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Neue Gespenster – Nummer 40 – Teil 3

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil

Nummer Vierzig, Teil 3

2. Müssen auch wir uns über etwas wundern, was jenen Augenzeugen wundersam vorkam?

Haben jene Augenzeugen sich auch gewundert, so kann doch niemand so gerade hin verlangen, dass wir das nun auch tun müssen. Unser Landmann wundert sich über das Lesen und Reden einer ihm fremden Sprache und staunt den Sohn seines Predigers oder Kantors mächtig darüber an. Wird dieser darum schon die Bewunderung aller und aller Staunen erregen müssen?

Ganz anders wäre der Fall, wenn der Jüngling die Bewunderung eines großen Sprachkenners rege machte.

Produkte des Auslandes werden von vielen angestaunt, sind sie darum auch Wunder für den Kenner jener Gegenden?

Diese Beispiele beweisen zur Genüge, dass wir bei der Annahme der Wunder uns erst hinlänglich über Einsichten und Kultur der Personen unterrichten müssen, deren Wunder wir vor uns haben, damit wir ihr Wundern gehörig zu würdigen imstande sind. Hier würden wir um die Menge oder Mannigfaltigkeit ihrer Kenntnisse uns zu bekümmern haben, ausmitteln müssen, welche Gattungen derselben im Umlauf waren, welche etwa das Eigentum einzelner, weniger seltener sein möchten und welche im Volk ganz vermisst werden. Unstreitig werden diese Untersuchungen einen Teil des Fremden, Unbekannten oder Seltenen entwickeln, worüber man sich wundern musste, weil man es gar nicht oder nur selten sah.

Einen anderen Teil unserer Aufmerksamkeit werden wir auf den Grad oder die Höhe richten müssen, welche jede Art Kenntnisse unter dem Wunder sehenden Volk erreicht hat. Immer wird der gemeine Rechner die Operationen des Algebraikers, der gewöhnliche Künstler die Erfindungen des gelehrten Kunstfreundes anstaunen. Ein vorgefundener geringer Grad irgendeiner Kenntnis lässt daher sicher auf Bewunderer des höheren, im Volk seltenen Grades schließen. So verehrten rohe Nationen europäische Ärzte als Wundertäter, die bei uns vielleicht nur Stümper waren, obwohl auch unter jenen Völkern einige Kenntnis der Arzneikunde ist.

Besonders wichtig werden diese Untersuchungen dadurch, dass die Erklärung eines Vorfalls oder die Vermutungen über ihn, ganz vom Grad und der Art der Kenntnisse abhing. Der Mensch will sich nun einmal nichts unerklärt lassen, er will durchaus irgendeinen Grund oder eine Ursache einer Begebenheit wissen. Je weniger Kultur er besitzt, desto näher sucht er diese erklärende Ursache und ist ganz gewöhnlich zufrieden, zwei Dinge zur gleicher Zeit oder an einem Ort bemerkt zu haben, um das eine als Ursache, das andere als Folge anzusehen. Eine Menge Kenntnisse und ein hoher Grad einzelner derselben, wird erfordert, ein Volk an Gesetze der Natur und an das Aussuchen derselben in einiger Ferne zu gewöhnen. Eine Krankheit und ein altes Weib in einem Ort reichte noch vor wenig Jahren völlig hin, die Entstehung der Krankheit dem alten Weib beizumessen. Ließ sich ein Komet kurz vor erlittenem Landesunglück sehen, so war er die Ursache daran – man beruhigt sich bei einer solchen gefundenen Ursache, und kaum wagt es der Gelehrte, einen Schritt weiterzugehen.

Sonnenklar folgt hieraus, dass ein rohes, unwissendes Volk die Begebenheiten, welche es anstaunt, fast immer naturwidrig erklären wird, weil es naturgemäße Erklärungen nicht kennt und nicht aufzusuchen imstande ist. Es erlaubt sich einen, nur seiner Unwissenheit zu verzeihenden Schluss: »Die wirkende Ursache muss nahe sein. Ich habe sie in der Person oder der Sache gefunden. Die Kraft, wodurch gewirkt wird, ist größer als die meine; folglich eine mehr als menschliche, eine geheime, eine Zauber- oder Wunderkraft.«

Vom Religionssystem des rohen Volks hängt es nun ab, wie diese Vermutung sich weiter ausbilden soll. Hat es außer seiner Gottheit keine mächtige Wesen, so wird Gottheit und Zauber die Ursache der Wunder sein müssen oder vielmehr die Kraft zur Bewirkung derselben geben; hat es außer der Gottheit noch andere mächtige Wesen, so werden auch sie als Urheber der Kraft vermutet werden und man wird Gottheit, Zauber, Engel und Teufel, Luftgeister usw. bei der Wundererklärung gebrauchen. Diese Erklärungsart wird uns nun auch einen anderen Begriff von Wundern aufdringen wollen, der aber nicht ein der Sache gemäßer Begriff sein kann, sondern nur der Vorstellung angemessen, welche jene Leute sich von Wundern machen. Diese Vorstellung sollen wir doch aber nicht aufs Geratewohl adoptieren?