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Der Hexer Band 10

Robert Craven (Wolfgang Hohlbein)
Der Hexer, Band 10
Wenn der Stahlwolf erwacht

Horror, Grusel, Heftroman, Bastei, Bergisch-Gladbach, 20. August 1985, 64 Seiten, 1,70 DM, Titelbild: Tony Roberts

Der Mann war lautlos aus den Schatten einer Seitengasse getreten, in denen er gelauert und die Straße beobachtet haben musste. Jetzt stand er reglos da, wie eine grässliche Statue, die nur zu dem Zweck erschaffen worden war, jedes menschliche Leben, jedes menschliche Gefühl und jede Ähnlichkeit mit dem Wesen, nach dessen Vorbild sie gefertigt worden war, zu verhöhnen. Von den Füßen aufwärts bis zu den Schultern war er ein ganz normaler Mensch; ein massiger Mann mittleren Alters, in einfache, zerschlissene Hosen und eine schwarze Arbeitsjacke gekleidet.

Doch auf den breiten, leicht vorgebeugten Schultern ruhte der spitze, von drahtigem braunen Fell bedeckte Schädel einer Ratte!

Leseprobe

Die Welt des Hexers
Was im letzten Band geschah:

London im Jahre 1885. Robert Craven, der HEXER, nimmt zusammen mit seinem Freund und Mentor Howard Lovecraft an einem prunkvollen Empfang eines reichen Lords teil. Er erklärt sich bereit, bei einer Séance – im engsten Kreise – als Medium zur Verfügung zu stehen. Während der Beschwörung, die Robert mehr aus Gefälligkeit durchführt, als dass er wirklich Kontakt zu der Welt der Toten aufnehmen wollte, geschieht etwas Unheimliches – plötzlich drängt sich eine schemenhafte Geisterscheinung in den Zirkel: Cindy, die Nichte der Lady Audley McPhaerson, einer schwergewichtigen alten Adelsdame.

Lady Audley bittet Robert um Beistand; sie ist davon überzeugt, dass Cindy Hilfe braucht. Howard und Robert stehen der Sache etwas skeptisch gegenüber – schließlich ist Cindy seit über zwanzig Jahren tot… Sie ahnen noch nichts von den unheimlichen Vorgängen auf dem St. Aimes-Friedhof außerhalb der Stadt. Dort nämlich erwacht der Körper eines toten Mädchens zu neuem, unheiligem Leben und schart eine gewaltige Rattenarmee um sich. Es ist Cindy, von einem fremden Geist beseelt. Ihre Ratten schwärmen aus, um einen schrecklichen Keim zu säen: Wer immer ihnen zum Opfer fällt, wird zum willenlosen Sklaven. In seinem Haus macht Robert derweil eine grausige Entdeckung – aus dem Tor der GROßEN ALTEN, das in der Standuhr seines Arbeitszimmers verborgen liegt, strömen Hunderte missgestalter Ratten und sterben, noch bevor sie ihn angreifen können. Wenn er auch noch nicht die Zusammenhänge mit der Séance und Cindys vermeintlichem Hilferuf erkennt, so wird Robert doch klar, dass nach der Zerstörung des Kristallhirns, dem Schlüssel zu den Toren, dieses Transportsystem der ALTEN nun fehlerhaft arbeitet. Es zu benutzen, wäre Selbstmord. Lady Audley überzeugt ihn und Howard davon, Cindys Grab aufzusuchen, um ihrem Erscheinen auf den Grund zu gehen. Doch auf dem Weg nach St. Aimes schlägt die Rattenarmee zu! Tausende der Tiere überfallen die Kutsche. Und während die drei Freunde ums nackte Überleben kämpfen, wird Lady McPhaerson von hundsgroßen Ratten entführt …

 

***

 

Sekundenlang stand ich wie erstarrt da, gleichermaßen gelähmt durch den entsetzlichen Anblick wie auch auf eine Art fasziniert. Für eine Sekunde stritten zwei grundverschiedene Gefühle in meiner Brust – auf der einen Seite das nackte Entsetzen, mit dem mich der Anblick des Wesens erfüllte; auf der anderen eine absurde, fast wissenschaftliche Neugier, die beinahe stärker war als die Furcht und der Wunsch, herumzufahren und zu flüchten.

Plötzlich hob der Rattenköpfige die Hand und trat auf den zerborstenen Wagen und mich zu; im gleichen Augenblick fiel die Lähmung wie ein hastig abgestreifter Mantel von mir ab. Ich prallte zurück, stieß einen krächzenden, ungläubigen Schrei aus, stolperte und fiel der Länge nach hin. Eine Ratte schoss quiekend davon, als ich sie unter mir zu begraben drohte – nicht ohne mich im Vorbeigehen noch einmal kräftig in die Hand zu beißen – und der Mann mit dem Rattenkopf stieß einen leisen kichernden Laut aus.

Abermals kam er näher. Der Blick seiner kleinen, mattschwarzen Rattenaugen schien sich an meinem Gesicht festzusaugen; gleichzeitig vollführten seine Hände – auch sie waren, wie ich jetzt bemerkte, nur noch beinahe menschlich – kleine, kompliziert anmutende Gesten. Ich hörte einen Laut, den ich erst nach Sekunden als den Schrei einer menschlichen Stimme identifizierte, gefolgt von einem fürchterlichen Scharren und Kratzen, dann einem ekelhaften Rascheln, als rieben sich zahllose kleine, weiche Körper aneinander. Hastig wandte ich den Kopf, um nach der Ursache dieses bedrohlichen Geräusches zu sehen.

Besser gesagt – ich wollte es.

Ich führte die Bewegung nicht einmal halb zu Ende.

Es war nicht so, dass mir meine Muskeln nicht mehr gehorchten oder irgendetwas sie lähmte; vielmehr hatte ich für einen kurzen, schrecklichen Moment das Gefühl, als ob hinter meiner Stirn ein zweiter, fremder Wille sei, kaum weniger stark als mein eigener und von düsterer, animalischer Art.

Zitternd und gegen meinen Willen drehte ich den Kopf wieder zurück, stemmte mich halb in die Höhe und starrte den Rattenmann an. Etwas schien mit seinem Gesicht zu passieren – vielleicht auch mit meinen Augen, das wusste ich nicht – aber plötzlich schienen seine Züge zu verschwimmen, sich aufzulösen wie eine Maske aus weichem Wachs, irreal und unwichtig zu werden. Alles, was noch Bestand in dieser schrecklichen Persiflage eines tierischen Antlitzes hatte, waren die Augen. Augen, die größer und größer zu werden schienen, grundlosen schwarzen Schächten gleich, in denen mein Wille und meine Lebenskraft versickerten wie Wasser in der Wüste.

Verzweifelt versuchte ich mich gegen den furchtbaren Einfluss zu wehren. Mit einem kleinen, noch klar gebliebenen Teil meines Denkens begriff ich, was mir geschah – der Rattenmann übernahm meinen Willen, machte mich mit der puren Kraft seines Geistes zu einem hilflosen Etwas. Es war nichts anderes als das, was ich selbst schon viele Male zuvor bei anderen getan hatte; und doch vollkommen anders. Denn während ich diese furchtbare Gabe, die ich von meinem Vater geerbt hatte, nur benutzte, wenn ich selbst in Lebensgefahr war und mich verteidigen musste, würde er mich töten.

Der Gedanke gab mir noch einmal neue Kraft. Mit aller Macht stemmte ich mich gegen den geistigen Druck, und für Sekunden schien es beinahe, als hätte ich Erfolg: Sein Gesicht hörte auf, vor mir wie eine Spiegelung im kochenden Wasser zu zucken, und seine Augen schienen zu flackern; der mörderische Sog ließ nach, und ich schöpfte neue Hoffnung.

Irgendetwas berührte meinen Fuß, aber ich ignorierte das Gefühl, torkelte einen Schritt auf den Rattenmann zu und hob abwehrend die Hände vor das Gesicht. Erneut zupfte etwas an meinem Fuß, dann gruben sich messerscharfe Krallen in meine Haut, und etwas Kleines, Pelziges begann in meinem Hosenbein nach oben zu kriechen.

Sekunden später schien sich eine Speerspitze in meine Haut zu bohren, als die Ratte ihr Ziel erreichte und ihre Zähne mit aller Kraft in meinen Oberschenkel grub. Ich brüllte vor Schmerz, krümmte mich und fiel auf die Knie. Verzweifelt hämmerte ich mit den Fäusten auf die zuckende Ausbeulung in meinem Hosenbein, schrie erneut, als sich die Zähne des Nagers dadurch noch tiefer in mein Fleisch gruben und schlug noch einmal zu. Diesmal traf ich besser; die Ratte zuckte noch einmal, verlor plötzlich ihren Halt und glitt an meinem Bein hinab.

Und trotzdem hatte sie ihr Ziel erreicht.

Ich war halb wahnsinnig vor Schmerz und Ekel. Als ich diesmal den Blick hob und den schrecklichen schwarzen Augen des Rattenmannes begegnete, hatte ich seinem Willen nichts mehr entgegenzusetzen.

Es war nicht einmal mehr ein Kampf. Er fegte meinen Willen beiseite wie ein Riese ein Spielzeugschwert, kam langsam weiter auf mich zu und hob die Hände. Ich sah, dass seine Fingernägel zu langen, mörderischen Krallen geworden waren. Ein schreckliches, gieriges Hecheln drang aus seinem halb geöffneten Maul.

Noch einmal versuchte ich, mich mit meinen magischen Kräften gegen ihn zur Wehr zu setzen, und wieder spürte ich, wie mein Angriff verpuffte wie ein Wassertropfen, der auf eine glühende Herdplatte fiel. Resignierend und vollkommen erschöpft ließ ich mich zurücksinken, starrte dem Rattenmann entgegen und wartete auf den Tod.

Aber der tödliche Hieb kam nicht.

Einen halben Schritt vor mir blieb der Unheimliche stehen, starrte aus seinen grundlosen Augen auf mich herab und berührte mich schließlich beinahe sanft mit einer seiner Krallenhände an der Stirn. Und …

Es war eine Welt unter einer schwarzen Sonne. Es gab kein Licht, sondern nur eine ungesunde, graue Helligkeit, die aus dem Nirgendwo kam und sich matt auf den schwarzen Wellen des erstarrten teerigen Sumpfes spiegelte, der die Oberfläche dieser absurden Welt bedeckte. Hier und da durchbrachen Dinge den gewellten Boden, schwarze Strünke wie verbranntes Buschwerk, die aber lebten und sich wie in einem unfühlbaren Wind wiegten und wanden, peitschende Bündel grauschwarzer narbiger Tentakeln.

Da war das Mädchen. Sie war schlank und schmalschulterig und hatte dunkles Haar und große, traurige Augen. Ihre Haut wirkte in dieser bizarren Umgebung blass und leblos, und ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam.

Sie rannte. Sie lief wie von Sinnen, ohne von der Stelle zu kommen, denn wie ein grausames lebendes Etwas, das sich angeschickt hatte, sie in ihrer Qual noch zu verspotten, bewegte sich der Boden im gleichen Maße zurück, in dem sie lief. Träge stiegen gewaltige Blasen aus dem nur scheinbar festen Schwarz der Erde und zerplatzten, und immer wieder stießen Büschel vibrierender haariger Tentakeln nach dem Mädchen, griffen nach ihr und zuckten im letzten Moment zurück, als scheuten sie aus irgendeinem Grund davor zurück, sie zu berühren. Das Licht flackerte, und am Himmel erschien ein absurdes aufgedunsenes Etwas, das unmöglich eine Sonne sein konnte und ein bleiches, krankmachendes Schlangenlicht verströmte.

Das Mädchen blieb stehen. Wieder zuckte der Boden wie ein lebendes Wiesen und erbrach Tentakeln und absurde Dinge aus lebendigem blasigem Schleim, aber diesmal zeigte sie keine Furcht, sondern blickte sich mit einer sonderbaren, fast unschuldigen Neugier um. Dicht hinter ihr brach der Boden auf, und aus dem Riss, der pulsierte und schwarze Flüssigkeit absonderte, stieg ein unförmiger Klumpen schwarzschillernder Materie, wand und bog und verzerrte sich und wuchs zu einem Etwas, das auf furchtbare Weise an eine Ziege erinnerte und gleichzeitig ganz anders war; nicht von dieser Welt, vielleicht nicht einmal aus dem Kosmos.

Das Mädchen betrachtete das Tier einen Moment lang interessiert und drehte sich weiter herum. Schließlich blieb ihr Blick auf mir haften, und obwohl ich mir der Tatsache vollkommen bewusst war, dass dies alles nicht real, sondern nur eine Art Vision sein konnte, wusste ich doch mit der gleichen Sicherheit, dass sie mich erkannte.

Dann begann sie zu reden.

»Dies ist die letzte Warnung, Sohn des Hexers«, sagte sie. Ihre Stimme klang angenehm und dunkel, genauso, wie ich mir die Stimme eines Mädchens ihres Aussehen vorgestellt hatte, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass dies genau der Grund für ihr Timbre war: Nichts in diesem bizarren Wachtraum war real. Es waren meine eigenen Ängste und Wunschträume, die die geistigen Kräfte des Rattenmannes Gestalt werden ließen.

»Die letzte Warnung«, sagte sie noch einmal und mit großem Ernst. »Was geschehen muss, wird geschehen, und es liegt nicht in deiner Macht, irgendetwas am vorbestimmten Lauf der Dinge zu ändern, Sohn des Hexers. Wisse, dass die Zeit herannaht, da ER, DESSEN NAMEN MAN NICHT AUSSPRECHEN SOLL, erwacht, und wisse, dass wir, die ihm dienen, DAS TIER erwecken werden. Und wisse, dass es nicht die Sache der Menschen ist, dies zu ändern.«

Ich wollte eine Frage stellen, aber ich konnte es nicht, denn ich war – obgleich die Hauptperson dieser albtraumigen Szene – so doch nicht mehr als ein unbeteiligter Zuschauer, der hören und sehen konnte; mehr nicht. Trotzdem schien das Mädchen zu spüren, was in mir vorging, denn plötzlich lächelte es; wenn auch nur knapp und eher mitleidig.

»Aber wisse auch«, fuhr es fort, »dass es nicht in unserem Interesse liegt, dir oder irgendeinem anderen Menschen Schaden zuzufügen. Deshalb geh. Geh und sei Mensch und kümmere dich um die Dinge der Menschen, und dir wird kein Leid geschehen.«

Damit wandte sie sich um und ging. Der Boden zuckte und warf Wellen, wo ihre Füße den erstarrten schwarzen Sumpf berührten. Dann begannen die Dünenlandschaft und die furchtbare krankmachende Sonne am Himmel zu verblassen, und  – ich fand mich unversehens in der Wirklichkeit zurück, halb über dem zertrümmerten Wagen zusammengesunken und in den Klauen des schrecklichen Ungeheuers.

Mit einem Schrei bäumte ich mich auf, sprengte seinen Griff und schlug ihm mit aller Macht die Faust ins Gesicht. Der Rattenmann stieß ein pfeifendes Keuchen aus, torkelte zurück und brach in die Knie. Langsam kippte er zur Seite, verdrehte die Augen und schlug rücklings auf dem harten Kopfsteinpflaster auf, wobei sein schwarzer Helm herabfiel und über die Straße kollerte.

Verstört starrte ich die sonderbare Kopfbedeckung mit den drei kleinen, blitzenden Messingknöpfen an. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass Rattenmänner im allgemeinen keine schwarzen Hüte trugen, sondern diese Art von Kopfschmuck eher von den Londoner Bobbys bevorzugt wurde.

Denn niemand anders hatte ich niedergeschlagen.

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