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Allerhand Geister – Die harte Kur – Kapitel I

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Die harte Kur

I.

In der Fährgasse, die zu den geräuschvollsten der Stadt gehörte, lag ein paar hundert Schritte vom hohen und finsteren Tor ein großes Haus. In der Straße, wo die Giebelhäuser noch vorherrschten und neben ihnen nur gleichfalls hochbejahrte, unregelmäßige und räucherige Gebäude erschienen, zeichnete es sich allerdings durch seine Neuheit und Sauberkeit aus. Im Übrigen aber zeigte es nichts Besonderes und unterschied sich kaum von den übrigen Bauwerken der Stadt, welche etwa von gleichem Alter waren, das heißt, aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts stammten. Damals fing nach den langen Kriegen der Wohlstand an, sich wieder ein wenig zu heben und auch an den Behausungen der Menschen sichtbar zu werden. Über einem langen und schweren Erdgeschoss, dessen Fenster durch kunstreich gearbeitete, ausbauchende Eisengitter geschützt waren, erhob sich der ebenso massive erste Stock in der gleichen baulichen Nüchternheit, und über ihm schloss das gewaltig schwere Dach das Ganze ab. Von Schmuck war keine Rede, es müsste denn die in Stuck ausgeführte Girlande dafür erklärt worden sein, welche die Grenzen des Parterres und ersten Stocks bezeichnete. Mit einem Wort, es gab in den übrigen Quartieren der Stadt noch eine ganze Zahl von ziemlich ähnlichen Bauwerken, nach denen keine Menschenseele extra hinsah, noch sich besonders um sie kümmerte. Das Haus in der Fährgasse dagegen war ein stadtbekanntes: Es war oder – um richtiger zu sprechen – enthielt gewissermaßen eine Art von Wahrzeichen der Stadt.

An einem Fenster des ersten Stocks, das mit Ausnahme des einen Flügels ganz und gar von Kletterpflanzen überzogen war, zeigte sich hinter der hellen Scheibe von frühmorgens, wenn es hell wurde, bis abends, wo man Licht anzündete, und zuweilen selbst dann noch, das blasse Gesicht einer Frau, die zurückgelehnt in ihrem Sessel ruhend, mit müden oder teilnahmlosen Blicken, sei es vor sich nieder, sei es auf die Straße, schaute. Es war ein noch mehr trauriges als krankes Gesicht, von außerordentlicher Regelmäßigkeit und Feinheit, aber auch von einer fast erschreckenden Unbeweglichkeit. Niemals, wann und wie oft man es wieder sah, bemerkte man in seinen Zügen etwas von einer lebensvollen Bewegung. Der Ausdruck blieb unabänderlich der gleiche, und dass sie jemals gelacht oder gelächelt oder auch nur voll einer Art von Interesse herabgeblickt hätte, war von niemanden bemerkt worden.

Diese Erscheinung am Fenster des alten Hauses war in der ganzen Stadt und selbst in der Umgegend derselben bekannt. Wer vorüberkam, alt oder jung, vornehm oder gering, sah fast mit Sicherheit hinauf und ging kopfschüttelnd weiter. Man bedauerte die Dame, von der man wusste, dass sie unheilbar krank sein sollte, und man bedauerte beinahe noch mehr den Mann, der das Mädchen vordem voll Glück und Hoffnung heimgeführt hatte und jetzt nichts neben ihr fand als Leid und Sorge.

Das Haus gehörte dem Kaufmann Friedrich Wilhelm Willmann, der dasselbe zugleich mit seinem Geschäft von seinem Vater geerbt hatte. Er galt für einen der unternehmendsten, glücklichsten und reichsten Männer seines Standes, ohne dass er deshalb jedoch, wie so viele seinesgleichen, vollständig in seinen Geschäften aufgegangen wäre und über ihnen alle anderen Forderungen, Interessen und Genüsse vergessen und aufgegeben hätte.

Ein Lebemann im wahrsten Sinne des Wortes, war er voll Freude am Dasein, voll Freundlichkeit und Wohlwollen nicht nur gegenüber Umgebung, sondern auch für alle Welt, voll Tätigkeit für das Wohl seiner Stadt und seiner Mitbürger, eine durch und durch zugleich gediegene und von Haus aus heitere Natur. Man schätzte ihn daher auch allerwärts und war ihm auf das Herzlichste ergeben. Man bedauerte ihn noch mehr um das Leid seines häuslichen Lebens und bewunderte ihn um die Geduld und Kraft, mit der er es zu ertragen und zu überwinden verstand.

Wie wenig oberflächlich er war und wie ernst er im Allgemeinen das Leben nahm, hatte man daraus kennengelernt, dass er in früheren Jahren nach dem Verlust seiner Braut, die kurze Zeit vor der Hochzeit starb, sich manche Jahre lang nicht wieder zu einer neuen Verbindung entschließen konnte, obwohl dieselbe der sehnlichste Wunsch der damals noch lebenden Eltern und er deren gehorsamster und zärtlichster Sohn war. Selbst die letzte Mahnung seiner sterbenden Mutter vermochte ihn fürs Erste wenigstens zu keiner Sinnesänderung. Im Gegenteil meinte er kopfschüttelnd, dass man mit fast vierzig Jahren überhaupt kein Heiratskandidat mehr sei.

Im folgenden Sommer lernte Willmann aber in einem Badeort, wohin ihn der Wille des Arztes zu gehen veranlasst hatte, einen Landwirt, den Amtmann Fröbel, kennen, der mit seiner Frau und zwei Töchtern gleichfalls hierher geschickt worden war. Man wohnte in einem Haus, man saß bei der Tafel nebeneinander, man begegnete sich im Laufe des Tages stets von Neuem. Da man sich täglich besser gefiel, waren Willmann und die Fröbel’sche Familie schon nach wenigen Tagen fast unzertrennlich.

Von drei Gliedern der Familie haben wir wenig zu sagen.

Der Amtmann war ein behaglicher und jovialer Mann, wie wir in diesem Stand manchem begegnen. Seine Gattin gab sich als eine ungewöhnlich gebildete, natürliche und angenehme Frau, beide in den mittleren Jahren und noch wohl konserviert. Die jüngere Tochter Sophie wurde Willmann als Braut vorgestellt. Es war ein hübsches, frisches und fröhliches, junges Mädchen, das seine Stellung weder tragisch noch sentimental auffasste, vielmehr sich unbefangen glücklich zeigte, das Badeleben charmant fand, sich lachend die Huldigungen gefallen ließ, welche die Herrenwelt dem liebenswürdigen, stets heiteren Geschöpf darbrachte, und sich mit dem neuen Familienfreund Willmann von Anfang an auf den besten Fuß stellte.

Über die um einige Jahre ältere Schwester Agnes müssen wir aber etwas ausführlicher sprechen. Sie war von einer Schönheit, welche das Aufsehen rechtfertigte, das ihre Erscheinung in allen Kreisen der Gesellschaft hervorrief und es sehr begreiflich erscheinen ließ, dass mehr als einer sich ernstlich bemühte, in ihre Nähe zu kommen und vielleicht auf sie einen tieferen Eindruck zu machen. Dieses Glück wurde jedoch nicht einem von allen zuteil, denn Agnes war im geraden Gegensatz zu ihrer ewig heiteren Schwester eine nur allzu ernste und stille, nicht selten fast melancholische Natur und von einer Zurückhaltung und Verschlossenheit, die sich selbst im engsten häuslichen Kreise niemals vollständig verlor. An der Geselligkeit und den Zerstreuungen des Badelebens beteiligte sie sich so wenig wie irgend möglich, und selbst in solchen Ausnahmsfällen nur für die kürzeste Zeit und ohne Spur einer wärmeren und herzlichen Teilnahme. An einer Erklärung fehlte es allerdings nicht. Man erfuhr, ja man sah es ihr an, dass sie noch immer unter den Nachwehen einer Krankheit litt, welche vor einigen Jahren ihre Jugendkraft auf das Furchtbarste erschüttert, ja fast gebrochen hatte.

Sie war damals bei einer kürzlich verheirateten Jugendfreundin, in deren neuer Heimat zu Besuch gewesen und wurde, wenige Tage vor der schon festgesetzten Heimkehr zu den Eltern, nach einem langen Spaziergang von einem plötzlichen Unwohlsein befallen, das mit fast vollständiger Taubheit anhebend und von Anfang an mit größter Heftigkeit auftretend, sich schon am folgenden Tag als ein Nervenfieber der schwersten und gefährlichsten Art entschied. Eine Veranlassung ließ sich nirgends entdecken; weder von einer gewaltsamen geistigen Erschütterung noch von einer so folgenschweren Erkältung konnte beim Spaziergang in der bekannten, friedlichen Umgebung und am schönen Herbsttag die Rede sein. Auch Agnes selber wusste weder früher noch später eine Erklärung dieses Anfalls zu geben. Die Krankheit war eine ganz außerordentlich schwere. Das Mädchen lag monatelang in fast völliger Bewusstlosigkeit. Als diese endlich wich und die wirkliche Genesung begann, blieb Agnes’ Zustand, wiederum auf Monate hinaus, noch immer ein verzweifelter. Denn neben der am Ende erklärlichen Schwäche des Körpers, erschien jetzt auch ihr Geist in einem Zustand, der, sagen wir, Abspannung und ihr ganzes Sein und Wesen unter der Herrschaft eines Drucks, die nicht selten das Schlimmste befürchten ließen.

Erst nach langer, qual- und sorgenvoller Zeit, ja nach Jahren war es langsam besser mit ihr geworden, sodass sie für die ihren und das Leben nicht mehr ganz verloren zu sein schien. Die jetzige Badereise sollte, wie man hoffte, die Genesung endlich vollenden. Man konnte auch nicht leugnen, dass sie von der günstigsten Wirkung war. Agnes reiste entschieden um vieles gesunder und geistig frischer mit den ihren in die Heimat zurück, als sie dieselbe vor acht Wochen verlassen hatte.

Noch erfreulicher war der Fortschritt, den Willmann im nächsten Sommer bei einem Besuch in ihrem Elternhaus an ihr beobachten durfte. Sie war kräftiger, sie war zwar nicht heiter, aber doch freundlicher und teilnehmender, als er sie jemals bisher gefunden, und der Eindruck, den er schon vor dem Jahr mit sich fortgenommen hatte, wurde ein immer tieferer. Wir haben die Phasen dieser Liebe, bis er endlich dazu gelangte, sich Agnes gegenüber auszusprechen, nicht weiter zu verfolgen. Es genügt uns die Angabe, dass seine Werbung endlich nach langem ernstem Bedenken von Agnes und nach noch ernsterem auch von den Eltern angenommen wurde. Denn sie verhehlten weder sich selbst noch dem von ihnen aufs Höchste geschätzten Mann, dass man keinerlei Garantie für die dauernde Gesundheit ihrer Tochter und gegen die Möglichkeit der Rückkehr jenes traurigen Gemütszustandes habe, der vordem die ihren tiefer als alle körperliche Schwäche betrübt hatte. Indessen wollte Willmann davon nichts hören. Das Leben mit ihm, dem heiteren Mann, seine Pflege, seine Liebe und sein Glück, meinte er, würden auch die Gattin beglücken und gesund erhalten.

Die ersten Jahre widersprachen solchen Hoffnungen nicht. Agnes war eine stille und ernste Frau, allein von Kränklichkeit ließ sich nichts an ihr spüren, und jene leise Schwermut, die sie auch jetzt niemals verließ, tat ihrer Innigkeit und Güte, ihrer Wärme und ihrem Glück keinen Abbruch. Denn dass sie sich glücklich fühle, verbarg sie weder, noch leugnete sie es. Sie verdiene nur solches Glück und Willmanns Güte und Liebe gar nicht, meinte sie wohl einmal demütig, sie sei ja so arm und schwach und könne ihm nichts dafür bieten.

Nach diesen Jahren aber kam plötzlich der Tag und die Stunde, wo das Unheil mit erneuter Gewalt über sie hereinbrach. Nach einem leichten, kaum beachteten Unwohlsein fing sie plötzlich an, wieder in jenen Abgrund von Schwermut und Teilnahmslosigkeit zu versinken, der vordem die ihren erschreckt und jeder Kunst des Arztes gespottet hatte. Von irgendeiner Veranlassung war auch dieses Mal nichts zu entdecken. Das Unheil war da und nahm zu, Mond auf Mond, Jahr auf Jahr. Von einer wirklichen geistigen Störung war keine Rede. Sie war sich ihres Zustandes wohl bewusst und tat alles, was der Arzt und der Gatte zu ihrer Erleichterung und Zerstreuung ersannen. Es kamen hin und wieder sogar ein paar bessere Tage, wo sie aufzuwachen und Mut zu fassen schien. Aber gerade dann trat gewöhnlich nur allzu bald ein harter Rückfall ein, der sie meistens nach einem Ausbruch von schier tätlicher Angst vor einem unerklärbaren, furchtbaren Etwas, tiefer als je in das trostlose alte Leid versenkte.

Die Ansicht der Freunde, ja selbst des Arztes, dass sie unter solchen Umständen in einer Pension für derartige Leidende oder in einer wirklichen Anstalt besser aufgehoben sein dürfte, wurde vom Gatten stets verworfen. Er wolle und könne die Hoffnung auf Besserung nicht aufgeben, erklärte er, und wenn überhaupt, werde sie dieselbe nur neben ihm, in seiner Obhut und Pflege finden. So lebte er neben ihr und für sie, mit unermüdlicher Geduld und Freundlichkeit, tröstend, stützend, ermunternd, beglückt schon durch den leisesten und flüchtigsten Eindruck seiner Liebe auf sie, sodass, wie wir schon oben sagten, alle Welt ihn von Herzen zugleich bedauerte und bewunderte.

So gingen die Jahre hin, ohne dass es mit Agnes anders geworden wäre. Sie saß an ihrem Fenster, tagein und tagaus, von früh bis spät, und sah und hörte nichts. Der Arzt und die Freunde des Hauses verzagten, nur Willmann selber verlor den Mut und die Liebe nicht, sondern blieb – darin glich er ihr – der Gleiche.