerschaft eines vornehmen Mannes. Hundert andere Pagen deck­ten den Tisch, und waren anzuschauen wie ebenso viele Apothekerburschen, wie sie den Kranken Herzstärkung bringen. Hundert andere machten ein gewaltiges Geräusch mit Musik, über alles aber war Renzolla, die den Kö­nig bediente, und ihm mit so vieler Liebenswürdigkeit zu trinken reichte, dass er mehr Liebe als Wein einschlürfte.

Als das Mahl beendet war und die Tische abgedeckt, ging der König zu Bett und Renzolla zog ihm selbst die Strümpfe von den Füßen und das Herz aus der Brust, so gewaltig, dass er fühlte, wie das Gift der Liebe, sobald er von ihren schönen Händen berührt wurde, aus den Füßen in die Höhe stieg und seine Seele erfüllte. Um daher dem Tod zuvorzukommen, beschloss er, das Gegengift für diese Schönheiten zu versuchen und es sich zu verschaffen, und die Fee, welche Sorge für ihre Er­ziehung trug, rufend, verlangte er von ihr Renzolla zur Gattin. Da jene nur auf ihres Pflegekindes Glück bedacht war, so willigte sie nicht allein mit Freuden ein, sondern steuerte dasselbe auch noch mit sieben Beuteln Gold aus.

Der König, hocherfreut über dieses Glück, reiste mit Renzolla ab, die, ungezogen und undankbar nach so vie­len ihr erzeigten Wohltaten, bei dem Abschied der Fee kein freundliches Wörtchen sagte.

Diese, entrüstet über ihr Betragen, verfluchte sie und wünschte, dass sie ein Gesicht wie eine Ziege bekäme. Kaum hatte sie dies geäußert, als sich auch schon ein, einen halben Fuß langer Bart an Renzollas Kinn ansetzte. Ihre Kinnbacken verlängerten sich, ihr Gesicht schrumpfte ein, aus ihren schönen Locken wurden ein Paar Hörner, kurz Renzolla hatte ein Ziegengesicht.

Als der arme König das sah, war er wie vom Donner gerührt, da er nicht begreifen konnte, wie es zuginge, dass eine Schönheit mit zwei Sonnen plötzlich so verändert werden könnte.

Seufzend und weinend rief er aus: »Wo sind die Locken, die mich fesselten? Wo ist der Mund, die Falle meiner Seele, die Angel meines Gemütes, der Branntwein meines Herzens? Soll ich denn der Gatte einer Ziege sein und Bock hei­ßen? Nein, nein, mein Herz soll nicht brechen um ei­ner Ziege willen, die mich stößt und meine Hemden schmutzig macht.«

Dies sagend, schickte er, sobald er in seinem Pa­last angekommen war, Renzolla in die Küche mit ei­nem Dienstmädchen und gab jeder von ihnen ein Bund Flachs mit dem Befehl, es am Ende der Woche gespon­nen zu haben.

Das Mädchen, dem König gehorsam, fing an den Flachs zu hecheln, bereitete ihn, tat ihn auf die Spin­del und arbeitete frisch, sodass sie am Sonnabend abends fertig war. Renzolla, die aber glaubte, sie sei noch immer dieselbe, die sie im Haus der Fee gewesen war, weil sie nicht in den Spiegel gesehen hatte, warf den Flachs aus dem Fenster und sagte: »Das ist wahr­haftig recht hübsch vom König, mir eine solche Beschäf­tigung zu geben! Wenn er Hemden braucht, so kann er sich welche kaufen, und mich nicht für ihn Sklavendienste machen lassen. Er sollte sich erinnern, dass ich ihm sieben Beutel Goldes mitgebracht habe, und dass ich seine Frau und nicht seine Magd bin. Er ist ein rechter Esel, mich so behandeln zu wollen.«

Als nun der Sonntag herankam und sie sah, dass die Magd allen ihren Flachs gesponnen habe, fürchtete sie sich doch, etwas gehechelt zu werden, und ging daher zum Palast der Fee, um dieser ihr Schicksal zu er­zählen.

Die Fee umarmte sie herzlich und schenkte ihr einen großen Beutel voll gesponnenen Flachses, um ihn dem König zu geben und ihm zu zeigen, dass sie eine gute Hausfrau sei. Renzolla nahm den Sack und ging, ohne sich bei ihr zu bedanken, zum Palast des Kö­nigs zurück, sodass die Fee nichts als Steine von dem Boden des undankbaren Mädchens erntete.

Als der König den Flachs in Empfang genommen hatte, gab er ihnen zwei Hunde, einen ihr, den anderen dem Mädchen, mit dem Befehl, die Tiere zu füttern und aufzuziehen. Das Mädchen tat das rechtschaffen und behandelte ihren Hund wie ein Kind.

Aber Renzolla sagte: »Mein Page gab mir den Rat, wenn mau Türken bekommt, so soll man sie hinauswerfen. Bin ich denn dazu da, Hunde zu kämmen und zu dressieren?«

Bei diesen Worten warf sie den Hund aus dem Fenster, was ein ganz anderes Ding war, als wäre er in den Schoß gesprungen.

Nach einigen Monaten fragte der König nach den Hunden. Renzolla roch Unrat und eilte wieder zu der Fee.

Am Schlosstor fand sie aber einen alten Mann, der der Pförtner war und zu ihr sagte: »Wer bist du und was willst du?«

Als sie sich so kurz anreden hörte, erwiderte sie: »Kennst du mich nicht, du Ziegenbart?«

»Reichst du mir das Messer«, versetzte der Alte. »Da folgt ja der Dieb dem Büttel. Lass ab«, sagte der Topf, »du machst mich schmutzig. Wirf dich hin oder du wirst fallen. Ich ein Ziegenbart! Du bist selbst ein Ziegenbart; denn du verdienst das und noch mehr für deine Un­verschämtheit. Warte ein Weilchen, und ich will es dir klarmachen. Du wirst sehen, wohin dein Vornehmtun und deine Schamlosigkeit dich gebracht haben.«

Bei diesen Worten lief er in ein kleines Zimmer, holte einen Spiegel und hielt ihn Renzolla vor das Gesicht, sodass diese, als sie ihr hässliches haariges Antlitz darin erblickte, beinahe vor Schrecken gestorben wäre. Rinaldos Grausen, als er sich in dem bezauberten Schild erblickte, war nichts gegen ihre Verzweiflung, da sie sich so entstellt sah.

Der alte Mann sagte darauf zu ihr: »Du solltest dich erinnern, Renzolla, dass du die Tochter eines Bauern bist und die Fee dich zum Rang einer Königin erhoben hat; aber rohes, ungesittetes, undankbares Ding, hast ihr nicht die geringste Erkenntlichkeit oder Zuneigung dafür be­wiesen. Deshalb nimm und sieh, geh damit fort und komm des Übrigen wegen zurück. Gute Sitten trittst du mit Füßen, jetzt weißt du, was du dafür be­kommen hast; denn durch die Verwünschung der Fee hast du nicht allein ein anderes Gesicht, sondern auch einen anderen Stand bekommen. Willst du aber handeln, wie es sich für einen solchen weißen Bart ge­ziemt, so wirf dich der Fee zu Füßen, zerraufe deinen Bart, zerkratze das Gesicht, zerschlage die Brust und bitte sie um Verzeihung für dein schlechtes Betragen. Sie ist gutherzig und wird Mitleid mit deinem Unglück haben.«

Renzolla, welche einsah, dass er den rechten Schlüssel berührt und den Nagel auf den Kopf getroffen habe, befolgte seinen Rat. Die Fee umarmte und küsste sie und gab ihr ihre ursprüngliche Gestalt wieder. Sie zog ihr darauf ein mit Gold reich besetz­tes Kleid an und brachte sie in einer prächtigen Kutsche, von einer großen Dienerschaft begleitet, wieder zu dem König zurück, der, als er sie so schön und so ge­schmückt sah, sich mehr als je in sie verliebte, sich wegen der Leiden, die sie hatte tragen müssen, aber auch zu­gleich mit dem hässlichen Ziegengesicht, das die Ursache gewesen war, entschuldigte.

So lebte nun Renzolla glücklich, liebte ihren Gatten, ehrte die Fee, und bezeigte sich dankbar gegen den alten Mann, nachdem sie auf ihre Kosten gelernt hatte, dass es immer gut sei, artig zu sein.