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Der Marone – Zwei Reisende nach derselben Quelle

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 15
Zwei Reisende nach derselben Quelle

Herr Montagu Smythje hatte den ganzen Weg von Liverpool nach Jamaika zurückgelegt, ohne je seinen Fuß nur einen Zoll über die Linie gesetzt zu haben, die das geheiligte Gebiet des Hinterdecks von dem minder geachteten Mittel- und Vorderteil des Schiffes trennt. Über den Hauptmast hinaus war er nie gekommen.

Da die Seenymphe kein eigentlich regelmäßiges Paketschiff oder gar ein königliches Postschiff war, sondern nur ein gewöhnliches Kauffahrteischiff, das gelegentlich einige Passagiere mitnahm, so wurden gerade keine so sehr strengen Gesetze in Betreff der Vorrechte des Hinterdecks beobachtet. Die gemeinen Matrosen durften freilich das gewöhnliche Vorrecht nicht verletzen und sie betraten das Hinterdeck nur, wenn der Dienst, der gebieterischer als der despotischste Schiffer, ihre Gegenwart dort notwendig machte.

Die Zwischendeckpassagiere jedoch konnten, mit der Ausnahme, dass sie nicht die erste Kajüte betreten durften, sich überall auf dem Schiffe aufhalten und sich auf dem Hinterdeck nach Belieben ergehen.

Die Meisten von ihnen, fast alle mit einer einzigen Ausnahme, hatten von Zeit zu Zeit die ihnen eingeräumte Erlaubnis benutzt und bei schönem Wetter den größten Teil ihrer Zeit in der Nähe des Steuerruders oder an anderen Plätzen in der Nähe der Hauptkajüte zugebracht.

Die einzige Ausnahme von dieser Gewohnheit machte der bereits erwähnte und beschriebene junge Mann der Kunstdilettant.

Während der langen sechswöchigen Reise hatte er niemals das Hinterdeck betreten, noch sich überhaupt öfters auf irgendeinem Deck sehen lassen. Gewöhnlich hatte er sich unten aufgehalten, obgleich man ihn bei vorzüglich schönem Wetter auch wohl schweigend die Strickleiter erklettern und sich ganz vorn auf dem Vordermast niederlassen sehen konnte, wo er mit einem Buch stundenlang verweilte.

Das Sprietsegel war ebenfalls einer seiner Lieblingsplätze und dort, auf dem zusammengerollten Segel ausgestreckt, sah er gern in das blaue Wasser hinunter, als wollte er die Bewegungen der türkisfarbenen Delfine beobachten, die fortwährend das Schiff umschwärmten, als wären sie Abgesandte Neptuns, um das Schiff schützend zu begleiten.

Dennoch schien der junge Mann keineswegs eine vorzugsweise Neigung zur Trauer und zur Einsamkeit zu haben, denn zu anderen Zeiten kroch er den Weg durch die Klappen und Luken von einem Verdeck des Vorderkastells in das andere und der helle Klang seiner Stimme, der sich in Spaß und Gelächter den munteren Ergüssen der lustigen Teerjacken anschloss, bewies deutlich, dass seine natürliche Stimmung durchaus nicht finster, schwermütig oder ungesellig sei.

Sicher war er ein großer Liebling aller Matrosen. Ein Beweis hiervon ist, dass beim Durchsegeln der Linie (der Matrose betrachtet den Wendekreis des Krebses wie die Linie, wenn die wirkliche, der Äquator, nicht auf seiner Reise erreicht wird) Neptun nicht darauf bestand, ihn mit seinem großen Messer zu rasieren, obwohl er zu arm war, um diesem Verfahren dadurch zu entgehen, dass er die Bartscherer des Seegottes bestach.

Weniger nachsichtig war der Gott jedoch mit Herrn Montagu Smythje, der genötigt wurde, nicht weniger als sechs Flaschen Rum zugleich mit verschiedenen Paketen Tabak zu bezahlen, um seinen prächtigen Backenbart wie seinen geschniegelten Schnurrbart vor der Verunreinigung von Teer und Tonnenfett zu bewahren.

Warum der junge Zwischendeckpassagier sich in dieser Weise vom Hinterdeck fernhielt und der Gemeinschaft mit den Kajütenpassagieren auswich, blieb denen ein Geheimnis, die hierüber ihre Vermutungen anstellten, obgleich sonst in seinem ganzen Betragen gar nichts Geheimnisvolles lag. Unbezweifelt wurde er durch einen persönlichen Stolz hierzu veranlasst und fühlte sich durch seine untergeordnete Stellung als Zwischendeckpassagier gedemütigt. Ein allerdings sehr begreifliches, aber doch nicht empfehlenswertes Gefühl. Er wusste sehr wohl, dass die Zulassung zum Hinterdeck für Passagiere seiner Klasse nur eine Höflichkeit, aber keine Berechtigung sei, und da er eines jener unabhängigen Gemüter war, welche das nicht annehmen wollen, was sie nicht als Recht beanspruchen können, so hatte er das höflichkeitshalber eingeräumte Hinterdeck lieber gar nicht betreten.

Da er niemals hinten gewesen und Herr Montagu Smythje geflissentlich nie nach vorn gekommen war, so hatte also kein Gespräch zwischen beiden stattfinden können.

Wirklich war während der ganzen Reise nicht ein einziges Wort zwischen ihnen gewechselt worden.

Die beiden jungen Leute hatten sich allerdings oft genug gesehen und kannten sich von Ansehen ganz wohl. Smythje hatte selbst das besondere Wesen seines Reisegenossen, sich von den Übrigen fernzuhalten, bemerkt und hatte ihn einen »verteufelten Sonderling« genannt, eine Bezeichnung, die der Letztere unbezweifelt im Geist, wenn auch nicht in Worten jedenfalls hinreichend erwidert hatte.

Ungeachtet seines nur geringen Denkvermögens war der Cockney-Stutzer sogar von einer gewissen Neugierde erfüllt, zu erfahren, wer und was dieser Sonderling eigentlich sein möge. Mehr als ein Mal hatte er den Kapitän und andere gefragt, doch wussten diese alle nichts von dem früheren Leben des Mitteldeckpassagiers.

»Weiß nichts von ihm«, sagte der barsche Schiffer, »ganz und gar nichts. Kam den Tag an Bord, bevor wir absegelten. Hat einen alten Mantelsack, zahlte sein Passagegeld und nahm Besitz von seiner Koje das ist alles, was ich weiß.«

»Ein verteufelter Sonderling!«, wiederholte Herr Smythje zum zwanzigsten Male. »Ah, ah! Sollte ihn in der Tat selbst fragen, wenn nur eine Gelegenheit da wäre, aber der närrische Kerl kommt niemals hierher, und ich kann vorn nicht hingehen, denn es stinkt da abscheulich nach Teer.«

Die so sehr gewünschte Gelegenheit sollte aber doch kommen, wenn auch erst in der elften Stunde. Wirklich in der letzten Stunde der Reise, als die Seenymphe schon dicht vor dem Hafen war, gingen alle Passagiere zum Bug des Schiffes, um dort einen besseren Überblick über die prächtige, sich vor ihren Blicken entrollende Landschaft zu haben, und der Stutzer, der die allgemeine Neugierde teilte, ging diesmal ebenfalls dahin.

Nachdem er einen erhöhten Stand auf der Spitze der Ankerwinde eingenommen hatte, brachte er sein Glas ans Auge und begann die Landschaft zu besichtigen, deren Einzelheiten nun dicht genug waren, um unterschieden werden zu können. Herr Smythje blieb nicht lange stumm, denn er gehörte keineswegs zu den Schweigsamen. Die schöne Gegend hatte ihn zu einer Art poetischer Begeisterung angeregt, die sich bald in charakteristischen Ausdrücken Luft machte.

»Sehr schön, wahrhaftig, auf Ehre!«, rief er aus. »Würde eine prächtige Szene machen auf einem Theater. Meinen Sie nicht auch, guter Freund?«, fügte er hinzu, indem er sich aufs Geratewohl an einen neben ihm Stehenden wandte.

»Ja, mein guter Freund«, erwiderte der Angesprochene, der in der Tat kein anderer als der junge Zwischendeckpassagier war, »nach meiner Meinung hängt das ganz von dem Gegenstand ab.«

Ungeachtet der etwas satirischen Antwort wurde sie doch ohne alles Übelwollen vorgebracht. Im Gegenteil schwebte ein wohlwollendes Lächeln auf der Lippe des Sprechers, während er seine Augen mit einem etwas spaßhaften Ausdruck auf den Stutzer richtete.

»Ah, ja, Sie sind es, mein Herr«, sagte der Letztere, der nun erst bemerkte, wen er angesprochen hatte.

»Ja, gewiss!«, fuhr er fort, indem er die zynische Haltung, die der andere angenommen hatte, nicht bemerken zu wollen schien.

»Ah, sehr eigentümlicher Mann! Unbegreiflich, eigentümlich! Darf ich fragen entschuldigen Sie die Freiheit Was führt Sie nur eigentlich hierher, nach Jamaika, mein’ ich?«

»Dasselbe«, erwiderte der Zwischendeckpassagier, etwas ärgerlich über die fast an Unverschämtheit grenzende Weise, ihn so zu befragen, »was Sie selbst hierher geführt – das gute Schiff, die Seenymphe

»Ah, ja, in der Tat! Gut sehr gut! Aber, werter Herr, das ist es nicht, was ich gemeint habe!«

»Nicht?«

»Nein, ich versichere Ihnen. Ich meinte, welches Geschäft Sie hierher führt. Vielleicht haben Sie einen bestimmten Beruf?«

»Nein, ganz und gar keinen; dies ich versichere Ihnen.«

»Vielleicht sind Sie dann Kaufmann?«

»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass ich nicht einmal Kaufmann bin.«

»Was, keinen Beruf und auch kein Kaufmann! Was zum Kuckuck wollen Sie denn in Jamaika machen? Vielleicht suchen Sie eine Stelle als Buchhalter auf einer Pflanzung oder auch vielleicht als Aufseher? Das erfordert nicht gerade viel Erfahrung, wie ich gehört habe. Denn der Buchhalter hat gar keine Bücher zu führen, ha, ha, ha, und einen Schwarzen kann ja ein jeder beaufsichtigen. Ist es das, was Sie erwarten, werter Freund?«

»Ich erwarte hier gar nichts, in keiner Weise«, erwiderte der junge Mann in einem Tone sorgloser Gleichgültigkeit. »Betreffs des Geschäftes, das ich hier betreiben will, so dürfte das wohl von dem Willen eines anderen abhängen.«

»Eines anderen? So! Wessen denn, wenn ich fragen darf.«

»Meines Onkels.«

»So, wirklich? Also Sie haben einen Onkel hier auf Jamaika?«

»Ja, wenn er noch lebt.«

»Wie? Sie sind nicht einmal sicher, ob er noch lebt? Sie haben vielleicht lange nichts von ihm gehört?«

»Mehrere Jahre nicht«, erwiderte der junge Zwischendeckpassagier, indem seine bedenkliche Lage ihn nun veranlasste, den früher angenommenen satirischen Ton zu vermeiden. »Mehrere Jahre nicht«, wiederholte er, »obgleich ich ihm geschrieben habe, dass ich mit diesem Schiff kommen würde.«

»Merkwürdig! Und darf ich fragen, was für ein Geschäft Ihr Onkel betreibt?«

»Er ist ein Pflanzer, glaube ich.«

»Ein Zuckerrohrpflanzer?«

»Ja, das war er wenigstens, als wir zuletzt von ihm gehört haben.«

»Ah, dann ist er wohl ein Gutsbesitzer? In dem Fall wird er schon etwas Besseres für Sie finden, als Schwarze zu beaufsichtigen. Darf ich etwa Ihren Namen wissen?«

»Ganz gern. Meine Name ist Herbert Vaughan.«

»Vaughan«, wiederholte der Stutzer in einem neues Interesse verratenden Ton. »Vaughan? Verstehe ich Sie recht?«

»Herbert Vaughan«, erwiderte der junge Mann fest und nachdrücklich.

»Und Ihres Onkels Namen?«

»Er heißt auch Vaughan. Er ist meines Vaters Bruder oder war es vielmehr, da mein Vater tot ist.«

»Doch nicht Loftus Vaughan, Gutsbesitzer auf Willkommenberg

»Loftus ist meines Onkels Taufname und Willkommenberg ist, glaube, ich, der Name seines Gutes.«

»Sehr merkwürdig! Unbegreiflich merkwürdig! Wissen Sie wohl, werter Herr, dass Sie und ich zum selben Platz reisen? Loftus Vaughan von Willkommenberg ist der Verwalter meines eigenen Grundbesitzes, derselbe, bei dem ich angemeldet bin. Wie eigen doch! Sie und ich, wir sollen nun Gäste unter demselben Dach sein!«

Die Bemerkung war von einem hochmütigen und anmaßenden Blick begleitet, der von dem jungen Zwischendeckpassagier keineswegs unbemerkt blieb. Dieser Blick war es auch, der die wahre Bedeutung jener Worte anzeigte, die Herbert Vaughan nun nicht anders als für eine Beleidigung nehmen konnte.

Er war im Begriff, darauf eine derbe Bemerkung zu machen, als der Stutzer sich plötzlich entfernte, indem er beim Fortgehen einige halb unverständliche Abschiedsworte hervorstieß.

Herbert Vaughan sah ihm einen Augenblick mit einem Lächeln tiefster Verachtung auf den Lippen nach.

Freilich war dies nur eine kurze Zeit zu bemerken, denn seine Haltung nahm bald wieder ihren gewöhnlichen gutmütigen Ausdruck an, und er stieg ins Zwischendeck hinunter, um sein nur geringes Gepäck für die Ausschiffung bereitzuhalten.