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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Teufel auf Reisen 1

Carl von Kessel
Der Teufel auf Reisen
Erster Band
Ein humoristisch-satirischer Roman aus dem Jahr 1870
Erstes Kapitel
Aus dem Jugendleben eines verkannten Genies

Herr Peter Schwalbe, welcher die Ehre haben wird, den Lesern noch häufig in diesen Blättern zu begegnen und dessen hervorragende Eigenschaften, wie wir mit Bestimmtheit voraussetzen, nicht verfehlen werden, sich bei denselben der gebührenden Würdigung zu erfreuen, war der Sohn eines reichen Getreidehändlers, bei dem sich aber der Spruch Mit dem Maß, mit welchem Ihr messet, wird Euch wieder gemessen werden keineswegs bewahrheitete, denn obgleich Herr Schwalbe senior häufig von seinen Kunden bei erheblichen Mankos ertappt wurde, so hatte dies auf seine Körperkonstitution doch keinen nachteiligen Einfluss ausgeübt und sein umfangreicher, in behäbiger Wölbung hervortretender Leib sowie seine Hängebacken legten dafür Zeugnis ab, dass das, was er anderen abzog, sich durchaus nicht an ihm selbst strafte. Dadurch, dass Herr Schwalbe die erfreuliche Wahrnehmung machte, dass sich seine zeitlichen Güter von Jahr zu Jahr vermehrten, gelangte er schließlich zu der jedenfalls nicht unangenehmen Überzeugung, dass der Reichtum ein Wohlbehagen und eine Sicherheit hervorrufe, welche dem Menschen erst seine eigentliche Würde verleihe und dass man hiermit auf jener Höhe des Lebens angelangt sei, die solchen Bevorzugten gestattet, mit Stolz und Hochmut, mit Grobheit, Arroganz und souveräner Verachtung auf die Millionen herabzusehen, welche sich im Schweiße ihres Angesichts mühselig ihr Brot verdienen müssen, ohne sich dabei jemals eine Erholung oder einen außergewöhnlichen Genuss gönnen zu können. Für Kunst und Wissenschaft schwärmte der Getreidehändler nicht, die Gelehrten bezeichnete er als die gefährlichsten Feinde der sozialen Ordnung, als Aufwiegler, welche den Leuten Dinge in den Kopf setzten, die diesen nur schädlich seien und um dem Beweis zu führen, dass sie ganz und gar nichts taugten, machte er auf die allerdings nicht wegzuleugnende Tatsache aufmerksam, dass der größte Teil dieser Literaten arme Schlucker wären, was nach den Ansichten des Herrn Schwalbe gleichbedeutend mit gefährlich, verwerflich, verabscheuungswürdig und erniedrigend angesehen werden konnte. Auch der Kunst würde der Kornhändler stolz den Rücken gewendet haben, wenn ihn seine Eitelkeit nicht veranlasst hätte, etwas humaner mit derselben umzugehen, denn die Wände seines Staatszimmers mit seinem und seiner Gattin Porträt zu schmücken, betrachtete er als eine Pflicht, die er der Würde seiner Familie schuldig sei und so hatte er denn für schweres Geld ein paar Ölbilder anfertigen lassen, von denen das eine ihn selbst, mit der fleischigen, etwas blau angelaufenen Nase, den dicken sinnlich gebildeten Lippen und den wie Schwämme herunterhängenden Backen darstellte, während das andere Frau Schwalbe in auffallender Magerkeit und Steifheit mit fest zusammengekniffenen Mundwinkeln und herrschsüchtigen Augen erkennen ließ. Später kam noch der kleine Peter hinzu, welcher, eben eine Butterstulle in den Mund steckend, mit ziemlich dummem Gesicht zu seinen Eltern emporblickte, was diese aber natürlich als einen reizenden Zug kindlicher Naivität bezeichneten, hinter dem sich bereits ganz erkennbar viel Geist verberge.

Dass Herr Schwalbe bei den von ihm an den Tag gelegten Gesinnungen die Zukunft seines Sohnes dadurch am vorteilhaftesten zu sichern glaubte, wenn er ihn auf dem Wege, welchen er selbst bereits mit so vielem Glück befahren hatte, vorwärts schob und ihm das Geheimnis des Geldmachens lehrte, wird keinen der Leser in Erstaunen setzen. Vorläufig hielt er mit seinen Absichten freilich gegen den kleinen Peter noch zurück, weil dieser noch zu jung war, um Plus und Minus und Haben und Sollen voneinander zu unterscheiden, um ihn aber doch wenigstens schon frühzeitig an noble Passionen zu gewöhnen und ihn gewissermaßen schon mit der Muttermilch die richtigen Begriffe über seine künftige erhabene Stellung in der Welt einfangen zu lassen, erhielt er bereits mit seinem zehnten Jahr ein Pony und einen kleinen reich betressten, kaum vier Fuß hohen Groom, welcher die strenge Weisung empfing, seinen jungen Gebieter stets nur mit ehrerbietig abgezogenem Hut entgegenzutreten und sich zu jeder Zeit pflichtschuldig daran zu erinnern, dass er denselben unter allen Umständen mit »gnädiger Herr« anzureden habe.

Bei den meisten Kindern würde eine solche Vergötterung ihrer Person die nachteiligsten Folgen und unzweifelhaft eine Menge von Untugenden hervorgerufen haben, wovon manche Gouvernante und mancher Hauslehrer ein langes Klagelied zu singen wissen, allein in unseren Peter hatte die Natur ohne die Beihilfe des Herrn Schwalbe einen gesunden Kern gepflanzt und so zeigte sich glücklicher Weife das Gift, welches der geldstolze aufgeblasene Vater dem Sohn einträufelte, unwirksam. Während unter der Einwirkung der frischen stärkenden Gebirgsluft sein Körper kräftig emporschoss, blieb sein Geist nicht allein ebenso unverdorben, sondern es entwickelte sich auch in dem Knaben eine Willenskraft und ein Unabhängigkeitssinn, welche Herrn Schwalbe häufig zu einem sehr bedenklichen Kopfschütteln veranlassten. Statt nämlich der angewandten Erziehungsmethode gemäß, schon frühzeitig den Kopf gehörig in den Nacken zu werfen, und sich gegen Diener und Untergebene grob, hochmütig und naseweis zu zeigen, entwickelte der junge Peter ein so anspruchsloses gewinnendes Wesen, dass er sich bald die Herzen seiner Umgebungen eroberte und zu deren Liebling emporschwang. Einige Mal überraschte ihn Herr Schwalbe sogar, als er mir seinem Groom, der nicht viel älter wie er selbst war, Purzelbäume schoss und ein anderes Mal musste er zu seinem Schrecken gewahren, wie er sich mir einem weit stärkeren Bauerjungen herumschlug und es sogar nicht unter seiner Würde hielt, mit dessen Fäusten Bekanntschaft zu machen, wofür er freilich die seinen dem Gegner ebenfalls gehörig auf dem Kopfe herumtanzen ließ. Herr Schwalbe war, ob solcher ›plebejischen Untugenden‹, wie er es nannte, im höchsten Grade entrüstet und bei einer Überredung mir seiner Gattin erklärte er dieser, dass durch ein so unwürdiges Benehmen, die Ehre des Kapitals, die er vertrete, verletzt werde und dass ein junger Mensch, welcher die Aussicht habe, dereinst auf einem wohlgefüllten Geldsack durchs Leben zu reiten, wissen müsse, was er diesem Geldsack schuldig sei.

Zum Glück dachte seine Frau in solchen Dingen verständiger als er und die Herrschaft, welche sie sich im Laufe der Zeit über den geldstolzen aufgeblasenen Kornspekulanten zu erringen gewusst hatte, tat auch das ihre, um den erzürnten Vater zu beruhigen und dem kleinen Peter jene Freiheit nicht zu verkürzen, die ja das Eigentum der Jugend ist und die uns als heitere Erinnerung noch bis in das späteste Alter begleitet. Über den Spielgefährten, welche dem künftigen Helden dieser Blätter ganz besonders nahe standen, nahm den ersten Platz der Sohn einer unbemittelten Witwe ein, welche ein kleines Häuschen am Ende des Dorfes ihr Eigentum nannte, während ihr gegenüber ihr Bruder, ein pensionierter ehemaliger Stabstrompeter, wohnte. Unser Peter war von Natur etwas rechthaberisch und auffahrend, während Gottlieb Schnorpel einen sehr sanften nachgiebigen Charakter besaß und gerade dies war die Ursache gewesen, weshalb sich die Knaben im Laufe der Zeit immer enger aneinander angeschlossen hatten. Gottlieb war etwas schwerfällig von Begriff und es kostete ihm viele Mühe, sich eine einigermaßen verwickelte Sache vollkommen klar zu machen, wogegen sich Peter aufgeweckter zeigte, was ihm unleugbar ein geistiges Übergewicht über seinen Spielgefährten verlieh. Da er neben seinen gewöhnlichen Schulstunden noch von dem Kaplan des Ortes im Lateinischen, in Geografie und in Geschichte unverrichtet wurde, so trat dieses Übergewicht noch mehr hervor, jedoch nicht allein ohne Neid und Missgunst blickte trotzdem der anspruchslose, gutherzige Gottlieb zu seinem Freund fortwährend empor, sondern er staunte ihn in vielen Fällen auch gewissermaßen als ein gelehrtes Orakel an, dessen Ausspruch er sich ohne Widerspruch unterwarf. Doch wurde in sofern zwischen beiden Knaben auch wieder eine Ausgleichung herbeigeführt, als Gottlieb viele musikalische Anlagen an den Tag legte und unter Anleitung seines Oheims, des bärtigen Stabstrompeters, vor dem übrigens auch Peter einen heilsamen Respekt hatte, auf verschiedenen Instrumenten erfreuliche Fortschritte machte, während der junge Herr ›vom Schloss‹ wie unser Bekannter im Allgemeinen genannt wurde, sich nur mit Widerwillen den Kopf mit lateinischen Vokabeln vollpfropfte, denn wir müssen von vornherein bemerken, dass es dem jungen Schwalbe zwar nicht an dem nötigen Fassungsvermögen, wohl aber an jener Ausdauer mangelte, die nötig ist, wenn man ein ernstes wissenschaftliches Ziel erreichen will. Trotzdem daher in seinem Wissen noch sehr viele Lücken vorhanden waren, hielt er sich doch seinem Freund Gottlieb gegenüber für berechtigt, diesem sein Übergewicht bei jeder Gelegenheit fühlen zu lassen und eines Tages, als beide unter dem schattigen Dach einer Ulme saßen, die ihre belaubten Zweige über einen klaren Bach ausbreitete, welcher sich durch ein Wiesental schlängelte, schlang Peter zärtlich den Arm um den Leib seines Freundes und sagte mit weicher Stimme: »Soll ich dir etwas sagen, Gottlieb?«

»Sprich«, antwortete dieser, ihm liebevoll ins Gesicht blickend, »du weist ja, wie gern ich dich reden höre, und seitdem du solche Fortschritte im Latein gemacht hast, komme ich mir noch kleiner wie sonst dir gegenüber vor.«

»Du musst nicht zu bescheiden sein, Gottlieb. Du spielst Violine und bläst Klarinette, das ist auch eine Sprache und noch dazu eine solche, die zum Herzen dringt, obgleich sie nicht jeder versteht.«

Dem sanften Gottlieb, welcher sich von seinen Gefühlen leicht fortreißen ließ, traten beinahe die Tränen in die Augen. Er blickte seinem Freund liebevoll ins Gesicht und sagte mit weicher Stimme: »Du sprichst sehr schön, wenn du willst, man sieht, dass dir eine gelehrte Bildung zuteilwird.«

»Aus der Grammatik lernt man das nicht, Gottlieb, das muss aus dem Herzen kommen. Und nun höre, was ich dir sagen will.«

»Sprich, Peter, es hört sich hier am kühlen Bach und unter der schattigen Ulme so schön zu.«

»Nun, ich wollte dir nur sagen, wie lieb ich dich habe. Willst du mein Freund werden?«

»Bin ich es denn nicht schon?«

»Allerdings. Aber ich meine, ob du mein treuer redlicher Freund für das ganze Leben werden willst? Hast du schon von Castor und Pollux gehört?«

»Davon hat mir mein Oheim, der Stabstrompeter, nichts gesagt, aber er hat mir erzählt, dass es in seinem Regiment so treue Kameraden gegeben hat, dass sie im Leben und Tod nicht voneinander gelassen haben.«

»Nun, so sei auch für mich ein solcher Kamerad.«

Daraufhin traten dem ehrlichen Gottlieb wirklich die Tränen in die Augen. Gerührt antwortete er: »An der Aufrichtigkeit deiner Worte zweifele ich nicht, aber es liegt etwas zwischen uns, Peter, was wir beide nicht hinwegzuräumen vermögen.«

Der Sohn des Kornspekulanten horchte auf. »Was könnte denn das sein? Ich wüsste doch nicht …«

»Die Sache ist ganz einfach. Du wirst einst ein reicher Mann und ich bleibe ein armer Schlucker, Arm und Reich passen aber nicht zusammen, sagt mein Oheim, der Stabstrompeter.«

»Oho«, rief der junge Schwalbe, »ist es bloß das, so mache dir keine Sorgen. Du musst nämlich wissen, dass ich erschlossen bin, Philosoph zu werden und Philosophen denken anders als die gewöhnlichen Leute.«

»Du willst Philosoph werden? Was ist denn das?«

Peter kam durch diese Frage etwas in Verlegenheit, denn er hatte sich über die Bedeutung dieses Wortes selbst noch keine klare Vorstellung gebildet. Aber er war ein Junge, der nicht auf den Kopf gefallen war und so erwiderte er denn auch diesmal nach kurzem Überlegen: »Ja, siehst du, das ist eigentlich schwer zu erklären, denn die Philosophen wissen manchmal selbst nicht, was sie sind. Wenn du aber einmal einem Menschen begegnest, welcher die Hände in den Rocktaschen stecken und den Hut im Genick sitzen hat, und der in die Wolken hineinstarrt und über jeden Stein stolpert und jeden Menschen anrennt, so kannst du davon überzeugt sein, dass dies ein Philosoph ist.«

Gottlieb musste mit dieser Erklärung zufrieden sein, obgleich er eigentlich nicht wusste, was er aus dieser machen sollte. Aber einen Einwand hatte er doch noch, den er nicht zu unterdrücken vermochte. »Wird denn auch dein Vater damit zufrieden sein, wenn du mich zu deinem Freund erklärst?«

Der kleine Peter nahm eine sehr wichtige Miene an. »Jeder Mensch hat einen freien Willen«, bemerkte er, »und wie Schiller sagt: ›Frei ist der Mensch, und wär’ er in Ketten geboren!‹«

»Ach der gute liebe Schiller, wie der zum Herzen zu reden versteht! Mein Ohm, der Stabstrompeter, sagt, das wäre so ein echter Dichter des Volkes gewesen.«

Für Gottlieb war die letzte Appellinstanz stets der alte bärtige Soldat, welcher ihm zwar unter manchem derben Fluch den Bogen zu führen gelehrt hatte, der es trotz seiner rauen Statur im Grunde aber doch herzlich gut mit dem Sohn seiner Schwester meinte.

»Nun, die Sache ist also abgemacht«, begann Peter von Neuem, »du bleibst mein Freund fürs ganze Leben.«

»Aber dein Vater …«, warf Gottlieb nochmals schüchtern ein. »Du weist, wie er denkt: Armut ist bei ihm gleichbedeutend mit Niedrigkeit. Nie wird er zugeben, dass du dich so wegwirfst.«

»Ich mich wegwerfen, indem ich dich zu meinem Freund erkläre?«, rief nun aber der junge Schwalbe, indem seine Augen in edler Aufwallung aufblitzten. »Nein, Gottlieb, so gering darfst du von dir selbst nicht denken!« Und seinen Arm pathetisch ausstreckend, setzte er mit erhobener Stimme hinzu: »Arm in Arm mit dir fordere ich mein Jahrhundert in die Schranken, und nun lass es gut sein und mache dir weiter keine Sorgen.«

Es lag in diesen Worten eines zwölfjährigen Kindes, das noch nicht die geringste Selbstständigkeit hatte, doch etwas, was zum Herzen sprach. Beide Knaben erhoben sich und kehrten langsam ins Dorf zurück. Peter machte ein so triumphierendes Gesicht, als ob von ihm ein schwieriges philosophisches Problem gelöst worden wäre und der schüchterne sanfte Gottlieb blickte seinen Freund von Zeit zu Zeit in einer Weise verstohlen von der Seite an, welche deutlich erkennen ließ, dass sich seine Bewunderung für diesen noch um ein Bedeutendes gesteigert hatte. Nach einer Weile blieb der Erstere stehen und fragte zu seinem Gefährten gewendet: »Erinnerst du dich noch an die Geschichte von den drei Schweizern, die auf dem Rütli einen Bund schlossen?«

»Oh gewiss! Als du mir das schöne Bild gezeigt hast, wie sie, die Hände ineinandergelegt, auf dem hohen Berg standen und der Mond so mild auf sie herabblickte, da bemerkest du, sie seien zusammengetreten, um einen feierlichen Eid zu leisten, für die Freiheit zu sterben.«

»Nun siehst du, Gottlieb, so wollen wir auch jetzt, bevor wir uns trennen, feierlich geloben, unveränderliche Freunde zu bleiben. Schlage ein, wenn ich einst groß bin, werde ich vom Katheder herab dem Wert der Freundschaft eine Lobrede halten.«

Er streckte seinem Spielkameraden die Hand entgegen und dieser legte die seine mit einem Ausdruck solcher stillen Bewunderung in dieselbe, als stände Peter Schwalbe bereits, zum geistigen Riesen emporgeschossen, vor ihm, und er selbst sei ein Zwerg, über welchen der Zukunftsphilosoph schützend seine Arme breite. Als die beiden Knaben sich getrennt hatten, war eine wunderbare Veränderung mit ihnen vorgegangen. Peter schien plötzlich um ein paar Jahre älter geworden zu sein, das Bewusstsein eines eigenen freien Wissens hatte sich seiner bemächtigt und mit stolz erhobenem Kopf und festen Schrittes eilte er dem väterlichen Haus zu. Gottlieb dagegen kam es vor, als sei er erst jetzt unter Dach und Fach gebracht und könne sich des behaglichen Genusses künftiger Sicherheit überlassen. Und doch waren es beide erst zwei Kinder, die noch keinen eigenen Willen besaßen. Aber ein Gefühl der Sicherheit hatte sich ihrer bemächtigt. Es war von ihnen ein bestimmter Gedanke und ein fester Entschluss aus gesprochen worden und geheimnisvoller Entwicklungsgang der menschlichen Natur! Was den Jüngling oder Mann einst zur Tat begeistern soll, muss schon in der Seele des Knaben als keimende Saat aufgehen und zum lebendigen Gedanken werden.

Etwa ein halbes Jahr nach diesem Vorfall ließ der Getreidespekulant eines Tages seinen Sohn in seinem Arbeitszimmer kommen. Die Türen des feuerfesten Tresors waren weit geöffnet und Haufen von Gold und Silber, Pakete von Banknoten und geldwerte Dokumente starrten dem Eintretenden entgegen. Mit dem Gefühl behaglicher Sicherheit schritt Herr Schwalbe senior in dem Gemach auf und ab, nur von Zeit zu Zeit blieb er stehen und warf einen zärtlichen Blick auf seine angehäuften Schätze, selbstzufrieden strich er sich mitunter das Kinn und sonderbare Gedanken schienen ihn in diesem Augenblick aufzuregen.

»Nur die Lumpen sind bescheiden«, murmelte er, »unsereins braucht das nicht! … Da sprechen die Leute von Menschenwürde … pah, in meinen Augen ist das ein Blatt unbeschriebenes Papier, welches keinen Wert für mich hat! Da reden sie auch von Geist und Gemüt, aber weder das eine noch das andere bringt einen Heller ein. Makulatur, nichts als Makulatur, die man in den Ofen steckt! Dort, dort«, und er zeigte dabei auf seinen Geldschrank, »dort ruhen die Zauberwaffen, mit denen man die Welt regiert! Nun, ich denke, ich kann mich mit in Reih und Glied stellen und der Bube, der Peter … oh, wenn ich ihm nur so recht meine Gesinnung beibringen könnte … aber es wird schon kommen, es wird schon kommen … Rom ist auch nicht in einem Tage gebaut worden. Und wenn er sich erst an den Klang des Geldes gewöhnt hat … oh, was das für ein schöner, für ein herrlicher Klang ist und wie das den Wert der Menschenwürde erhöht und einem ein Gefühl der Erhabenheit und Unantastbarkeit einflößt!«

Herr Schwalbe hatte sich bei diesem interessanten Thema so in sein Selbstgespräch vertieft, dass von ihm der Eintritt des Knaben gar nicht gehört worden war und dass er ihn erst jetzt bemerkte, als dieser dicht neben ihm stand.

»Papa, du hast mich rufen lassen«, begann Peter, »hast du mir etwas mitzuteilen?«

Der Getreidespekulant befand sich in der angenehmsten Stimmung, er war ja noch soeben zum vollen Bewusstsein seiner unantastbaren Erhabenheit und Größe gelangt. Indem er daher dem Kind schmeichelnd mit der Hand über das Haar strich, sagte er:

»Ja, mein Sohn, ich habe dich rufen lassen, um dich trotz deiner Jugend in ein großes Geheimnis einzuweihen.«

»Hast du vielleicht das Perpetuum mobile erfunden?«, fragte Peter trocken, indem er seinen Vater neugierig ansah.

»Dummes Zeug!«, schrie dieser unwirsch auf, »ich gebe den Kuckuck etwas auf solche Albernheiten, hier handelt es sich um weit wichtigere Dinge, um deine Zukunft, um deinen Ruhm, um Deine Stellung in der Welt.«

»So wollen Sie mich also wirklich Philosoph werden lassen?«, fragte unser Bekannten und sein Gesicht begann zu strahlen.

Herr Schwalbe senior stampfte mit dem Fuß auf und seine Augen fingen unheimlich zu rollen an.

»Bleibe mir mit solchen Narrheiten vom Leibe«, rief er zornig, »das sind brotlose Künste und ebenso gut könntest du auch gleich unter die Seiltänzer gehen.«

»Ich werde aber doch Philosoph«, antwortete Peter ziemlich trotzig.

Herr Schwalbe blieb einen Augenblick mit offenem Mund sprachlos stehen. Dann besann er sich und sagte: »Erst musst du doch das Geheimnis kennenlernen, was ich dir lehren will.«

»Und, worin besteht denn dieses, Vater?«

»Das sollst du gleich hören.« Er nahm den Knaben bei der Hand und führte ihn vor den Schrank, in welchem er seine Schätze aufbewahrt hatte. »Siehe hier, was ist das?«

»Geld, sehr viel Geld.«

»Nun, ich will dir das Geheimnis lehren, noch mehr Geld zu machen.«

»Sie sind doch nicht etwa ein Falschmünzer?«, fragte unser Bekannter, indem er scheu zu seinem Vater emporblickte.

»Gott stehe mir bei, ist denn der Junge ganz vernagelt! Schlägt denn dein Herz nicht höher beim Anblick dieser Herrlichkeiten?«

»Vom philosophischen Standpunkt aus ist Geld nur Chimäre«, antwortete Peter mit dem größten Ernst.

»Junge, willst du denn ganz und gar mein Blut verleugnen? Hast du denn gar keinen Sinn für das, was den Menschen allein groß macht und ihm Würde verleiht? … Komm her, sieh dir die Banknoten, sieh dir das Gold und Silber an, schlägt denn dabei dein Herz nicht höher und fühlst du denn nicht den edlen Beruf in dir, dieses Metall und diese Banknoten zu deinem Wohl und deiner Ehre in derselben Weise zu vermehren, wie ich dies getan habe?«

»Ich will keine so alte Geldprotze, wie du eine bist, werden«, platzte Peter heraus.

»Alte Geldprotze, wie ich bin?« Herr Schwalbe wurde gelb und grün im Gesicht. Es war ihm, als wenn er plötzlich von der Höhe des Piedestals, welches er sich aufgebaut hatte, mit Gepolter herabstürzte. Ingrimmig hob er den Arm, in blinder Wut fiel seine Hand nieder und klirrend stürzte eine kostbare Uhr von der Konsole, während Peter rechtzeitig eine Zuflucht unter dem Tisch gesucht hatte und dort, allerdings nicht ohne Bangen, das Weitere abwartete.

Inzwischen öffnete sich die Tür und das strenge Gesicht der Frau Schwalbe, mit den fest zusammengekniffenen Mundwinkeln zeigte sich zwischen derselben. »Was geht hiervor?«, fragte sie, indem sie ihrem Mann einen scharfen Blick zuschickte.

Es war sonderbar, der stolze hochmütige Geldmensch schmolz jedes Mal wie Butter zusammen, wenn er seiner Gattin gegenüberstand. Er war dann ein gezähmter Tiger, welcher demütig zu Kreuze kroch.

»Meine Liebe«, antwortete er daher auch sehr kleinlaut, »an all dem Unheil ist dort der junge Mensch schuld, welcher sich meiner väterlichen Züchtigung durch die Flucht unter den Tisch zu entziehen wusste.«

»Nun, und was hat er denn verbrochen?«, fragte Frau Schwalbe im schneidenden Ton, und winkte zugleich den jungen Attentäter zu sich heran.

»Er hat zunächst verächtlich vom Kapital gesprochen.«

Die hagere Dame zuckte mit den Achseln und machte eine spöttische Gebärde.

»Er hat aber auch noch mehr getan, er hat mich eine alte Geldprotze genannt.«

Ein leichtes Lächeln umspielte die dünnen Lippen der Frau Schwalbe, aber sie unterdrückte dasselbe auch sogleich wieder und fragte den sehr unphilosophisch vor ihr stehenden 14-jährigen Sünder im strengen Ton: »Und du hast dich gegen deinen Vater wirklich so vergessen können?«

»Mama, der Ausdruck entfuhr absichtslos meinen Lippen und ich bitte deshalb pflichtschuldig um Verzeihung.«

»Er ist ein Fantast, ein Narr, er rebelliert gegen das Kapital«, schrie der Getreidehändler dazwischen.

»Das tue ich nicht, Mama, du weißt, dass ich nie über das Taschengeld böse gewesen bin, welches ich erhalte. Aber Papa will, dass ich auch Kaufmann werden soll, und dazu habe ich keine Neigung und deshalb …«

»Er hat keinen Ehrgeiz«, schrie Schwalbe senior abermals, »der Respekt vor dem Kapital fehlt ihm, ich werde es noch erleben, dass er unter die Seiltänzer oder unter die Taschenspieler geht.«

Abermals intervenierte die hagere Dame durch einen strengen Blick.

»Nun, wozu hast du denn eigentlich Neigung?«, fragte sie den Knaben.

»Ich will studieren, Mama, ich will Philosoph werden, ich mag keine alten Geldpro…«

»Da hörst du es «, rief der Getreidehändler, »er nennt mich schon wieder eine alte Geldprotze.«

Diesmal folgte ein sehr strenger Blick vonseiten der Hausfrau. Ihrem Gatten war dieser von anderen Gelegenheiten her bekannt, und er verstummte daher plötzlich, steckte die Hände in die Rocktaschen und lief brummend im Zimmer auf und ab.

»Wir wollen deine Wünsche näher in Erwägung ziehen«, sagte sie zu ihrem Sohn gewendet, »dein Vater hat sich nur einen Scherz mir dir machen wollen und auch er wird dich nicht zu einem Lebensberuf zwingen wollen, zu welchem du keine Neigung zu haben scheinst. Jetzt geh und ich denke, später wirst du den Wert des Geldes von selbst schätzen lernen.«

Die kluge Dame machte hiermit im richtigen Takt einer Szene ein Ende, die in einen häuslichen Zwist auszuarten drohte, bei welchem der 14-jährige Knabe zum Nachteil des Ansehens seines Vaters hätte Zeuge sein müssen. Bevor er sich entfernte, küsste er seiner Mutter sehr dankbar die Hand und sagte: »Mama, glaube ja nicht, dass ich ein Verächter des Geldes bin, und wenn ich einst die Universität bezogen habe, so verspreche ich Papa, ihm hierfür überzeugende Beweise zu liefern. Übrigens braucht man ja gerade nicht ein Diogenes zu werden, wenn man Philosoph wird, aber das erkläre ich noch einmal, eine so alte Geldprotze …«

»Warte, ich werde dir die alte Geldprotze anstreichen«, schrie der Getreidespekulant und stützte mit zornglühendem Gesicht auf unseren Bekannten zu. Allein dieser schlüpfte gewandt zur Tür hinaus und statt seiner erhob ein alter Spitz, welchen Herr Schwalbe senior auf den Schwanz getreten hatte, ein jämmerliches Geschrei und er selbst rieb sich mir einer grimmigen Gebärde die Nase, mit welcher er gegen die scharfe Ecke eines Schreibtisches gestoßen war.

»Blinder Eifer schadet nur«, bemerkte seine Frau trocken, indem sie ihn mit einem verweisenden Achselzucken von oben bis unten ansah, »sich mit einem Knaben in einen solchen kindischen Streit einzulassen, kann nur deinem Ansehen schaden. Im Übrigen sollen die Wünsche unseres Sohnes in Betracht gezogen werden.«

Mit dieser diktatorischen Entscheidung verließ auch Frau Schwalbe das Zimmer, während ihr Mann in diesem noch eine Zeit lang auf und ab rannte und sich einerseits die stark angelaufene Nase rieb, andererseits etwas von ungeratenem Schlingel, von unerträglicher Tyrannei und von unverzeihlicher Respektwidrigkeit gegen das Kapital murmelte.

Der Auftritt hatte aber doch das Gute, dass auch diesmal wie in den meisten anderen Fällen, Frau Schwalbe das letzte entscheidende Wort sprach. Trotz ihres schroffen, abstoßenden Äußeren war sie doch eine Dame von Bildung und Einsicht. Und je weniger sie sich zu ihrem polternden, von Eitelkeit und Hochmut aufgeblasenen Mann hingezogen fühlte, dessen Herz nur der Klang des Geldes rührte und der den Wert eines Menschen bloß nach der Summe seines Vermögens abschätzte, um so mehr liebte sie im Stillen ihren Sohn, obgleich es in ihrer Natur nicht lag, diese Liebe durch übertriebene Zärtlichkeiten öffentlich zur Schau zu tragen.

Ein Festtag war es daher für unseren Peter, als ihm eines Tages die Eröffnung gemacht wurde, dass seinen Wünschen Rechnung getragen werden sollte und dass man bereits alle Anstalten getroffen habe, ihn in einer guten Pension in der Stadt unterzubringen. Auch Herr Schwalbe senior zeigte bei dieser Gelegenheit einen versöhnlichen Sinn und trotz des heimlichen Zuwinkens seiner Frau bemerkte er sehr salbungsvoll, dass der bewusste Gegenstand (Herr Schwalbe machte dabei die Bewegung des Abfeuerns) für immer vergeben und vergessen sein sollte, worauf der angehende Philosoph ihm sehr zerknirscht die Hand reichte und ebenfalls feierlich gelobte, dass die fatale Geldprotze nie mehr von ihm erwähnt werden solle, es sei denn, dass er vielleicht in späterer Zeit als akademischer Bürger in den Fall kommen möchte, seinen Vater ersuchen zu müssen, hier und da einmal ›abzuprotzen‹, um ihn wieder flott zu machen, wenn er, was so doch selbst einem Philosophen passieren könne, zufällig ›aufs Trockene‹ geraten möchte. Nachdem dieser Kontrakt zur allseitigen Zufriedenheit mittelst Handschlag abgeschlossen worden war, eilte unser Peter, seinem Freund Gottlieb von den neuesten, für ihn so erfreulichen Ereignissen Nachricht zu geben. Als beide wieder am Bach unter der breitästigen Ulme saßen und dabei (leider dürfen wir dies nicht verschweigen) unter verschiedenen Gesichtsverzerrungen den schon mehrfach wiederholen Versuch, eine Zigarre zu rauchen, erneuerten, begann unser Bekannter im feierlichen Ton: »Mein lieber Gottlieb, ich habe dir eine Eröffnung zu machen, welche mich auf der einen Seite sehr schmerzlich, auf der anderen aber auch sehr freudig berührt. Von meinem philosophischen Standpunkt aus ist es meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, dass jeder Mensch danach streben muss, sowohl im Schmerz wie im Glück das richtige Maß zu halten. Fasse dich daher und trage mit Gleichmut, was doch nicht mehr zu ändern ist.«

»Oh, ich weiß es schon«, entgegnete Gottlieb leise, indem er dabei traurig den Kopf senkte, »dein Vater hat dir den weiteren Umgang mit mir verboten.«

Peter hüllte sich, gleich Zeus, in eine große Wolke, die er mit aller Anstrengung aus seiner Zigarre hervorstieß. »Kleinmütiger«, rief er vorwurfsvoll, »verfolgt dich noch immer dieses Gespenst?«

»Ja, das Gespenst der Armut«, murmele der weichherzige Knabe, »es verwandelt alles in eine Wüste, wo es erscheint, und auch der Liebe und Freundschaft bringt es den Tod.«

»Nun, uns soll es nichts anhaben. Nein, das ist es nicht, was ich dir eröffnen wollte, Gottlieb. Unserer Freundschaft droht keine Gefahr, aber das Schicksal, oder wie die Alten sagen würden, das Fatum verlangt unsere Trennung.«

Dem treuen Gottlieb fiel die Zigarre aus dem Mund, vielleicht zu seinem Glück, denn bereits hatten sich die deutlichen Vorzeichen eines Zustandes eingestellt, in welchem sich solche jugendliche Attentäter zwischen ›Hangen und Bangen in katzenjammerlicher Pein‹ befinden.

»Du willst mich verlassen?«, rief er bestürzt, »oh, nun werde ich wieder in mein Nichts zurücksinken!«

»Ein Nichts gibt es gar nicht, alles ist Sein«, entgegnete sehr gravitätisch der angehende Philosoph, »später werde ich diesen Satz vom Katheder aus verteidigen.«

Nun ging Gottlieb ein Licht auf. »Du trittst also nicht ins Geschäft«, rief er überrascht.

»Nein, ich studiere.«

»Du wirst also einst ein berühmter Mann, ein großer Gelehrter werden?«

»Vielleicht, ich will mich darüber jetzt noch nicht mit voller Bestimmtheit aussprechen. Und du, Gottlieb, welchen Beruf hast du dir gewählt?«

»Oh, ich!«, erwiderte dieser schüchtern, »mein höchster Wunsch ist, einst eine Kantorstelle zu erhalten. Unser Organist wird mir jetzt Unterricht im Orgelspiel erteilen, später soll ich ins Seminar und wenn alles gut gehr, erhalte ich dann vielleicht auch einmal eine Lehrerstelle.«

»Nun, wenn du später recht schön die Orgel spielst, will ich auch recht fleißig die Kirche besuchen, obgleich sich dies Letztere eigentlich mit der Würde eines Philosophen nicht recht verträgt.«

Wir wollen das, was zwischen den beiden Freunden noch ferner verabredet wurde, nicht weiter ausführen, auch über die Studienjahre von Peter Schwalbe gehen wir nur flüchtig hinweg. Er wurde auf der Universität ein sehr flotter Bursche, brachte es im Biertrinken und Tabakrauchen sehr weit, hielt sich einen Pudel, der ihm den Tabaksbeutel nachtrug, und nötigte seinen Vater sehr häufig schleunigst ›abzuprotzen‹, um ihn wieder ›flott‹ zu machen, bis dieser schließlich in die Ewigkeit abprotzte und ihm ein sehr anständiges Vermögen hinterließ, dessen Verwaltung indessen zum Glück unseres Helden seiner Mutter testamentarisch übertragen worden war. Bei der unsteten Natur und dem exzentrischen Wesen des nunmehr zum ›bemoosten Haupt‹ herangereiften Studio pfropfte er sich den Kopf mit allerhand wissenschaftlichen Gegenständen voll, bis sich diese zuletzt so durcheinander mischten, dass er weder von dem einen noch von dem anderen gründlich etwas wusste. Zuletzt wurde er schwermütig (wie der Doktor behauptete, infolge des vielen Biertrinkens) und beschäftige sich in diesem Zustand mit der anziehenden Lektüre über des berühmten Hieronymus Jobs Leben und Taten, wobei er zum ersten Mal des Herrn Schwalbe senior mit wahrhafter Pietät gedachte, denn nie würde der selige Kandidat Jobs bis zum Nachtwächter herabgesunken sein, wenn er einen Vater gehabt hätte, von dem ihm nur ein halb so wohlgefüllter Protzkasten hinterlassen worden wäre, wie er ihn von dem verblichenen Kornspekulanten geerbt hatte. Was ihn auch noch mit besonderer Bewunderung gegen den Kandidaten Jobs erfüllte, war die Art und Weise, wie er sich im Examen benommen hatte und wenn diesem dabei das Unglück passiert war, durchzufallen, so entschuldigte unser Peter dies damit, dass alle großen Männer ihre Neider hätten, und dass bereits manches verkannte Genie durch den Undank der Menschen zugrunde gerichtet worden sei. Aber gleichzeitig trat auch an ihn die Notwendigkeit immer näher heran, der Welt, und insbesondere den Herren Professoren zu zeigen, wie weit er es in seinen philosophischen Studien gebracht hatte. Bereits war ihm ein Termin angesetzt worden, wo er in der Aula öffentlich promovieren sollte. Noch sah es in seinem Kopf so leer aus, als wenn dieser eine Tenne wäre, auf welcher Stroh gedroschen werden sollte. Indessen war unser Bekannter nicht der Mann, um sich durch solche Kleinigkeiten einschüchtern zu lassen. Zunächst zog er in Betracht, dass es unter den Hunderttausenden von Doktoren der Philosophie, mit denen Deutschland ebenso gesegnet ist wie Neapel mit Lazaronis, eine respektable Menge gebe, deren Doktorhut mit Heu und Werg ausgefüttert sei, dann hatte er aber auch, dank der Fürsorge seiner Mutter, einen Empfehlungsbrief beim Dekan der Fakultät abgegeben und war als ein junger Mann, der einst ein erhebliches Vermögen zu erwarten habe, von der Frau Professor und deren Tochter sehr zuvorkommend empfangen worden, sodass man also nicht wissen konnte … er hatte nämlich der etwas stark impertinent blonden Therese nach Kräften den Hof gemacht, und dem Dekan war es auch nicht zu verdenken, wenn er seine Tochter unter die Haube zu bringen suchte, ergo, so resümierte unser Peter weiter, konnte man so nicht wissen, ob der Dekan seine Doktorpauke nicht als etwas außergewöhnlich Geistreiches bezeichnen und ihm das ausgefertigte Diplom unter warmen Händedruck und mit der Bemerkung überreichen würde, dass seine Tochter Therese sehnlichst wünsche, ihn so bald wie möglich zu der neu erlangten Würde ihre Glückwünsche darzubringen.

Es handelte sich nur darum, welches Thema der junge Schwalbe zum Gegenstand seiner Dissertation wählen würde, aber hierüber war von ihm selbst von seinen intimsten Bekannten nichts herauszubringen. Er bemerkte nur, er werde sie alle durch eine ganz neue Definition eines bekannten philosophischen Satzes überraschen, im Übrigen trinke er schon seit vierzehn Tagen nichts als Selterwasser, denn er bedürfe eines klaren Kopfes. Aber wie gesagt, er hoffe der Fakultät ein Licht unter die Augen zu halten, wie solches seit des seligen Hieronymus Jobs Zeisen nicht mehr angesteckt worden sei.

Endlich erschien der bedeutungsvolle Tag, wo unser Bekannter vor einer großen Versammlung zeigen sollte, ob er würdig sei, den Doktorhut zu tragen. Leider gestattet es uns der Raum nicht, hierbei, wie wir es wohl wünschten, auf die Details einzugehen. Wir können nur bemerken, dass Peter Schwalbe mit einer Kaltblütigkeit und Ruhe, die schon im Voraus für ihn einnahm, das Katheder bestieg. Dort lehnte er sich einige Augenblicke herausfordernd auf den Rand desselben und dann erklärte er, er habe den Satz »Es gibt kein Denken ohne ein Sein« zu seinem Thema gewählt.

»Sein, meine Herren«, fuhr Schwalbe mir erhöhter Stimme fort, »heißt im Lateinischen, wie Sie alle wissen, esse. Es gibt also kein Denken ohne Essen und je feiner man isst, desto schärfer gestalten sich die Gedanken.« Als nun aus der Korona jemand rief: »Ich muss dies bestreiten«, schmettere ihn unser Bekannter mit den Donnerworten nieder. »Sie haben nichts zu bemerken!« Und verließ nach diesem abgekürzten Verfahren unter lautem Applaus das Katheder um die Dinge, die nun ferner kommen würden, abzuwarten.

Und wirklich überreichte ihm der Dekan unter warmem Händedruck die Rolle, welche sein Doktordiplom enthielt und lud ihn gleichzeitig für den anderen Tag unter einem bedeutsamen Augenblinzeln im Namen seiner Frau und ganz besonders im Namen von Therese zum Mittagstisch ein. Doktor Schwalbe aber, wie er jetzt ein Recht hatte sich zu nennen, merkte den Braten, zu dem er gar keinen Appetit verspürte, und ließ wegen plötzlich eingetretenen Unwohlseins absagen, und als der Professor nun selbst erschien, um sich von dem Zustand des verdächtigen Kranken zu überzeugen, fand er ein leeres Nest, denn Schwalbe harre schleunigst seinen Koffer gepackt und flog bereits mit der Eisenbahn seiner Heimat zu. Die hochblonde Therese schwor zwar im ersten Zornesanfall der getäuschten Hoffnung von nun an allen Männern mit Verachtung den Rücken zu kehren. Als es sich aber beim nächsten Ball ein hübscher Jägeroffizier zur Aufgabe stellte, ihre Eroberung zu machen, erging es ihr wie Zerline. Sie fragte die Mutter, was sie dazu meine und diese antwortete, eine Schwalbe mache ja noch keinen Sommer, sie aber stehe ja noch im Frühling und ein Hauptmannspatent sei jedenfalls ebenso gut wie ein Doktordiplom.

Inzwischen gelangte unser Bekannter auf der letzten Station an und dort erwartete ihn bereits der treue Gottlieb. Seine Augen glänzten, als er den so lange entbehrten Freund erblickte, aber erst völlig war er sich wieder selbst zurückgegeben, als ihn Peter voll Innigkeit an seine Brust zog und mit der früheren warmen Herzlichkeit ansprach.

»Wie geht es dir, alter Junge?«, fragte unser Bekannter, als er mit seinem Jugendfreund in dem bereitstehenden Wagen saß und diesem in das treue Antlitz blickte.

»Oh Gott, Peter«, antwortete dieser, in seiner Bewunderung die Frage völlig überhörend, »also wirklich Doktor? … Ach, jetzt komme ich mir doppelt klein dir gegenüber vor!«

»Sei kein Narr«, antwortete Schwalbe, obgleich diese Bewunderung seiner Person ihn im Stillen doch schmeichelte, »erzähle mir lieber, wie es dir ergangen ist. Hast du deine Examina ebenfalls bestanden?«

»Zu dienen, Herr Doktor.«

»Gottlieb!«

»Also ich soll dich wirklich wie früher Peter nennen?«

»Selbstredend, Gottlieb. Wie steht es mit deiner Existenz?«

»Na, ich denke es wird sich machen«, antwortete dieser, in der ihm angeborenen Bescheidenheit, wobei ihm jedoch unwillkürlich ein Seufzer entschlüpfte. »Einstweilen fungiere ich als Hilfslehrer, und wenn der alte Organist wegen Kränklichkeit verhindert ist, vertrete ich ihn beim Orgelspiel.«

»Gut, Gottlieb, das andere wird sich finden. Mach dir wegen deiner Zukunft weiter keine Sorgen.«

Das Wiedersehen unseres Helden mit seiner Mutter war ein solches, wie dies der Charakter beider mit sich brachte. Es lag nun einmal in der Natur der Witwe des Kornhändlers, äußerlich eine Kälte und Steifheit an den Tag zu legen, wodurch sie häufig in den Verdacht der Gefühllosigkeit geriet, aber ihre Augen blitzten doch auf, als sie den in voller Gesundheit strotzenden Sohn in ihre Arme schloss, und ein beseligendes Lächeln erhellte für einige Augenblicke ihre sonst so strengen Züge. Sie kränkelte übrigens schon seit längerer Zeit und von der Szene des Wiedersehens ergriffen, sank sie, nachdem sie unseren Bekannten kaum aus ihren Armen entlassen hatte, erschöpft in den weichen Lehnstuhl zurück. Peter liebte seine Mutter, aber er hatte einen zu flüchtigen unsteten Charakter, um die Veränderungen, welche mit ihrem Äußeren vorgegangen waren, zu bemerken. Er küsste sie voll Innigkeit, er sprach sogar seine Freude darüber aus, dass er sie ebenso gesund wiedergefunden wie er sie verlassen hatte, obgleich dies keineswegs der Fall war. Damit glaubte er aber auch den Pflichten seines Herzens vollständig genüge getan zu haben. Und da er auf der Universität inzwischen ein vollendeter Renommist geworden war, so begann er alsbald sich in eine Menge Aufschneidereien zu ergehen, welche der von Mutterliebe geblendeten alten Frau dann auch schließlich wirklich die volle Überzeugung beibrachten, dass ihr Sohn ein Ausbund von Gelehrsamkeit sei, dass er keinen akademischen Ball verlassen habe, ohne den Herzensfrieden von wenigstens einem Dutzend junger Damen zu stören und dass Peter Schwalbe allen neu ankommenden Füchsen als das Muster eines vollendeten flotten Burschen zur Nachahmung empfohlen worden sei. Sowohl diese Aufschneidereien als auch das Verlangen, über seine Umgebung eine möglichst unbedingte Herrschaft auszuüben, bildeten die Schattenseiten unseres Helden. Doch wer hat diese nicht, und bei unserem Bekannten wurden sie durch ein offenes, redliches Herz, durch Freigiebigkeit und durch die drollige, oder besser gesagt, durch die konfuse Weise, wie er seine philosophischen Anschauungen zur Geltung brachte, in mehr als genügender Weise ausgeglichen. Niemand war nun besser dazu angetan die glänzenden Eigenschaften des neu ernannten Doktors anzuerkennen und zu bewundern, als sein Freund Gottlieb. Gottlieb war der treue Pudel, welcher ihm auf Schritt und Tritt folgte und der auch ohne zu murren einen moralischen Fußtritt hinnahm, wenn sein Prorektor gerade nicht in der besten Laune war. Gottlieb hörte mit offenem Mund zu und in seinem Kopf ging es wie ein Mühlrad herum, wenn der Herr Doktor mit der ihm angeborenen Renommage seinen philosophischen Blödsinn zum Besten gab. Gottlieb machte endlich ein von Befriedigung strahlendes Gesicht, wenn Hans sein Orgelspiel lobte und mit der Miene eines Mäzen erklärte, dass er stets auf seine Protektion rechnen könne.

Endlich kam auch die Zeit, wo der alte Organist sein Amt aufgeben musste, weil der Mann mit der Sense und dem Stundenglas eines Tages erschien und ihn zu einer Reise in die andere Welt einlud. Doktor Schwalbe erfreute sich sowohl seines akademischen Grades als auch als bedeutender Grundbesitzer eines überwiegenden Einflusses im Ort, und so fiel es ihm denn auch nicht schwer, seinem Freund die nunmehr erledigte Kantorstelle zu verschaffen.

»Von dem Amt eines Lehrers suspendiere ich dich«, hatte hierbei der Doktor mit der ihm eigenen Protektormiene bemerkt, »ich will nicht, dass du in der dumpfen Luft einer Schulstube verkümmerst, ich brauche einen Gesellschafter, und Du, Gottlieb, verstehst es am besten, dem philosophischen Entwicklungsgang meines Geistes zu folgen.«

Gottlieb fühlte sich durch dieses Zeugnis der Reife, welches sein Beschützer ihm erteilte, außerordentlich geschmeichelt und rieb sich in derselben behaglichen Weise die Hände, in welcher etwa ein treuer Spitz mit dem Schwanz wedelt. Denn wie wir wissen, war derselbe zwar ein herzensguter Mensch, aber zu den großen Geistern gehörte er nicht und schon manchmal war ihm im Stillen eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen, wenn er an den Zeitpunkt dachte, wo er der ihm anvertrauten Jugend die vier Spezies beibringen sollte. Nun war er diese Last los und das Gefühl der Dankbarkeit für denjenigen, der ihn davon befreit hatte, steigerte sich bei der treuen Seele dadurch nur noch mehr.

Die Mutter des Doktors erlag übrigens nach einigen Jahren ihrer schon so lange andauernden Kränklichkeit und sie folgte ihrem Gatten ins Grab. Hans betrauerte diesen Verlust mit aufrichtigem Herzen. Als Philosoph verstand er es jedoch, sich schließlich in das Unvermeidliche zu finden und zugleich dachte er daran, sich seine Häuslichkeit ganz seinem Geschmack und seinen Neigungen gemäß einzurichten.

Dass hierbei überall die Spuren eines Junggesellenlebens sichtbar wurden, war selbstredend, man würde es aber auch gleich an dem bunten Durcheinander erkannt haben, dass hier nicht der ordnende Geist einer Hausfrau waltete. Dass die Büsten Platos und des Sokrates auf dem Zylinderbureau des Doktors ausgestellt waren, versteht sich von selbst. Ebenso gehörte es zur Sache, dass eine ausgewählte Bibliothek, in welcher die Schriften der alten und neuen Philosophen vertreten waren, in mehreren eleganten Glasschränken sein Arbeitszimmer zierte. Im Übrigen aber trat überall eine geniale Unordnung hervor, die nur teilweise durch den dicken Tabaksqualm, der sich in den Gemächern verbreitete und an den Tapeten ansetzte, verschleiert wurde. Da Doktor Schwalbe indessen doch nicht ganz ohne Bedienung sein konnte, so hatte er sich neben einem alten, bereits sehr steifen Diener, den er von seinen Eltern als Inventar übernommen, eine 20-jährige, in üppiger Fülle aufgeschossene Haushälterin zugelegt, der er den Namen Phöbe gab und deren schwarze verführerische Augen allerdings geeignet waren, die Lehre von der Kritik der reinen Vernunft selbst bei einem so starken Geist, wie unser Bekannter war, etwas in Verwirrung zu bringen. Allein Doktor Schwalbe wusste sich zu helfen.

Wenn der etwas linkische Gottlieb mitunter vor den brennenden Blicken der modernen Phöbe schüchtern die Augen niederschlug, lachte ihm sein Herr und Meister ins Gesicht und sagte: »Nun, alter Knabe, du tust ja gerade so, als wenn Du nicht drei zählen könntest und machst ein Gesicht, als hätte dir Frau Potiphar wegen unzeitiger Blödigkeit so eben eine Ohrfeige appliziert … Die Phöbe ist ein sehr sittsames und tugendhaftes Mädchen, und ich habe sie bloß in mein Haus genommen, weil dies meinem angeborenen Schönheitssinn entspricht. Ein Gegenstand, auf den sich meine Augen stündlich richten, muss einen angenehmen Eindruck auf mich machen, dies entspricht den Gesetzen der Ästhetik, und du wirst wohl daran tun, Gottlieb, dir dies zu merken. Denn ich möchte nicht gern, dass du mich am Ende im Verdacht einer adamitischen Ehe hättest.«

Gottlieb Schnorpel rückte auf seinem Sessel verlegen hin und her.

»Es fällt mir nicht im Entferntesten ein«, stotterte er, »gegen die Jungfer auch nur den leisesten Verdacht zu hegen. Aber was deine adamitische Ehe anbelangt, so bist du wohl der Ansicht, dass dieselbe nach unseren heutigen Begriffen keine gültige gewesen ist?« Schwalbe, in dessen eitler Statur es lag, womöglich nach allen Seiten hin als Gelehrter zu glänzen und der deshalb auch gern den Freigeist spielte, fasste diese Frage mit besonderem Wohlgefallen auf und brach in ein helles Gelächter aus.

»Oh, heilige Einfalt«, rief er, »der Mensch sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht! Gültig? Möchte wissen, wo das herkommen sollte! Ein Männlein und ein Weiblein, die sich zufällig im Paradies begegnen … Na, ebenso gut könnte ich mit irgendjemandem im Wald von ungefähr zusammentreffen!«

Schnorpel wagte selten zu widersprechen, aber diesmal empörte sich sein christlicher Sinn doch zu sehr gegen eine solche atheistische Anschauung. Mit mehr Courage als er sich selbst zugetraut hatte (beide waren bereits bei der dritten Flasche) erwiderte er: »Und doch behaupte ich, dass Adam und Eva erst recht in ordnungsmäßiger Ehe gelebt haben, denn Gott hat ja beide unmittelbar selbst zusammengetan.«

Diesmal fühlte sich der Doktor geschlagen, dennoch aber wusste er seine Niederlage geschickt zu parieren, indem er rief: »Bravo, Gottlieb! Ich sehe, dass du im Umgang mit mir Fortschritte machst. Dennoch aber halte ich es für eine Pflicht, dich den Frauen gegenüber zur Vorsicht zu mahnen. Je harmloser sie sich stellen, desto gefährlicher sind sie. Phöbe ist zwar bis zur Ausgelassenheit tugendhaft, aber wer weiß … es könnte ja der Fall eintreten, dass ich einmal auf längere Zeit verreisen müsste und dass dir dann die Pflicht obläge, mein Haus zu hüten, nun mache dir einmal den Fall recht deutlich … wäre es auch nur, um dich auf die Probe zu stellen … Gelegenheit macht Diebe … deshalb, Gottlieb, vergiss nie die Worte des Dichters:

Trau nicht dem Weibe, Freund, in ihren Netzen

Ist erst Berauschung und sodann Entsetzen …

Peter Schwalbe lachte innerlich, als er sah, wie der ehrliche Gottlieb bald blass, bald rot wurde, denn er wusste, dass die Blicke desselben auf der schlank und üppig gebauten Phöbe häufig heimlich mit sehnsüchtigem Verlangen geruht hatten. Und nun glaubte sich dieser wirklich bereits wie ein Dieb auf der Tat ertappt, obgleich er nicht das Geringste getan hatte, was ihm von seinem Freund hätte einen Vorwurf zuziehen können. In der neckischen Natur Schwalbes lag es nun aber einmal, sich durch derartige Scherze die Zeit zu vertreiben, und Schnorpel war bei seiner Gutmütigkeit und bei seinem etwas beschränken Verstand gerade die Person, um sich zur Zielscheibe derselben herzugeben. Bei der großen Ehrfurcht, die er vor dem Verstand des Doktors empfand, und bei der tiefen Dankbarkeit, welche er gegen denselben fühlte, schmerzte ihn jeder Verdacht, mochte derselbe auch noch so leise hervortreten, und er schlich daher auch diesen Abend sehr niedergeschlagen nach Hause, während sich Schwalbe ins Fäustchen lachte und sich mit dem Bewusstsein zu Bett legte, sich aufs Beste amüsiert zu haben. Man muss dem Letzteren aber auch wieder die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er seine Überlegenheit über seinen Freund Schnorpel nie missbrauchte, dass er nie verletzend wurde und seine Witzeleien nie weiter ausdehnte, als dies Gottlieb eben vertragen konnte. Dabei machte er diese kleinen Ausschreitungen seines Humors durch die Liebe, welche er seinem Freund gegenüber vor der Welt an den Tag legte, zur Genüge wieder gut. Kein anderer hätte es wagen dürfen, demselben auch nur mit einem Wort zu nahe zu treten und die Achtung, welche er für sich beanspruchte, beanspruchte er auch für seinen Kastor, wie er Gottlieb nannte. Auf diese Weise führten beide ein sehr behagliches Leben, Schnorpel hatte sich an die geistige Überlegenheit seines Freundes gewöhnt und nahm jede Zurechtweisung, die er von demselben erhielt, als eine Sache, die ganz in den Ordnung sei, geduldig hin. Und da der wohlgefüllte Weinkeller des Doktors nie leer wurde, so vermehrte dies noch die Behaglichkeit beider Herren. Wenn die schwarzäugige Phöbe häufig dann wohl noch in später Abendstunde eine neue Flasche bringen musste und Gottlieb dabei der Versuchung nicht widerstehen konnte, heimlich zu ihr hinüberzublinzeln, dann hob Schwalbe in neckischer Laune drohend den Finger in die Höhe und sagte: »Hüte dich, alter Knabe, du bist erkannt!« »Wieso?«, fragte Schnorpel verwirrt, denn er konnte nicht in Abrede stellen, dass er auf frischer Tat ertappt worden war.

»Wieso? Kennst du denn nicht das Sprichwort Ubi Bachus ibi sedet Venus post fornacem

»Was heißt das auf Deutsch?«

»Nun: Wo Bachus weilt, da sitzt auch Venus am Herde.«

Gottlieb machte ein Armesündergesicht. »Ja, ja, die Phöbe, die Phöbe!«

Er nahm sich fest vor, sie gar nicht mehr anzusehen und dennoch ruhten seine Blicke das nächste Mal wieder heimlich auf ihr. Sie blieb für ihn die Zirze, deren Zauber er, trotz aller Ankämpfung, immer wieder unterlag.

Auf diese Weise war den beiden Freunden im süßen Nichtstun manches Jahr verflossen. Doktor Schwalbe hatte die Lücken, welche zeitweise in seinem Weinkeller entstanden, stets gewissenhaft ergänzt, der aufsteigende Dampf der feinen Regalia schwärzte die einst hellen Tapeten schließlich bis zur Unkenntlichkeit, der Philosoph wurde immer gelehrter, oder, um von der Wahrheit nicht zu sehr abzuweichen, immer konfuser in seinen Begriffen. Schnorpel zeigte sich zu dessen Befriedigung ununterbrochen, als ein sehr wissbegieriger Schüler und spielte dabei des Sonntags mit wahrer Meisterschaft die Orgel. Und auch die schwarzäugige Phöbe trieb ihr Spiel, aber ganz im Geheimen, sodass Gottlieb, trotz alles Widerstrebens und fast unbewusst, von dem Zauber ihrer Blicke so umstrickt wurde, dass er bereits in einsamen Stunden mit Schrecken an den Augenblick dachte, wo das Schicksal ihn vielleicht auffordern würde, zu zeigen, ob er stark genug sei, das dem Freund gegebene Versprechen zu halten und lieber, wie einst der keusche Joseph, den Mantel im Stich zu lassen, als der Toni, deren Tugend der Doktor freilich jedes Mal mit einem höchst verdächtigen Lächeln immer bis in den Himmel hob, vielleicht einmal im Taumel liebeglühender Leidenschaft Anträge zu machen, die sein ganzes Renommee bei ihr für immer vernichten konnten. So standen die Sachen, als die Freunde eines Tages in gewohnter Gemütlichkeit wieder zusammensaßen.

»Gottlieb«, begann der Doktor, indem er mit diesem anstieß und sich darauf sehr feierlich in seinen Sessel zurücklehnte und gleichzeitig in eine dicke Tabakwolke hüllte. »Wenn ich es mir so recht überlege, Gottlieb, so finde ich schließlich, dass doch eigentlich in jedem Menschen etwas steckt.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte dieser schüchtern, »meinst du damit im Magen oder im Kopf?«

»Schnorpel«, bemerkte Schwalbe im verweisenden Ton, »du musst mir nicht solche verfängliche Fragen vorlegen. Höre hübsch zu, wenn ich spreche und lass dich belehren. Du kannst dabei noch viel lernen, aber Widerspruch dulde ich nicht und das kannst du einem Mann, wie ich es bin, der die ganze Enzyklopädie im Kopf hat, auch nicht verdenken.«

Diese Philippika seines Meisters erschütterte den ehrlichen Gottlieb tief. Er fühlte, dass er sich durch eine vorlaute Frage vergangen hatte und wie immer, so war er auch nun durch ein reumütiges Bekenntnis bereit, die aufsteigenden Zorneswellen seines Beschützers zu besänftigen. Sehr kleinlaut und mit um so milderer Stimme, da er bemerkte, dass Schwalbe eben die dritte Flasche entkorkte, antwortete er daher: »Es lag durchaus nicht in meiner Absicht, einem so erleuchteten Geist, wie der deine ist, Opposition zu machen. Ich begnüge mich damit, dein Genie zu bewundern. Wenn dir die Frage, welche ich soeben getan habe, nicht gefällt, so wollen wir sie als ungeschehen betrachten.«

»Na«, entgegnete der Doktor mit möglichster Würde, »ich will es dir glauben, Schnorpel. Ich kenne deine Wissbegierde und es ist wahr, einen Verdacht soll man gegenüber einem Freund nicht so ohne Weiteres aufkommen lassen. Aber du bist selbst schuld daran, denn neulich in der Dämmerstunde, als es schon schwer wurde, bei dem hereinbrechenden Dunkel Personen und Sachen zu unterscheiden, entwickelte ich dir, wie du dich erinnern wirst, in sehr gelehrter Weise meine Theorie über die Abstammung des Menschen vom Affen. Du nicktest dabei beständig beistimmend mit dem Kopf, worüber ich mich natürlich sehr freute, bis ich schließlich etwas genauer zu dir hinsah und nun zu meinem höchsten Befremden bemerkte, dass dein Nicken mit dem Kopf daher rührte, weil du ganz gemütlich eingeschlafen warst.«

»Ja«, bemerkte Schnorpel, sich etwas verlegen hinter dem Ohr kratzend, aber doch mit einer gewissen Schlauheit, »darin liegt für dich eigentlich mehr Schmeichelhaftes als Verletzendes. Deine Deduktionen waren nämlich so haarscharf und wirkten auf mein Gehirn so erschütternd, dass ich geistig ganz betäubt wurde und gewissermaßen in einen spirituellen Schlaf verfiel, wobei ich aber doch alles hörte und wohl verstand, was du sagtest.«

»Wenn sich die Sache so verhält, dann ist es allerdings etwas anderes«, rief nun Schwalbe in einem sehr versöhnlichen Ton. »Ja, siehst du, Freund, jetzt erscheinst du mir in einem ganz neuen Licht, und nun will ich dich auch mit einem großen Entschluss, den ich gefasst habe, bekannt machen.«

»Mit einem großen Entschluss?«, wiederholte Schnorpel und richtete sich gespannt empor.

»Allerdings, Freund. Wir werden uns wohl auf eine Zeit lang trennen müssen.«

Gottlieb senkte den Kopf. Er hatte sich bereits an die Gesellschaft des Doktors so gewöhnt und unter der Vormundschaft desselben führte er ein so behagliches Leben, dass ihn diese Nachricht wie ein Blitz aus heiterer Höhe traf.

»Na, beruhige dich nur«, sagte sein Protektor, »diese Trennung wird nicht ewig dauern und überdies setze ich dich während meiner Abwesenheit zum Majordomus ein, sodass dir nichts abgehen wird. Aber siehst du, Gottlieb, der Mensch ist sich selbst auch etwas schuldig, und was hilft mir all mein vieles Wissen, wenn die Welt nichts davon erfährt. Wer heutzutage einigermaßen zur Berühmtheit gelangen will, muss in die Öffentlichkeit treten, mag er nun Politiker oder Gelehrter sein. Ich habe deshalb beschlossen, ein Werk zu schreiben.«

»Ein Werk zu schreiben?«, rief Schnorpel und blickte seinen Freund halb erschrocken, halb erstaunt an.

»Ja, ein sehr gelehrtes Werk. Es soll den Titel Psychologische Studien führen. Nun begreifst du wohl, dass ich mir hierzu erst das erforderliche Material sammeln muss.«

»Aber das könntest du ja auch hier tun«, warf Gottlieb schüchtern ein.

Der Doktor brach in ein etwas spöttisches Gelächter aus. »Wo denn? Etwa bei dir und dem alten Josef?«

Schnorpel duckte sich, als ob er unter dem Tisch verschwinden wollte. Er fühlte in diesem Augenblick seine ganze Nichtigkeit dem großen Philosophen Schwalbe gegenüber.

»Ich habe daher beschlossen zu reisen«, fuhr dieser fort, »nur im Umgang mit Menschen kann ich mir den Stoff, dessen ich zu meiner gelehrten Arbeit bedarf, sammeln.«

»Ich will deinem Ruhm nicht im Wege sein«, bemerkte Gottlieb resigniert, »die Welt soll einst nicht mit Fingern auf mich zeigen und sagen ›Da steht das Hindernis, über welches Doktor Schwalbe stolperte, als er im Begriff stand, den Weg zur Unsterblichkeit zu betreten.‹ Nein, hierzu besitze ich kein Recht, das fühle ich, und auch die Freundschaft hat ihre Grenzen.«

»Daran erkenne ich die Erhabenheit deiner Gesinnung, mein Kastor«, rief Schwalbe gerührt, wobei er infolge des reichlich genossenen Weines sehr kleine Augen machte. »Ich werde dir dafür auch aus Dankbarkeit ein besonderes Kapitel in meinem Werk widmen und demselben eine passende Illustration beifügen.«

»Wie, ich soll die Unsterblichkeit mit dir teilen?«, rief Schnorpel gerührt, »nein, ich bitte, lass das sein, ich würde zu sehr gegen dich abstechen.«

»Gottlieb, du treibst die Bescheidenheit zu weit. Hast du nicht schon gehört, dass man auch eine Null in eine große Zahl verwandeln kann?«

»Ja, wenn man eine Drei oder Vier davor setzt und noch fünf oder sechs Nullen daran hängt.«

»Na, siehst du, derartige unsterbliche Nullen gibt es verschiedentliche. Die Anhängsel sind die klugen Leute gewesen, welche solche Nullen als Ratgeber gehabt haben.«

»Wann willst du denn aber deine Reise antreten?«, fragte der Organist.

»Oh, ich nehme nur wenig Gepäck mit und werde also bald mit meinen Vorbereitungen fertig sein. Morgen Nachmittag halte dich bereit, ich besteige die nächste Eisenbahn und du begleitest mich zu Wagen dorthin.«

Die beiden Freunde trennten sich. Schnorpel hatte etwas schief geladen, und da er wegen der gekündigten Reise seines Freundes in übler Stimmung war, so fing er auf dem Heimweg mit dem Mond Streit an. Trotz dem war dieser aber doch so artig ihm zu Bett zu leuchten und, nachdem dies geschehen war, zog er sich höflich hinter eine große dichte Wolke zurück. Schwalbe hingegen blieb noch eine Zeit lang in seiner Bibliothek beschäftigt, um sich die ihm nötig scheinenden Reisebücher auszuwählen. Der Bädeker durfte, wie sich dies von selbst versteht, nicht fehlen. Außerdem stellte er aber auch noch Knigges Umgang mit Menschen und Albertis Komplimentierbuch beiseite, auch einen alten Dolch mit silbernem Kreuzgriff beschloss er mitzunehmen, um doch nicht ganz ohne Waffen zu sein.

Am anderen Nachmittag gegen fünf Uhr bestiegen die beiden Freunde die mit zwei schönen Füchsen bespannte Halbchaise, unter dem lauten Schluchzen der Toni, was Gottlieb tief rührte und ihm einen erneuerten Begriff von ihrer Tugend beibrachte. Da bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof die Lokomotive bereits ihren schrillenden Ton hören ließ, so konnten unsere Bekannten nur einen kurzen Abschied voneinander nehmen.

»Lass dir nichts abgehen«, rief der Doktor schon halb im Coupé stehend, »betrachte dich als Herr und Gebieter in meinem Haus. Aber eins sage ich dir: Lass Phöbe in Ruhe und führe sie nicht in Versuchung, denn ich hege die höchste Achtung vor ihrer Tugend.« Schwalbe lachte dabei höchst zweideutig, aber der ehrliche Gottlieb nahm natürlich seine Worte für bare Münze, und indem er tief errötete, antwortete er: »Ich verspreche dir dies.« Insofern mir solches nämlich möglich sein wird, setzte er innerlich hinzu und sah sich dabei scheu um, ein Beweis, dass sein Gewissen doch nicht ganz rein war. Aber wenn er auch diese Worte laut gesprochen haben würde, so hätte sie seinen Freund doch nicht mehr hören können, denn der Zug setzte sich bereits in Bewegung und der scharfe, schneidende Ton der Lokomotive machte jedes Wort unverständlich.