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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 4. – 6. Bändchen – Kapitel XV

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Viertes bis sechstes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

XV. Grimaud spricht

Grimaud blieb allein bei dem Henker. Der Wirt rief nach Hilfe, die Frau betete. Nach einem Augenblick schlug der Verwundete die Augen wieder auf.

»Hilfe?«, murmelte er, »Hilfe! Oh, mein Gott, sollte ich nicht einen einzigen Freund finden, der mir leben oder sterben helfen würde!«

Er führte mit großer Anstrengung seine Hand an seine Brust. Seine Hand traf den Griff des Dolches.

»O!«, sagte er wie ein Mensch, der sich eines Umstandes erinnert, und ließ den Arm wieder zurückfallen.

»Habt Mut«, sprach Grimaud, »man ist bereits weggelaufen, um Hilfe zu suchen.«

»Wer seid Ihr?«, fragte der Verwundete und heftete auf Grimaud seine weit aufgerissenen Augen.«

»Ein alter Bekannter«, antwortete Grimaud.

Der Verwundete suchte sich der Züge desjenigen, welcher mit ihm sprach, zu erinnern. »Unter welchen Umständen haben wir uns getroffen?«, fragte er.

»In einer Nacht vor zwanzig Jahren. Monsieur hatte Euch in Bethune geholt und führte Euch nach Armentières.«

»Nun erkenne ich Euch wieder«, versetzte der Henker, »Ihr seid einer von den vier Lakaien.«

»So ist es.«

»Woher kommt Ihr?«

»Ich zog auf dieser Straße und hielt hier an, um mein Pferd zu erfrischen. Man erzählte mir, der Henker von Bethune läge in diesem Haus verwundet, als Ihr zwei Schreie ausstießet. Bei dem Ersten liefen wir herbei, beim Zweiten brachen wir die Tür auf.«

»Und der Mönch«, sprach der Henker, »habt Ihr den Mönch gesehen?«

»Welchen Mönch?«

»Den Mönch, welcher mit mir eingeschlossen war.«

»Nein, er war bereits nicht mehr da. Es scheint, er ist durch dieses Fenster entflohen. Hat er Euch gesehen?«

»Ja«, erwiderte der Henker.

Grimaud machte eine Bewegung, als wollte er sich entfernen.

»Was wollt Ihr tun?«, fragte der Verwundete.

»Man muss ihm nachsetzen.«

»Hütet Euch wohl!«

»Und warum?«

»Er hat sich gerächt und gut daran getan. Nun hoffe ich, Gott wird mir verzeihen, denn die Sühnung ist geschehen.«

»Erklärt Euch deutlicher«, sprach Grimaud.

»Diese Frau, welche ich auf Eurer Messieurs und auf Euer Geheiß tötete …«

»Mylady …«

»Ja, Mylady es ist wahr, so nanntet Ihr sie.«

»Was haben Mylady und der Mönch miteinander gemein?«

»Sie war seine Mutter.«

Grimaud wankte und schaute den Sterbenden mit starrem Auge an. »Seine Mutter!«, wiederholte er.

»Ja, seine Mutter.«

»Er kennt also dieses Geheimnis?«

»Ich hielt ihn für einen Mönch und enthüllte es ihm in der Beichte.«

»Unglücklicher!«, rief Grimaud, dessen Haare schon bei dem Gedanken an die Folgen, welche eine solche Enthüllung haben konnte, sich in Schweiß badeten.

»Unglücklicher! Ihr habt hoffentlich niemand genannt.«

»Ich habe keinen Namen ausgesprochen, denn ich kannte keinen, außer dem Mädchennamen seiner Mutter, und hierauf hat er sie erkannt, aber er weiß, dass sein Oheim unter der Zahl der Richter war.«

Der Verwundete sank erschöpft zurück.

Grimaud wollte ihm Hilfe leisten und streckte seine Hand nach dem Griff des Dolches aus.

»Berührt mich nicht«, sprach der Henker, »wenn man den Dolch heraus zöge, würde ich sterben.«

Grimaud verharrte die Hand ausgestreckt, dann schlug er sich plötzlich vor die Stirne und sagte: »Ah, wenn dieser Mensch erfährt, wer die anderen sind, so muss Monsieur untergehen!«

»Verliert keine Zeit!«, rief der Henker, »benachrichtigt ihn, wenn er noch lebt, benachrichtigt seine Freunde. Glaubt mir, mein Tod wird nicht die Lösung dieses furchtbaren Abenteuers sein.«

»Wohin reiste er?«, fragte Grimaud.

»Nach Paris.«

»Wer hat ihn angehalten?«

»Zwei junge Edelleute, die sich zu der Armee begaben, und von denen der eine, ich hörte seinen Namen von seinem Kameraden aussprechen, Vicomte von Bragelonne heißt.«

»Und dieser junge Mensch hat Euch den Mönch gebracht?«

»Ja.«

Grimaud schlug die Augen zum Himmel auf und sprach: »Es war der Wille Gottes.«

»Sicherlich«, versetzte der Verwundete.

»Ah, das ist furchtbar«, murmelte Grimaud, »und dennoch hatte diese Frau ihr Schicksal verdient. Ist dies nicht mehr Eure Ansicht?«

»Im Augenblick des Sterbens«, antwortete der Henker, »betrachtet man die Verbrechen anderer im Vergleich mit seinen eigenen.«

Er sank erschöpft zurück und schloss die Augen.

Grimaud schwankte zwischen dem Mitleid, das ihm diesen Menschen ohne Hilfe zu lassen verbot, und der Furcht, die ihm sogleich abzureisen und diese Nachricht dem Grafen de la Fère zu überbringen befahl, als er Geräusche im Hausflur hörte und einen Augenblick darauf den Wirt sah, der mit dem Wundarzt, den man gefunden hatte, endlich zurückkehrte.

Mehrere Neugierige folgten.

Das Gerücht von dem seltsamen Abenteuer fing an, sich zu verbreiten.

Der Wundarzt näherte sich dem Sterbenden, welcher ohnmächtig zu sein schien.

»Man muss zuerst das Eisen aus der Brust ziehen«, sagte er und schüttelte auf eine bezeichnende Weise den Kopf.

Grimaud erinnerte sich der Prophezeiung des Verwundeten und wandte die Augen ab.

Der Wundarzt schob das Wams auf die Seite, zerriss das Hemd und entblößte die Brust.

Der Dolch war, wie gesagt, bis an das Stichblatt eingedrungen.

Der Chirurg nahm ihn am Ende des Griffes. Während er ihn an sich zog, öffnete der Verwundete die Augen mit einer furchtbaren Starrheit.

Als die Klinge ganz aus der Wunde gezogen war, drang ein rötlicher Schaum aus dem Mund des Verwundeten hervor; dann in dem Augenblick, wo er atmete, sprang eine Blutwelle aus der Öffnung der Wunde. Mit einem halb erstickten Röcheln heftete der Sterbende einen Blick von seltsamem Ausdruck auf Grimaud und verschied.

Grimaud fasste den mit Blut überzogenen Dolch, welcher im Zimmer lag und bei allen Anwesenden Grauen erregte, machte dem Wirt ein Zeichen, ihm zu folgen, bezahlte die Zeche mit einer seines Herrn würdigen Großmut und stieg wieder zu Pferde.

Grimaud gedachte anfangs geraden Wegs nach Paris zurückzukehren, aber es fiel ihm die Unruhe ein, welche seine verlängerte Abwesenheit bei Raoul verursachen musste. Er erinnerte sich, dass Raoul nur zwei Meilen von dem Ort entfernt war, an welchem er selbst sich befand, dass er in einer Stunde bei ihm sein könnte und zum Hin- und Herreiten und zu einer Erklärung nur einer Stunde bedürfte. Er setzte deshalb sein Pferd in Galopp und stieg zehn Minuten danach im Gekrönten Maulesel, der einzigen Herberge von Mazingarde, ab.

Bei den ersten Worten, die er mit dem Wirt austauschte, erlangte er die Gewissheit, dass er denjenigen, welchen er suchte, eingeholt hatte.

Raoul saß mit dem Grafen von Guiche und seinem Hofmeister bei Tisch, aber das düstere Abenteuer vom Morgen ließ auf den zwei jungen Stirnen eine Traurigkeit zurück, welche das heitere Wesen von Monsieur d’Arminges, der mehr Philosoph war als sie, denn er hatte sich längst an solche Schauspiele gewöhnt, nicht zu zerstreuen vermochte.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Grimaud erschien, bleich, bestaubt, noch bedeckt von dem Blut des unglücklichen Verwundeten.

»Grimaud, mein guter Grimaud, du bist endlich hier? Entschuldigt, Messieurs, es ist kein Diener, sondern ein Freund.«

Er stand auf, lief auf ihn zu und fuhr fort: »Wie geht es dem Monsieur Grafen? Vermisst er mich ein wenig? Hast du ihn seit unserer Trennung gesehen? Aber ich habe dir auch viele Dinge mitzuteilen. Seit drei Tagen sind uns viele Abenteuer begegnet. Doch was hast du? Wie bleich siehst du aus? Blut! Warum dieses Blut?«

»In der Tat, er hat Blut an sich«, sprach der Graf, sich erhebend. »Seid Ihr verwundet, mein Freund?«

»Nein, gnädiger Monsieur«, antwortete Grimaud, »dieses Blut nicht das meine.«

»Wessen denn?«, fragte Raoul.

»Es ist das Blut des Unglücklichen, den Ihr in der Herberge zurückgelassen habt, und der in meinen Armen verschieden ist.«

»Dieser Mensch in deinen Armen! Weißt du, wer er war?«

»Ja«, erwiderte Grimaud.

»Es war der ehemalige Henker von Bethune.«

»Ich weiß es.«

»Du kanntest ihn.«

»Ich kannte ihn.«

»Und er ist tot?«

»Ja«, sprach Grimaud.

Die zwei jungen Leute schauten sich an.

»Was wollt Ihr, Messieurs«, sagte d’Arminges, »es ist das gemeinschaftliche Gesetz, und man ist nicht davon befreit, wenn man Henker war. In dem Augenblick, wo ich seine Wunde gesehen habe, hatte ich eine schlechte Ansicht davon, und Ihr wisst, es war seine eigene Meinung, da er einen Mönch verlangte.«

Bei dem Worte Mönch erbleichte Grimaud.

»Zu Tisch, zu Tisch!«, rief d’Arminges, welcher, wie alle Männer dieser Epoche und besonders seines Alters die Empfindlichkeit zwischen zwei Gängen nicht zuließ.

»Ja, Monsieur, Ihr habt recht«, sprach Raoul. »Vorwärts, Grimaud, lass dir auftragen, bestelle, befiehl, und wenn du ausgeruht hast, sprechen wir miteinander.«

»Nein, Monsieur, nein«, entgegnete Grimaud. »ich kann mich nicht einen Augenblick aufhalten, ich muss sogleich nach Paris zurückehren.«

»Wie! Du kehrst nach Paris zurück? Du täuschst, dich; Olivain geht ab, du bleibst.«

»Olivain bleibt, im Gegenteil, und ich reise; ich bin gerade deshalb gekommen, um es Euch mitzuteilen.«

»Aber warum diese Veränderung?«

»Ich kann es Euch nicht sagen.«

»Erkläre dich!«

»Ich kann mich nicht erklären.«

»Was soll dieser Scherz bedeuten?«

»Der Monsieur Vicomte weiß, dass ich nie scherze.«

»Ja, ich weiß aber auch, da der Monsieur Graf de la Fère gesagt hat, du würdest bei mir bleiben und Olivain wurde nach Paris zurückkehren. Ich werde die Befehle des Monsieur Grafen befolgen.«

»Unter diesen Umständen nicht.«

»Solltest du mir zufälligerweise ungehorsam sein?«

»Ja, gnädigster Monsieur, denn ich muss.«

»Du beharrst also darauf?«

»Ja, ich gehe. Alles Glück, Monsieur Vicomte.«

Grimaud verbeugte sich und wandte sich zur Tür, um wegzugehen; zugleich wütend und beunruhigt, lief ihm Raoul nach, hielt ihn beim Arme und rief: »Grimaud bleibe, ich will es haben.«

»Dann wollt Ihr, dass ich den Monsieur Grafen töten lasse?«, sprach Grimaud.

Grimaud grüßte und schickte sich an, wegzugehen.

»Grimaud, mein Freund«, sagte der Vicomte, »du wirst nicht so weggehen, wirst mich nicht in einer solchen Unruhe lassen. Grimaud, sprich, sprich, in des Himmels Namen!«

Raoul wankte und fiel auf einen Stuhl zurück.

»Ich kann Euch nur eines sagen, gnädiger Monsieur, denn das Geheimnis, welches Ihr wissen wollt, ist nicht das meine. Ihr seid einem Mönche begegnet, nicht wahr?«

»Ja.«

Die zwei jungen Leute schauten sich erschrocken an.

»Ihr habt ihn zu dem Verwundeten geführt?«

»Ja.«

»Ihr habt also Zeit gehabt, ihn zu sehen?«

»Und vielleicht würdet Ihr ihn wiedererkennen, solltet Ihr ihn je treffen?«

»O ja, ich schwöre es.«

»Und ich auch«, sprach von Guiche.

»Nun gut, wenn Ihr ihn je trefft«, sagte Grimaud, »wo es auch sein mag, im freien Feld, in der Straße einer Stadt, in einer Kirche, wo er sein wird und wo Ihr sein werdet, setzt den Fuß auf ihn und zertretet ihn ohne Mitleid, wie Ihr es mit einer Viper, mit einer Schlange, mit einer Natter machen würdet, zertretet ihn und verlasst ihn nicht eher, als bis er tot ist. Solange er lebt, ist auch das Leben von fünf Menschen für mich zweifelhaft.«

Ohne ein Wort beizufügen, benutzte Grimaud das schreckensvolle Erstaunen, in das er diejenigen versetzt hatte, welche ihm zuhörten, um sich eilig zu entfernen.«

»Seht, Graf«, sprach Raoul, sich nach Guiche umwendend, »hatte ich Euch nicht gesagt, dieser Mönch mache den Eindruck einer Schlange auf mich!«

Zwei Minuten danach hörte man auf der Straße den Galopp eines Pferdes. Raoul lief an das Fenster.

Es war Grimaud, welcher wieder den Weg nach Paris einschlug. Er grüßte den Vicomte, den Hut schwingend, und verschwand bald an der Biegung der Straße.

Auf dem Weg dachte Grimaud an zwei Dinge: Erstens, dass ihn sein Pferd bei der Schnelligkeit, mit der er ritt, nicht zehn Meilen bringen würde, zweitens daran, dass er kein Geld hatte.

Aber Grimaud besaß eine umso fruchtbarere Einbildungskraft, je weniger er sprach.

Bei dem ersten Relais, das er traf, verkaufte er sein Pferd. Mit dem Geld für sein Pferd nahm er die Post.