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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Totenhand – Teil 34

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand

Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Zweiter Band
Kapitel 14 – Die Abfahrt

Eine halbe Stunde darauf hörte Albert die Stimme seiner Mutter, welche ihn rief.

Er eilte zu ihrem Zimmer und fand sie am Fenster sitzen und die Augen auf das Meer gerichtet.

»Sage mir doch, Albert«, fragte sie ihn, »was ist denn das wohl für ein Schiff, welches soeben die Anker lichtet und unter Segel geht? Ich sah es gestern dort unserem Fenster gegenüber vor Anker gehen.«

Albert blickte nach der Richtung hinaus, welche Mercedes ihm andeutete, und unterschied eine kleine Jacht, elegant und leicht wie ein Schwan, wenn er seine Flügel unter dem Hauch des Windes ausbreitet und sich über die glatte Spiegelfläche eines Sees hingleiten lässt.

»Ach«, murmelte Albert, nachdem er einen Augenblick das kleine Fahrzeug betrachtet hatte, welches sich in Bewegung zu setzen begann, »das ist die Jacht Benedettos. Ich sah es wohl kommen, dass er uns verlassen würde. Er ist ein sonderbarer Mensch, der mir die Gabe zu besitzen schien, über den Sturm zu gebieten, als er sich unerschrocken unter den zuckenden Feuerstrahlen des Himmels und den erzürnten Wogen in das Meer stürzte, gleich einem wohltätigen Geist, um mich zu retten. Lebe wohl für immer! Lebe wohl!«

»Lass uns für ihn beten«, sagte Mercedes, indem sie vor dem Kruzifix niederkniete, das an der Wand hing.

»Ja, beten Sie, meine Mutter, beten Sie! Ohne Zweifel denkt auch er in diesem Augenblick an uns.«

Albert hatte einen leichten weißen Rauch vom Bord der Jacht aufsteigen sehen, und unmittelbar darauf hörte er den Knall eines der Mörser, welcher in eben dem Augenblick abgeschossen wurde, als die Jacht die Felsspitze umsegelte, die dem Häuschen der guten Mercedes gerade gegenüberlag.

Das war das letzte Lebewohl Benedettos.

Albert blieb noch lange an dem Fenster stehen, die Augen fest auf das gebrechliche Fahrzeug gerichtet, welches, vom Landwind getrieben, sich schnell entfernte.

Mercedes hörte nicht auf, zu beten, indem sie noch immer am Fuß des Kruzifixes kniete, und flehte mit ihrer weichen, wohlklingenden Stimme die Gnade des Himmels für den Retter ihres Sohnes an.

Als sie ihr Gebet beendet hatte, stand sie auf, lehnte ihren Kopf gegen die Schulter Alberts und sagte: »Mein Sohn, unsere Pflicht gegen diesen Fremdling ist erfüllt. Jetzt bleibt uns nichts, als ihm ewige Dankbarkeit zu bewahren. Das Glück möge ihn auf seiner Reise begleiten. Was uns betrifft, so lass uns hier in Frieden leben.«

»Ja, meine gute Mutter«, antwortete Albert, indem er sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit in seine Arme schloss. »Ach, möchten wir ohne Störung diesen Frieden, dieses häusliche Glück genießen können!«

»Aber weshalb glänzten zwei Tränen in deinen Augen, während du diese Worte aussprachst?«, fragte Mercedes voll Rührung.

»Ach, weil ich meine allnächtlichen Träume nicht zu verwirklichen vermag! Weil es mir unmöglich ist, die Vergangenheit vergessen zu lassen, wie ich es gehofft hatte!«

»Ei, glaubst du denn nicht, dass ich bei all der traurigen Erinnerung an jene Zeiten des Unglücks und des Elends ein gewisses bitteres Vergnügen empfand, welches du schwerlich zu begreifen imstande bist? Ach, glaube mir das, Albert.«

»Meine teure Mutter«, sagte Albert, »ich möchte nicht nur Ihre Tränen trocknen, sondern ich möchte auch sie Ihnen ersparen.«

Mercedes lächelte, aber es war jenes trübe, melancholische Lächeln, dessen Geheimnis nur die Unglücklichen besitzen. Es war ein zugleich mildes und spöttisches Lächeln, welches durch das Gefühl eines gewaltigen Unglücks auf unsere Lippen gerufen wird.«

»Und wie wolltest du die Tränen verhindern können, deren Quelle in der Tiefe eines seit so vielen Jahren durch das Verhängnis gegrabenen Abgrundes liegt?«

»Unter dem Beistand Gottes ist nichts unmöglich. Nehmen Sie zum Beispiel einen Augenblick an, dass ich hier an Ihrer Seite stände und allmählich Ihren Blicken sich eine gewaltige, eine unermessliche Fläche enthüllte, auf welcher die reichsten und prachtvollsten Landschaften gemalt sind, Landschaften, welche alles das weit hinter sich lassen, was jemals von dem Pinsel der berühmtesten Künstler dargestellt wurde; der blühende Anblick zahlreicher Städte, verstreut an den Ufern jenes schönen Sees, der sich von Gibraltar bis zu den Dardanellen erstreckt; die wechselvollen Trachten zahlreicher Völkerschaften, die verschiedenen Gestalten der menschlichen Rassen, von dem Kaukasier bis zu dem Amerikaner; die großartigen Schauspiele der Natur, vereinigt mit dem Pomp religiöser Feierlichkeiten; die verschiedenen Arten der Gottesverehrung, von dem Christentum bis herab zu der niedrigsten Götzenanbetung – und endlich jene erhabenen Blätter aus dem Buche der Jahrhunderte, welche wir Ruinen nennen, auf der Erde verstreut mit ihren prachtvollen Inschriften! Sagen Sie mir, meine teure Mutter, würde nicht die Betrachtung von alledem, die Studien aller dieser Dinge, die traurigen Bilder verbannen, welche gegenwärtig Ihren Augen die Tränen entreißen, deren Spur Ihre Wangen furchen? Ach, das Geschick wollte nicht, dass ich jemals diese so bitteren und so häufigen Tränen nicht mehr rinnen sehen sollte!«, rief Albert schmerzlich, indem er den Kopf auf die Brust herabsinken ließ.

»Nun, ich will aufhören, Albert«, sagte Mercedes voll Sanftmut. »Meine Tränen tun dir weh, mein vielgeliebtes Kind. Ach, sieh nur – sieh – schon weine ich nicht mehr! Ich weine nicht mehr, sage ich dir, denn ich weiß es wohl, dass ich dich nicht betrüben darf. Nein, ich darf und will dich nicht durch diese Tränen kränken, die ich mir selbst zum Verbrechen anrechnen würde, vergösse ich sie nicht um dich!«

»Um mich? Tränen um mein Geschick? Ei, weshalb denn? Wenn ich bei Ihnen bin, wenn ich Sie umarme?«, fragte Albert, dessen durch die Rührung erstickte Stimme sich nur mit Mühe einen Weg bahnte, als ob das Übermaß seiner Gefühle ihm die Kehle zuschnüre.

»Du bist sehr großmütig, mein Sohn, aber ich weiß alles, was ich dir schulde, ich, die ich dich deine Freiheit verkaufen sah, um mir eine Unterstützung zu gewähren; ich, die ich sah, wie du die Welt verließest und verachtetest, um mir in die Einsamkeit zu folgen! Ach, Albert, was würde ich nicht tun, um dich glücklich zu sehen! Weshalb kann ich nicht mit dem Gedanken sterben, dass dir eine lachende Zukunft winkt? Wird mir diese Wohltat nicht zuteilwerden? Ach, du verdientest sie ja so sehr.«

Den ganzen Tag und die ganze Nacht dachte Albert nach, um ein Mittel ausfindig zu machen, irgendeine Stellung zu erringen, die ihn in den Stand setzte, den kommenden Bedürfnissen die Stirn zu bieten und so das Elend, den unzertrennlichen Gefährten des Unglücks, zurückzuweisen. Aber alle Tage und alle Nächte erkannte er die Unmöglichkeit, eine solche Stellung zu gewinnen.

Mercedes, welche alle Stufen der Verzweiflung durchschritten hatte, die gesehen und erkannt hatte, bis zu welchem Punkt die Barmherzigkeit Gottes gehen kann, war jetzt die Erste, welche ihm sagte und wiederholte, dass er hoffen müsste. Es waren tröstende Worte, die sie zu ihm sprach, Worte, deren Sinn nur der zu verstehen vermag, welcher in der finsteren Nacht des Unglücks die Strahlen der göttlichen Barmherzigkeit leuchten sah!

Diese Strahlen glänzten in den Augen Alberts. Er erkannte zum zweiten Male, dass Gott ihn nicht verlassen hatte.

Der Geistliche, welcher einige Monate zuvor durch Mercedes in das Dorf der Katalonier gerufen worden war, kehrte dahin zurück und fragte nach Albert.

»Hier bin ich, ehrwürdiger Herr«, erwiderte der junge Mann, indem er sich achtungsvoll vor dem Priester verbeugte.

»Sie sind Albert Mondego?«

»Ja, mein Vater.«

»Sohn der Mercedes, der Katalonierin?«

»Derselbe.«

»Geben Sie mir gleichwohl noch einige Beweise oder wenigstens Andeutungen, dass Sie wirklich der sind, den eine gebieterische Pflicht mich aufzusuchen zwingt.«

Albert dachte einen Augenblick nach, indem er von Zeit zu Zeit einen forschenden Blick auf die ehrwürdigen Züge des Geistlichen richtete, als wollte er auf dessen Gesicht den Sinn oder den Beweggrund dieser Frage erkennen.

Endlich entschloss er sich, zu sprechen.

»Als ich aus Afrika zurückkehrte«, sagte er, »wurde ich von einem Sturm überfallen, dessen ich mich nur durch ein Wunder entrissen sah, gerettet durch einen Mann, dessen Name Benedetto ist. Ich kehrte auf einem Dreimaster zurück, der nach dem, was man mir sagt, dem Hause Morel, einem der ältesten Handelshäuser von Marseille, gehörte.«

»Gehörten Sie zu der Besatzung?«

»Nein, ehrwürdiger Herr. Ich war als einfacher Passagier auf dem Schiff. Ich diente in Afrika und kehrte mit meinem Abschied zurück.«

»Gut. Sie sind in der Tat der, welchen ich suche.«

Bei diesen Worten überreichte der Priester ihm einen Brief und wartete, dass er ihn öffne.

Albert zögerte damit, obgleich die Adresse seinen vollausgeschriebenen Namen trug.

»Lesen Sie«, sagte der Priester.

»O mein Gott!«, rief Albert, als er kaum mit dem Lesen fertig war, »ich danke dir von ganzer Seele!«

Albert las schweigend den Brief zum zweiten Mal und hielt bei jedem Satz, bei jedem Wort inne, als wollte er den Sinn erforschen, um sich zu überzeugen, dass er sich nicht täuschte oder das Spiel einer Illusion sei.

»Ha!«, sagte er dann plötzlich, als ob er aus einem Traum erwachte, dessen Zauber verschwindet, sobald man die Augen öffnet. »Zum ersten Mal würde ich aus der Hand eines Menschen ein Almosen empfangen – ein Almosen – nein – nein, das darf ich nicht annehmen! Benedetto – deine Großmut verletzt mich nicht – aber es gibt in der Welt unglücklichere Menschen, als ich bin – ihnen dieses Almosen, denn ich – ich kann noch arbeiten!«

»Erkennen Sie«, sagte der Priester, »bis zu welchem Punkt der Stolz Sie verblendet!«

»Der Stolz«, wiederholte Albert, »der Stolz? Wenn ich von unglücklicheren Menschen spreche, als ich bin, und dazu durch den Gedanken angetrieben werde, ihrem Nutzen ein Almosen zuzuwenden, welches mir geboten wird, mir, der ich arbeiten kann?«

»Junger Mann«, entgegnete der Geistliche lächelnd, »ich wiederhole Ihnen, dass es nicht bloß das Gefühl der Barmherzigkeit ist, welches Sie so sprechen macht. Es lebt in Ihnen noch ein Überbleibsel früheren Dünkels. Der Stolz, der Sie das zurückweisen lässt, was Sie ein Almosen nennen, beleidigt Gott, wie es den großmütigen Menschen beleidigt, der sich für Sie interessiert, und beleidigt auch mich selbst. Denn ich komme, um diese Gabe in Ihre Hände zu legen.«

»Sie kennen also den Inhalt dieses Briefes?«, fragte Albert.

»Ich selbst habe ihm denselben diktiert, Benedetto wollte es so.«

»Kennen Sie diesen Menschen?«

»Ich hatte ihn nie zuvor gesehen.«

»Wissen Sie wenigstens, welche Gefühle ihn beherrschen?«

»Ohne Zweifel wird seine Existenz durch ein tiefes Gefühl geläutert und dieses Gefühl ist ein Geheimnis zwischen ihm und Gott, ein Geheimnis, welches nicht aus dem Beichtstuhl hervortreten darf, mein Sohn! Indessen kann ich Ihnen die Versicherung geben, dass er in dem Augenblick, wo er diese Summe, die ich Ihnen übergebe, in meine Hände legte, nur durch die reinste Überzeugung bewogen wurde, dadurch den Willen Gottes zu erfüllen. Nehmen Sie daher diese Summe an. Benedetto ist in diesem Augenblick nur das Werkzeug, durch welches das Gesetz des Himmels vollstreckt wird. Er ist jetzt fern von Ihnen und ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass er nicht das geringste Gefühl des Stolzes oder der Eitelkeit für die gute Handlung, die er ausübt, indem er Ihnen dieses Geschenk macht, mit sich nimmt. Empfangen Sie es daher ohne Sträuben.«

Bei diesen Worten übergab der Priester an Albert eine kleine versiegelte Papierrolle.

»Jetzt«, fuhr er dann fort, »versprechen Sie mir, dass Sie, um die Absichten Benedettos zu erfüllen, in Ihrem Herzen das Gefühl der Dankbarkeit, welches sein Benehmen in Ihnen erwecken kann, in ein ewiges und unverletzliches Geheimnis begraben wollen.«

»Großmütiger Mensch!«, rief Albert, »wenn dein Leben durch ein Verbrechen befleckt wurde, so musst du wahrlich die Verzeihung Gottes erlangen!«

Einige Augenblicke darauf war Albert in seinem Zimmer und besaß in seiner Brieftasche die Summe von 150,000 Franc in Banknoten.