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Lars Winter – Wellenwut

Wellenwut

Der Autor Lars Winter wurde 1958 in Kassel geboren, kam über Henry Slezar, Cornell Woolrich und Agatha Christie früh mit Kriminalgeschichten in Berührung. Er schreibt Kriminalromane, Kurzgeschichten, Kinder- und Jugendbücher und betextet deutschsprachige Rock- und Popmusik. In den wilden Siebzigern hat er Lyrik geschrieben, erotische Kurzgeschichten verfasst und versucht mit allen Sinnen ein Thema zu erfassen.

Er ist Vertriebs- und Marketingleiter, verheiratet, hat drei Kinder und wohnt in einer alten Villa in Deutschlands Provence.

Das Buch

Lars Winter
Wellenwut
Der fünfte Fall des außergewöhnlichen Ermittlerduos

Kriminalroman, gebunden, Wind und Sterne Verlag, Odernheim, März 2018, 360 Seiten, 16,90 Euro, ISBN: 9783946186465, Titel – und Innenillustrationen: Wolfgang Keller art@w-keller-design.de

Kurzinhalt:
Für die einen sind es die wichtigsten Wochen des Jahres – andere kommen auf ihrer Urlaubsreise ums Leben. Die 200 Passagiere der Commedia freuen sich auf Sternekoch-Menüs, außergewöhnliche Landausflüge, auf Wellness und interessante Menschen. Aber auf dieser Reise passieren merkwürdige Dinge an Bord des modernen Flusskreuzfahrtschiffes, das auf dem Rhein zwischen Amsterdam und Basel unterwegs ist.

Kabinen werden unter Wasser gesetzt, Feuerlöschschaum verwandelt das Promenadendeck in eine Schneelandschaft und im Swimmingpool tummeln sich Fische mit rasiermesserscharfen Zähnen. Als dann auch noch einer der weiblichen Gäste unter mysteriösen Umständen im Spabereich des Schiffes zu Tode kommt, steht für alle fest, dass diese Fahrt unter keinem guten Stern steht.

Norden und Pfarrer Klinger haben alle Hände voll zu tun, um den Täter an Bord zu entlarven – und sie haben nur wenige Tage Zeit dafür.

In ihrem fünften Fall bekommen es der Künstler und der Pfarrer mit einem besonders heimtückischen Gegner zu tun.

Leseprobe

Kapitel 01

1. Tag | Köln – Amsterdam (Nachtfahrt)

Das Schiff wirkte wie die kleine Schwester eines der imposanten Kreuzfahrtschiffe, die zwischen dem Mittelmeer und der Karibik unterwegs waren, und wie man sie aus den Reisekatalogen und vom Fernsehen her kannte.

Seit 8 Uhr morgens trafen die Gäste der Commedia am Schiffsanleger ein. Bis Mittag würden es an die 200 sein, die mit ihren Koffern und Trolleys über die schmale Brücke an Bord gingen, sich an der Rezeption anmeldeten und anschließend ihre Kabinen bezogen.

Die Stimmung unter den Passagieren erinnerte an die Aufregung am Morgen vor einer Geburtstagsparty, kombiniert mit der Vorfreude aufs Geschenkeauspacken.

Hatte man auch an alles gedacht? Würde das Essen wirklich so gut sein, wie es einem die Hochglanzprospekte versprachen? Konnte man den Wetterprognosen vertrauen und hatte man das Glück nur nette Menschen zu treffen?

Der wolkenlose Himmel über der Domstadt, das modern wirkende Schiff und die freundlichen Gesichter der Reederei-Mitarbeiter waren schon einmal ein guter Anfang.

Gegen 15 Uhr sollte die Reise beginnen. Von da an gab der Rhein die Strecke vor sowie die Schiffsmaschinen die Geschwindigkeit.

Je näher der Abfahrtstermin kam, desto mehr Menschen drängten sich draußen auf dem Promenadendeck und desto weniger freie Plätze gab es drinnen im Restaurant vor den Panoramafenstern.

Ein Teil der Gäste beobachtete neugierig, was an Land passierte, ein anderer die Mitreisenden.

 

Kapitel 02

  1. Tag | Amsterdam, Niederlande

»Sehen Sie nur diese Farbe, diese kraftvollen Striche, dieses Endgültige in der Aussage. Da bleibt nichts dem Zufall überlassen.«

Norden konnte sich kaum bremsen, so purzelten die Worte aus ihm heraus. Breit grinsend stand Pfarrer Klinger neben seinem Freund und beobachtete die Szene.

»Der Mann macht nur seinen Job«, versuchte er Norden zu besänftigen.

»Ja, und wie er den macht. Jemand der in solch einem Museum arbeitet, hat auch die Funktion eines Kunst-Botschafters. Auch wenn er nur für die Tickets zuständig ist, ist er trotzdem sozusagen eine lebendige Visitenkarte für den Laden hier. Und was macht dieser Mensch? Nimmt einem jede Vorfreude auf dieses fantastische Museum, diese einmaligen Bilder und auf die wunderschöne Stadt. Und warum tut er das? Nur weil wir ein paar Minuten zu spät sind. Anstatt ein Auge zuzudrücken, nimmt er seinen roten Filzstift und entwertet unsere Eintrittskarten mit monströsen Strichen.«

»Fast zwei Stunden«, meldete sich eine ungerührt klingende Stimme zu Wort.

»Was?«

»Sie haben Karten für 10 Uhr reserviert und jetzt ist es Viertel vor zwölf«, wiederholte der Museumsangestellte des Van Gogh Museums noch einmal den Sachverhalt.

»Na, und wenn schon. Wir haben via Internet gebucht, damit es schneller geht und wir uns nicht anstellen müssen. Hier sind wir also – etwas verspätet, aber dafür sind wir echte Kunstkenner. Also geben Sie Ihrem holländischen Beamtenherz einen Ruck und lassen Sie uns durch.«

»Meinem deutschen Beamtenherz, wennschon, dennschon«, stellte der Mann richtig. »Ich wohne zwar seit über zehn Jahren in Amsterdam, aber geboren wurde ich in der Eifel.«

»Umso besser. Dann drücken Sie bitte für zwei Landsleute Ihre Augen zu. Einverstanden?«

»Ik kan nit verstau.« Achselzuckend wandte sich der Mann ab und kontrollierte die Karten der nächsten Museumsbesucher, bevor er denen »goede dag« und »veelplezier« wünschte.

»Kommen Sie.« Der Pfarrer zog Norden von diesem Teil des Eingangs weg, hin zu den normalen Kassenschaltern. »Stellen wir uns halt in die Schlange und kaufen die Karten noch einmal. Jetzt aber richtig schön altmodisch. Anstehen, mit Bargeld zahlen und einer Riesenportion Vorfreude.«

»Sie wissen schon, dass ich am liebsten sofort gehen würde? Aber Sie haben recht. Van Gogh ist unser aller Meister und es wäre eine Todsünde in Amsterdam zu sein, ohne seine Bilder gesehen zu haben – und wenn ich dreimal 17 Euro dafür zahlen muss.« Die letzten Worte hatte Norden so leise gesagt, dass sie der Pfarrer nicht hören konnte.

Während am Schalter mit den vorab gekauften Karten zügig ein Besucher nach dem anderen ins Museumsinnere gelangte, schien sich ihre Schlange nicht von der Stelle zu bewegen.

»Wir müssen nur etwas Geduld haben. Das ist jetzt eine gute Gelegenheit, um über unsere Aufgaben an Bord der Commedia zu reden. Sie haben mir zwar letzte Woche schon einiges am Telefon erklärt, aber manches habe ich offen gesagt nicht so recht verstanden.«

»Und Hochwürden haben trotzdem, ohne zu zögern, zugesagt?«

»Da können Sie einmal sehen, wie weit mein Gottvertrauen geht. Außerdem hatte ich noch zwei Wochen Resturlaub und eine Flusskreuzfahrt habe ich bisher nie gemacht. Sie wissen doch, dass ich neugierig bin und außerdem wollte ich schon immer mal einen Schauspiel-Workshop leiten. Warum also nicht auch auf einem Kreuzfahrtschiff? Mal sehen, welche Übungen von unserer Laienspieltruppe der Kirchengemeinde ich einbringen kann – und welche Eindrücke ich mitnehme.«

»Die Kabine und das Essen an Bord sind schon mal großartig und auf der Anmeldeliste meines Kreativkurses stehen immerhin schon sieben Namen«, brachte Norden seine eigenen Gedanken dazu auf den Punkt. »Je besser unsere Tarnung ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass wir meinem Schulfreund helfen können. Peter Römhild hat selten so besorgt geklungen. Im Internat war er eher der intelligente Pausenclown mit reichlich Geld und morbiden Ideen, der sich alles erlauben durfte.«

»Klingt nicht gerade sympathisch. Und so jemandem helfen wir?« Der Pfarrer schien irritiert.

»So schlimm ist er nun auch wieder nicht. Wenn alles gut geht, werden Sie ihn in Basel kennenlernen. Außerdem scheint er wirklich in Schwierigkeiten zu stecken. Jemand sabotiert seine Schiffsreisen – und wir sollen herausbekommen, wer.«

»Hat er einen Verdacht?«, fragte der Pfarrer.

»Wenn ja, wollte er es mir nicht sagen. Aber das ist wahrscheinlich auch besser. So sind wir objektiver und haben keine Vorurteile. Irgendwie freue ich mich sogar auf dieses Abenteuer.« Norden trat von einem Fuß auf den anderen. »Das heißt, wenn wir es schaffen bis Mitternacht wieder an Bord zu kommen. Denn dann legt die Commedia weder ab – egal ob mit oder ohne uns.«

Der Pfarrer nickte. »Dann werden wir Glück haben. Wir sind mindestens schon wieder einen Meter vorangekommen.«

 

Kapitel 03

3. Tag | Nijmegen, Niederlande

Bereits am ersten Abend an Bord der Commedia hatte er den richtigen Platz gefunden, an dem er die Leiche des jungen Mannes verstecken würde.

Nachdem die letzten Gäste schon vor Stunden die Lord Nelson-Bar verlassen hatten, schliefen sie jetzt längst tief und fest in ihren Luxuskabinen.

Während draußen der Mond den Fluss mit seinem silbernen Licht in eine riesige Projektionsfläche verwandelte, war es in der Piano-Bar dunkel. Wenigstens was die dem Ufer zugewandte Seite betraf. Entlang der Panoramafenster war das anders. Als hätte jemand literweise Quecksilber ausgeschüttet, reflektierten die polierten Mahagoni- Oberflächen jeden noch so schwachen Lichtstrahl, als wären sie nur dafür geschaffen worden. Der Mann in dem Ledersessel hob seine Hand und spielte mit dem kalten Licht auf seiner Haut. Auf dem Tisch ihm gegenüber lag das bleiche Gesicht des jungen Stewards. Während die Uniform und sein Körper weitestgehend von der Dunkelheit verhüllt wurden, beleuchtete der Mond sein Gesicht. Ein dünner Blutfaden lief ihm aus der Nase und sammelte sich in einer kleinen Lache auf dem Tisch. Das war aber auch schon das einzige unappetitliche Detail, das sich nicht hatte vermeiden lassen. Er würde diese letzte Spur Leben gleich genauso mit Papiertaschentüchern wegwischen, wie er eben den Füllfederhalter sauber gewischt hatte. Schmunzelnd erinnerte er sich daran, wie abwegig ihm zunächst der Gedanke erschienen war, einen Füllfederhalter so umzubauen, dass er zu einer tödlichen Waffe wurde. Dabei war doch nichts naheliegender. Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Perfekt war es, wenn man beides miteinander kombinierte. Also hatte er einen 15 cm langen, gehärteten Sparrennagel, wie ihn Zimmerleute benutzen, in einen 200 Euro teuren Füllfederhalter eingebaut.

Zu Edward Bulwer-Lyttons-Zeit durften Reisende, die es sich leisten konnten, lange Klingen in Spazierstöcken verstecken. Heutzutage waren solche Waffen natürlich verboten. Außerdem benutzten nur noch Gehbehinderte und Wanderer einen Stock. Ihm war es von Anfang an um ein tödliches Stichwerkzeug gegangen – eine Waffe, die er jederzeit bei sich haben konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie entdeckt wurde oder dass er sie wie einen Regenschirm im Restaurantständer vergaß. Er hatte den Nagel blank poliert und mit einem speziellen Kunstharz in den Füllfederhalter eingegossen. Solange die Kappe aufgeschraubt war, sah der Füller wie ein edles Schreibwerkzeug aus. Tödlich wurde der Stift erst, wenn die Hülse abgeschraubt war und er den Nagel bis zum Anschlag herausgezogen und arretiert hatte. So wie eben.

Der Steward war wie besprochen um 3 Uhr nachts vor der abgeschlossenen Tür der Lord Nelson-Bar erschienen. Er selbst hatte in einer Nische, in einem Sessel sitzend, auf ihn gewartet und ihm dabei zugeschaut, wie er die Tür zur Bar weder aufschloss. In seiner weißen Uniform und mit diesem aufgestickten Harlekin-Abzeichen auf der Brust hatte der Mann selbst im Halbdunkel stehend unverschämt gut ausgesehen. Sie hatten gemeinsam die Bar betreten und sich an diesen Tisch neben dem Panoramafenster gesetzt. Trotz des diffusen Lichts hatte er natürlich das Misstrauen im Gesicht des Stewards gesehen – kein Wunder bei Ort und Zeit, die er ihm für dieses Treffen vorgeschlagen hatte. Erst ein unanständig hohes Trinkgeld hatte den Mann überzeugen können. Genauso wie ihn jetzt der Stapel Hunderteuroscheine, die er gleich zu Beginn ihres Gesprächs vor sich auf den Tisch gelegt hatte, darin bestärkte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wie einfach es doch war Menschen zu manipulieren, wie leicht ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Der junge Steward war nicht einmal misstrauisch geworden, als er aufgestanden und hinter ihm an das Panoramafenster getreten war. Seine Blicke waren nur mit dem Geld beschäftigt gewesen. Er hatte leichtes Spiel gehabt. Ein kurzer, harter Schlag mit der Faust ins Genick des Mannes hatte ihn erst nach vorn geworfen und danach in sich zusammensacken lassen. Nachdem er die lockigen Haare des Besinnungslosen gepackt und dessen Kopf zurückgerissen hatte, rammte er ihm, ohne zu zögern, den 15 cm langen Nagel ins Nasenloch. So ähnlich hatten das schon die alten Ägypter gemacht – nur war das immer nach dem Tod des bedauernswerten Menschen passiert. Den Einbalsamierern war es dabei um das Gehirn der Verstorbenen gegangen, das man mit einem langen Haken aus der Nase herausgezogen hatte. Er wollte nichts dergleichen tun. Er musste den Mann bloß töten – und was war einfacher und effizienter als ein kurzer Stich, der durch die Nase direkt ins Gehirn fährt? Der Steward hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Kein einziges Geräusch war über seine Lippen gekommen. Sein letztes Atmen klang, als ob er sich verschluckt hätte. Vielleicht war das ja auch so gewesen. Das Blut musste ja schließlich irgendwohin laufen. Auf dem Tisch war davon jedenfalls nur wenig gelandet. Als hätte er ihn in einer Schraubzwinge fixiert, hatte er den Kopf des Mannes nach dem Stich gegen seinen eigenen Brustkorb gezogen und sich weit zurückgebeugt. Der Steward hatte noch ein paar Mal gezuckt, vor allem als er den Nagel weder herausgezogen hatte. Dann war er endgültig in sich zusammengesackt. Blut war dabei auf dessen Hemd getropft. Anschließend hatte er den Kopf des Mannes auf dem Tisch abgelegt und, wie nicht anders zu erwarten, vergeblich nach einem Puls an dessen Hals gesucht. Danach setzte er sich wieder in den Sessel gegenüber. Er hatte keine Eile. Um diese Zeit war nur das Steuerhaus des Schiffes besetzt. Die meisten Crewmitglieder und Passagiere schliefen. Selbst die Stadt, die sie gerade passierten, schien vor sich hin zu dösen – aber er war hellwach. Einen Menschen zu töten hatte auf ihn die gleiche Wirkung wie ihn direkt in die Venen injizierter schwarzer Kaffee haben musste. Er hätte noch Stunden so dasitzen, das Kribbeln unter seiner Haut fühlen und den Wellen zuhören können, wie sie in unregelmäßigen Abständen gegen den Rumpf des Schiffes schlugen. Wenn er sich jetzt nicht gerade an den Flügel setzte und ein Little Richard- Stück in die Tasten haute, würde er ungestört seinen Plan umsetzen können. Aber er durfte auch nicht leichtsinnig werden, schließlich hatte er noch einiges zu erledigen – jetzt und in den nächsten Tagen. Also stand er auf und begann damit, den toten Steward auszuziehen. Seine Augen hatten sich rasch an die besonderen Lichtverhältnisse im Raum gewöhnt. Es war noch keine fünf Stunden her gewesen, dass er schon einmal auf diesem Platz gesessen hatte. Während er an seinem Farmer’s Punch nippte, hatte er sich die Einrichtung der Bar einzuprägen versucht. Ledersessel, festgeschraubte Tische, auf alt getrimmte Spiegel, eine lange Theke und links und rechts davon zwei riesige Rumfässer, die deren Anfang und Ende markierten. Er hatte sich die Lage des Flügels genauso eingeprägt wie die kleine Tanzfläche mit den kupfernen Bodenfliesen und den Platz, an dem die Messingglocke hing.

Nachdem der tote Steward nackt war, hatte er sich hinter ihn gestellt und den Mann unter den Achseln gepackt. Den Unterarm des Mannes greifend hatte er ihn rückwärtsgehend bis zum Tresen gezogen. Das war nicht weiter schwer gewesen. Der Tote wog kaum mehr als 70 Kilogramm. Er hatte Frauen getragen, die mehr auf die Waage gebracht hatten, und auch das hatte funktioniert. Etwas kniffliger war es, das Fass zu öffnen. Er hatte vorhin gesehen, wie einer der Barmixer den Deckel des vorderen Fasses mehrmals angehoben und beiseitegeschoben hatte – und das alles bloß, um Rum herauszuschöpfen, den er für Longdrinks und Cocktails benötigte. Anschließend hatte er jedes Mal den Deckel weder aufgesetzt und ihn mit einem kleinen Haken arretiert. Das hintere Fass hatte er niemals geöffnet. Trotzdem musste es ebenfalls voller Alkohol sein. Wahrscheinlich war darin noch besserer, noch länger gelagerter Rum. Der Barmixer hatte auch daraus die Gläser gefüllt, nur war hier unten im Holz ein Zapfhahn eingelassen. Ansonsten sahen die Fässer wie Zwillinge aus. Zum Glück half ihm der Mond bei seinem Versuch auch dieses zu öffnen. Wie eine polierte Nagelfeile hatte der breite Stift, der den Deckel in der Öse fixierte, das Licht reflektiert. Nun konnte man auch ihn ganz leicht anheben. Das Fass war nur knapp zu einem Drittel gefüllt. Wenn dort wirklich, wie es ins Holz gebrannt war, 300 Liter hineinpassten, waren das jetzt höchstens 60 vielleicht 70, schätzte er. So würde er wahrscheinlich kaum etwas von diesem edlen Tropfen verschwenden müssen. Das Aroma des hochprozentigen Rums nahm ihm für einen Moment die Luft zum Atmen. Jetzt kam der schwierigste Teil der Aktion, das ahnte er.

Er versuchte abzuschätzen, ob sein Plan funktionieren würde – erst dann hievte er die blasse Leiche auf den Bartresen. Nachdem er selbst hochgeklettert war, stellte er sich wieder hinter den Mann, richtete dessen Oberkörper auf, packte ihn erneut unter den Achseln und griff nach dessen Unterarmen. So zog er ihn Richtung Fass, bis die Hüfte des Stewards über der Öffnung lag. Nun musste er sich um dessen Beine kümmern. Nachdem es ihm endlich gelungen war diese anzuwinkeln und die Unterschenkel samt den Füßen in das Fass zu zwängen, musste er nur noch den hockenden Körper herunterdrücken. Blasen stiegen auf, als erst der Rumpf, dann die Schultern und anschließend die Arme und der Kopf in der feuchten Dunkelheit verschwanden. Gleichzeitig stieg der Rum im Fass immer höher. Er beugte sich darüber und begann zu schwitzen, während er den Toten immer weiter im Alkohol versenkte. Noch mehr Blasen stiegen aus der braunen Flüssigkeit empor. Jetzt waren nur noch die Schultern und der Kopf zu sehen. Er musste seine ganze Kraft einsetzen, um die Leiche komplett im Fass verschwinden zu lassen. Als das endlich geschafft war, griff er nach dem Deckel und verschloss es weder.

Ein Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit. Es hatte funktioniert. Er trat einen Schritt von dem Bartresen zurück und untersuchte die vom Mond ausgeleuchtete Stelle rund um das Fass. Da war kaum Rum übergeschwappt. Er griff nach einem Lappen, der im Spülbecken unter dem Bierzapfhahn lag. Nachdem er alle Spuren beseitigt hatte, klopfte er noch einmal wie zum Abschied sanft gegen das Holz. Dann suchte er die Sachen des Mannes zusammen, fingerte aus dessen Hose Schlüsselbund und Schlüsselkarte heraus, schlich zur Eingangstür, schlüpfte hindurch und sperrte diese hinter sich zu. Seine Kabine lag auf der dem Fluss zugewandten Seite des Schiffes. Dicke Teppichböden in den Gängen schluckten jedes Geräusch seiner Schritte. Niemand begegnete ihm unterwegs. Als er die Tür zu seiner Kabine öffnete, war er zufrieden mit sich und der Welt. Sicher hätte es einfachere Wege gegeben, sich der Leiche des Mannes zu entledigen. Am simpelsten wäre es gewesen, ihn über Bord zu werfen. Aber das passte nicht zu seinem Plan – also hatte er sich für das Rumfass entschieden. Ein aberwitziger Ort, aber irgendwie auch plausibel. Was war naheliegender, als einen Mann mit einer tödlichen Wunde an Bord eines Schiffes in einem Rumfass zu bestatten? Noch dazu, wenn die Bar Lord Nelson hieß. Horatio wäre sicher einverstanden gewesen.

Kapitel 04

4. Tag | Köln – Im Schatten des Doms

Sie hatten das Frühstück ausfallen lassen, um heute Morgen die Ersten am Swimmingpool zu sein.

Dabei hätten sie sich gar nicht so zu beeilen brauchen. Gerade als sie die Steuerbord-Treppe zum Sonnendeck hinaufstiegen, hatte das Schiff seinen Liegeplatz erreicht. Etliche der Passagiere standen an der Reling oder vor ihren offenen Kabinenfenstern, um das Manöver zu verfolgen. Es war erst der vierte Tag an Bord und bis Basel würden sie noch einige ähnliche Aktionen geboten bekommen. Wenn die Leute erst einmal merkten, dass es keinen besseren Ort auf dem Schiff gab als den gerade menschenleeren Pool, würden sie beide weniger Glück haben. Heute war alles perfekt. Ein endlos blauer Himmel, das Wetter, die leeren Liegestühle und die Ruhe. Nur zwei ältere Damen schienen die gleichen Gedanken wie Mira und Arne gehabt zu haben. Sie lagen mit ihren Handtüchern auf Liegen, die zur Flussseite ausgerichtet waren, und schienen sich genauso wenig für den Trubel auf der Steuerbordseite zu interessieren. Eigentlich hatte Arne gehofft, wenigstens für einige Minuten das ganze frühmorgendliche Deck für sie beide allein zu haben. Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Erst vor vier Wochen hatten sich die beiden im Internet auf einem Flirtportal kennengelernt. Es hatte gleich zwischen ihnen gefunkt und nach einem ersten Treffen in einem Weinlokal hatte Mira schon das nächste Wochenende bei ihm zu Hause verbracht. Sie hatte zwar gesagt, dass sie sich erst vor Kurzem auf dem Portal angemeldet hätte und sie dieses rasche Intimwerden sonst nicht mochte – aber er hatte genauso gelogen. Diese Reise mit der Commedia sollte die Testversion einer viel längeren Schiffsreise in die Karibik sein. Die war für den Herbst geplant, wenn sie dann noch zusammen waren. Drei Wochen auf der AIDA. Es war schon erstaunlich, dass die meisten Reisenden auf ihrem Rheinschiff im gleichen Alter waren wie sie beide. Er hatte erwartet, dass die Passagiere dieser Flusskreuzfahrt deutlich älter waren – so 60 plus x. Zu seiner Überraschung gab es sogar Familien mit Kindern an Bord. Trotz allem waren die meisten Urlauber wohl zu zweit unterwegs und ihr Durchschnittsalter lag eher zwischen vierzig und fünfzig. Umso besser, hatte er gedacht. Dann fallen zwei turtelnde Verliebte ähnlichen Alters umso weniger auf. Er wollte Mira möglichst für sich allein haben. Die Frau war attraktiv, hatte Niveau, war wie er geschieden und sie war ausgehungert – wenigstens was Männer anbelangte. Solche Frauen hatte er bisher nur in Fernsehserien gesehen. Schon ihr erstes gemeinsames Wochenende hatte ihn begeistert und er war drauf und dran sich in diese Frau zu verlieben. Völlig egal ob die Leidenschaft, die sie beide kirre zu machen schien, ihrerseits nur gespielt war oder ob er dieses Mal wirklich den Jackpot geknackt hatte. Es war Miras Idee gewesen heute so früh zum Pool zu gehen. »Essen können wir immer noch«, hatte sie ihm gleich nach dem Wachwerden ins Ohr geflüstert, »den Pool haben wir nur frühmorgens für uns allein«. Dann hatte sie ihn ins Ohr gebissen und sich mitsamt der Bettdecke Richtung Badezimmer davongemacht.

Jetzt standen beide Hand in Hand vor dem Swimmingpool und hingen ihren Gedanken nach. Es war windig und auch noch etwas frisch.

»Komm«, flüsterte sie und war dann vom Rand ins Wasser gesprungen. Er sah, wie ihr Körper für einen Moment verschwand, nur um kurz darauf wiederaufzutauchen. Das Schwimmbecken war recht groß und an der tiefsten Stelle konnte man gerade so stehen. Dort wollte sie hin und er folgte ihr. Bei Weitem nicht so elegant, aber wen interessierte das schon. Es gab ja keine Zuschauer. Das Erste, was er hörte, als sein Kopf wieder auftauchte, waren Miras schrille Schreie. Auch wenn sie nur maximal zwei Meter von ihm entfernt war, schien sie ihn gar nicht wahrzunehmen. Während sie wie wild geworden mit den Beinen ruderte und schrie, verfärbte sich langsam das Wasser um sie herum rot. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte ihr Kopf unter, nur um gleich darauf wieder hochzukommen. Hustend versuchte sie sich Richtung Poolmitte zu bewegen. Jetzt wimmerte sie mehr, als dass sie schrie. Arne war entsetzt. Für den Moment überfordert, rief er ihr »Was ist los?«, hinterher. Dann sah er schemenhaft ihre Beine unterhalb der Wasseroberfläche und das Blut, das ihre Füße wie eine Wolke umgab. Sie hatte noch nicht den Beckenrand erreicht, als er ihr endlich hinterherschwamm. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Grünes auf dem Poolboden treiben. Wie verlorene Badeschuhe sah das aus. Mira erreichte den Beckenrand kurz vor ihm. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als sie sich jetzt am Rand hochzuziehen versuchte. Ihm gelang das besser und schneller. »Was ist passiert?«, fragte er erneut, während er ihr seine Arme vom Beckenrand aus entgegenstreckte.

»Ich bin mit meinen Füßen in etwas reingetreten«, stammelte sie schluchzend. »Glasscherben oder sonst was.«

Arne sah die Blutspur, die sich wie ein Schleier quer durch das Wasserbecken zog. Mittlerweile standen auch die beiden älteren Damen in ihren geblümten Badeanzügen neben dem Pool und beobachteten die Szene. Während Arne Mira aus dem Wasser zog, hörte er Schritte hinter sich – im gleichen Moment, als er auch noch etwas anderes registrierte: Die grünen Badeschuhe lagen jetzt nicht mehr auf dem Boden des Pools. Sie trieben schnurstracks in das blassrote Wasser hinein, direkt auf Miras Füße zu. Er hatte die Frau gerade so weit aus dem Wasser gehoben, dass er sie auf den Rand setzen konnte, als Mira erneut aufschrie und sich zur Seite warf. Endlich bekam sie ihre blutenden Füße aus dem Wasser.

»Etwas hat mich gebissen«, rief die Frau, während sie fassungslos in das Becken starrte.

»Jemand muss einen Arzt holen«, brüllte Arme dem ersten Mann entgegen, der jetzt von der Reling kommend vor ihm auftauchte. »Wir brauchen dringend einen Arzt.«

 

Doktor Brombacher hätte vom Alter her schon im Ruhestand sein können. Das weiße Uniformhemd spannte sich über seinem Bauch und dicke Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Er hatte Arne nur kurz zugenickt und sich dann um seine Patientin gekümmert. Die lag jammernd auf den Poolfliesen zwischen Beckenrand und Kunstrasen. Aus mehreren klaffenden Wunden an beiden Fußsohlen sickerte immer noch Blut. Seine Kommandos an die ihn begleitenden Männer waren klar und deutlich: Zwei sollten die Trage fertigmachen und der dritte Mann weitere Crewmitglieder herholen. Nachdem der Doktor die zerschnittenen Füße der halb ohnmächtigen Frau untersucht hatte, legte er ihr eine Infusion an. Erst dann kam die Trage zum Einsatz.

»Ich kann die Füße nicht richtig verbinden, denn es sind subkutan noch Fremdkörper, wohl Scherben, in den Wunden«, sagte er in die Runde, bevor er befahl, dass man die Frau rasch in sein Behandlungszimmer bringen sollte. Er wollte sich eben selbst auf den Weg machen, als er noch kurz einen Blick in den Pool warf.

Weil die meisten Urlauber nach dem Schiffsmanöver erst jetzt beim Frühstück waren, standen nur gut ein Dutzend Passagiere am Beckenrand.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen«, wandte er sich an sie. »Aber es scheint hier ein Problem zu geben. Bis wir die Ursache für diesen bedauerlichen Unfall gefunden haben, müssen wir das Schwimmbecken bis auf Weiteres sperren. Wir bitten um Ihr Verständnis, aber Ihre Gesundheit geht vor.«

Den jetzt neu eintreffenden Mitarbeitern der Schifffahrtslinie etwas zuflüsternd, war er gleich darauf Richtung Treppe verschwunden.

Er würde mit dem Kapitän reden müssen. Aber erst einmal warteten mehrere tiefe Schnitte auf Doktor Brombacher. Ganz egal wie glatt die Wundversorgung klappen würde, die Frau musste ins Krankenhaus. Auf diesen Füßen würde sie die nächsten Tage nicht stehen, geschweige denn laufen können. Zum Glück lag das Schiff schon am Anlegeplatz. Dorthin würde er den Rotkreuzwagen bestellen, der die Frau dann ins Krankenhaus fuhr.

Doktor Brombacher seufzte, als er jetzt die Tür zu seinem Praxiszimmer öffnete. Vielleicht wäre ich doch besser in meinem Labor geblieben, dachte er, während er im angrenzenden Untersuchungszimmer verschwand.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages