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Aus dem Wigwam – Die kleine weiße Taube

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Die kleine weiße Taube

er Große Geist, der wohl weiß, dass die Unversöhnlichkeit seiner roten Kinder das größte Hindernis ist, sie später im Land der Seelen beisammen wohnen zu lassen, wies einem jeden Stamm eine besondere Gegend der glück­lichen Jagdgründe an. So wurde denn auch für die Cree, die mit den anderen Nationen in beständigem Zwist lebten, ein eigener Platz reserviert.

Falkenfuß, die schönste Frau jenes Stammes, starb plötzlich und wurde in ihren besten Kleidern und kostbarstem Schmucke begraben. Auch gab man ihr alle ihre häuslichen Geräte und sonstige Sachen, die sie sehr schätzte, mit. Ihr Kind, das sie kurz vorher geboren hatte, wurde neben einem belebten Fußpfad begraben, sodass vielleicht eine vorbeigehende Frau seine Seele mitnehmen und sie wieder ins Leben zurückführen konnte. Als nach mehreren Tagen das all­gemeine Wehklagen verstummte, sah man zwei wunderschöne Tauben, eine große und eine kleine, auf dem Wigwam des Witwers sitzen. Da nun den Cree früher von ihren Vorvätern erzählt worden war, dass die Seelen nach ihrem Eintritt in das Land des Glücks in Tauben verwandelt wurden, so riefen sie alle aus: »Sie sind wieder da! Der Falkenfuß nebst dem kleinen Kind sind zurückgekehrt! Das Kind hat aus Liebe zu seiner Mutter verschmäht«, so fuhren sie fort, »wieder geboren zu werden und bringt uns nun Nachricht vom Paradies. Nun werden wir endlich erfahren, wie weit es nach dem Cheke Chekekame ist und ob der Reisende Lebensmittel und Waffen mitnehmen muss. Wir werden nun hören, ob die Seele des Kleinen Wurmes, der von den Kupferminenindianern gefangen und auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde, noch den Quälereien böser Geister, die all diejenigen, welche den Feuertod er­leiden, ausstehen müssen, ausgesetzt ist, und ob der Große Hund noch den Unwürdigen den Eingang zum Paradies verwehrt.«

Danach liefen sie durch das ganze Dorf und riefen durch ihr Jauchzen und Singen alle Bewohner zur Bewunderung der beiden Tauben herbei.

Es waren wunderschöne Vögel, Glück und Zufriedenheit leuchtete aus ihren sanften Augen. Auch der trauernde Krieger kam herbei und wurde von ihnen mit freudigem Flügelschlag bewillkommt.

Dann flog die Seele des Falkenfußes auf seine rechte Schulter und sprach: »Ich bin eine der Seelen des Falkenfußes und die kleine Taube neben mir ist mein Kind. Der Meister des Lebens hat jedem zwei Seelen gegeben: eine, welche der Atem ist, geht zuweilen in einen anderen Körper über; besonders ist dies den Seelen der kleinen Kinder, die noch nichts vom Leben gesehen haben, gestattet. Sobald der Atem den kranken Körper verlässt, geht die andere ins glückliche Jenseits ein. Die Reise dahin dauert mehrere Monate und ist mit vielen Gefahren verknüpft. Zuerst kommt sie zur Stelle der Qual, an welcher hauptsächlich diejenige, welche in Feindeshand fiel und verbrannt wurde, Halt machen muss. Dann hat sie einen Fluss zu überschreiten, dessen gefährliche Stellen schon viele verschlungen haben. Und danach gelangt sie ans Ufer eines anderen Stromes, wo ihr ein wütender Hund die Überfahrt verwehrt. Die Seelen, deren gute Taten die schlechten aufwiegen, werden vom Großen Geist unterstützt, den Hund zu überwältigen; die schlechten Seelen aber werden von ihm zerrissen. Das nächste gefahrbringende Land ist der Wohnplatz der Wolf-, Bären- und Fischgeister, die sich den wandernden Seelen überall in den Weg stellen. Doch sie erschrecken nur, da die Zähne und Krallen derselben nur Schatten sind. Das Land der Tierseelen hat seine Freuden und Leiden. Der Bär kann an seinen Klauen saugen, solange er will, und die Schnecke ihre Fühlhörner so lang ausstrecken, wie sie gewachsen sind. Zuletzt erreicht die Seele die Gegend, die für ihren ewigen Wohnsitz bestimmt ist. Glück und Ruhe warten des Guten; Arbeit und Elend des Schlechten. Klarer Himmel, ewiger Frühling und schmackhafte Nahrungsmittel erfreuen den, der seiner Pflicht nachkam; aber Stürme, Hunger, Durst und Kälte sind das Los derer, die den Willen des Großen Geistes unbeachtet ließen.

Männer und Frauen meiner Nation! Es liegt in eurer Hand, euch ewige Glückseligkeit zu sichern. Jäger, fürchte der Bären nicht und sei fleißig! Krieger, zeige deinem Feind nicht den Rücken, und solltest du in Gefangenschaft fallen, so ertrage die Leiden derselben und stimme auf dem Scheiterhaufen ein lautes Sterbelied an! Und du, mein geliebter Gatte, wirst nur noch wenige Monate bei deinem Stamm verweilen und dich dann mit der Seele deines geliebten Weibes und Kindes vereinen. Bis dahin lebe wohl!«

Danach wurden beide Tauben vom Atem des Großen Geistes wieder in das Land des ewigen Glückes geführt.

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