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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Geheimnis zweier Ozeane 12

Auf dem Rücken des Pottwals

Pawlik öffnete die Augen, aber es war genauso finster um ihn wie mit geschlossenen Lidern. Der Druck, der auf Pawlik lastete, wurde etwas schwächer, und er hob mit Mühe den Kopf. Ihm schien, als schlage ein schwerer schwarzer Vorhang lautlos gegen die Vorderseite des Taucherhelms; sein Kopf pendelte hin und her, und manchmal schlug er schmerzhaft gegen die innere Wandung des Helmes.

Das flutende Wasser drückte gegen seine Brust und seinen Kopf, warf die frei hängenden Beine zurück und riss ihn fast in die Finsternis hinab. Unter Pawlik erbebte gleichmäßig eine ungeheure schlüpfrige Masse, an deren Seite er auf unerklärliche Weise wie angeklebt festhing.

Plötzlich wurde ihm klar: Er saß auf dem Pottwal … er jagte auf dem gereizten Riesen dahin, der ihn mit einer einzigen Bewegung seiner mächtigen Schwanzflosse zu Brei schlagen konnte, ohne den Taucheranzug zu zertrümmern.

Entsetzen erfasste Pawlik; er kämpfte mit einem Ohnmachtsanfall. In seiner Verzweiflung drückte er Kopf und Brust an den Körper des Tieres. Der Wasserdruck wurde schwächer. Der Junge stöhnte laut auf, und das dröhnende Echo dieses Lautes im Innern des Helmes brachte ihn wieder zu sich.

Der Junge biss sich auf die Lippen. Vielleicht arbeitete sein Funkgerät doch! Vielleicht gelang es ihm, mit irgendjemand Verbindung aufzunehmen! Im gleichen Augenblick schrie er laut auf, verzweifelt und doch voller Hoffnung:

»Viktor Abramowitsch Pletnjow! Höre mich, Pionier! Das bin ich, Pawlik! Rettet mich!«

Mit zitternden Lippen lauschte Pawlik angespannt. Aber lähmende Stille umgab ihn. Er senkte wieder den Kopf auf den Körper des Pottwals und schluchzte laut.

Ein Wirbel von Gedanken schoss ihm durch den Kopf.

Der Pottwal entfernte sich vom U-Boot immer weiter und weiter … Das bedeutete den Tod … Man dürfte nicht auf dem Pottwal bleiben. Man müsste sich von ihm lösen. Aber wo war jetzt das U-Boot? Wo sollte man es in der ungeheuren Weite des Ozeans suchen? Konnte man vielleicht zur Oberfläche schwimmen? Das war ganz nah! Dort oben wäre er gerettet! Dort mussten Schiffe sein. Man würde ihn entdecken und retten … Woher kommst du, mein Junge? Welch herrlichen Taucheranzug du hast, würde man vielleicht zu ihm sagen …

Pawlik schüttelte verzweifelt den Kopf. Das geht nicht! Woher kommst du, Junge? Aus der Sowjetunion, von Bord des sowjetischen U-Bootes Pionier? … Ach so, aus der Sowjetunion, von einem U-Boot! Erzähle doch mehr, mein Junge … Das durfte er doch nicht! Lieber sterben … Vielleicht war Pletnjow nicht in der Funkerkabine gewesen. Vielleicht ist er jetzt zurückgekehrt?

»Viktor Abramowitsch! Pionier! Rettet mich! Das bin ich, Pawlik! Rettet mich!«

Pawlik schluchzte wieder; über seine Wangen rannen heiße Tränen. – Es kam keine Antwort!

Sein Funkgerät arbeitete nicht. Was sollte er noch tun? Auf dem Pottwal bleiben? Aber wohin schwamm er? Konnte man ihn aufhalten? Womit? Mit den Handschuhen …? Mit der Pistole …? Die würden nichts nützen: Die Stirnlaterne war erloschen; funken konnte er auch nicht … Es war kein Strom im Akku.

Am Pottwal jagte ein riesiger Schatten vorbei. Im Bruchteil einer Sekunde sah Pawlik das breit gespaltene, weit nach hinten liegende und von spitzen Zähnen starrende Maul und den hellen Bauch eines Haifisches. Gleich darauf tauchte er noch einmal auf, umschwamm den Pottwal und berührte fast den Jungen.

Dem ersten Hai folgten noch andere, den Rachen aufgesperrt, die kleinen stumpfen Schweinsäuglein schimmerten trübe. Sie kreisten um den Pottwal und kamen immer näher.

Es wurde heller. Pawlik sah jetzt deutlich hinter sich eine riesige, sechs Meter breite Schwanzflosse. Ihre Flachseiten bewegten sich nach oben und unten – gar nicht so wie bei richtigen Fischen, bei denen die Schwanzflosse vertikal zum Körper gestellt ist und sich nach rechts und links bewegt. Erst jetzt begriff Pawlik, warum der Pottwal in ruckartigen Sätzen vorwärts schoss.

Vor sich sah er die schwachen Umrisse einer kleinen Flosse, kaum zwei Meter lang und einen Meter breit, die wie ein Schweineohr seitlich vom Körper des Pottwals abstand. Pawlik wusste, dass in der Nähe dieser Flossen die kleinen Ochsenaugen des Pottwals im ungeheuer großen Kopf sitzen.

Den Pottwal schien plötzlich irgendetwas zu reizen. Die Bewegungen seines riesigen Körpers wurden noch ruckartiger, die Schwanzflosse peitschte das Wasser noch heftiger, und die Gegenströmung erfasste Pawlik mit solcher Gewalt, dass er sich nur mit Mühe festklammern konnte.

Die Haifische gaben ihre Verfolgung nicht auf. Entweder fühlten sie, dass der Pottwal matter wurde, oder sie vertrauten auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit – jedenfalls benahmen sie sich ganz anders als ihre Artgenossen an der Oberfläche des Ozeans, die nie einen Pottwal anzugreifen wagen.

Der Riese änderte seine Schwimmrichtung. Er stieß schräg nach oben, wobei seine Schwanzflosse wie eine Schiffsschraube das Wasser durchpflügte. Vielleicht brauchte er frische Luft zum Atmen, vielleicht wollte er auch die Haifische von sich abschütteln. Diese schienen die Absicht des Pottwals zu bemerken: Kaum jagte er nach oben, schoss ein Haifisch unter ihm hervor, drehte sich auf den Rücken und biss sich in blitzschnellem Zuschnappen in die Flosse unter dem Auge des Pottwals fest. Aber im gleichen Augenblick krümmte sich der Wal zur Seite, und der an seiner Flosse hängende Haifisch wurde nach vorn geschleudert und geriet in den Rachen des Ge- jagten.

Die schrecklichen Kiefer schlossen sich … der große Haifisch war wie ein Bleistift mitten durchgeschnitten, und beide Hälften sanken langsam zum Meeresgrund. Gleichzeitig traf die Schwanzflosse einen anderen Haifisch, und mit gebrochenem Rückgrat begann auch er in die Tiefe abzusinken.

Die beiden Opfer genügten, um die anderen Haie abzulenken. Die gefräßigen Raubfische stürzten sich sofort auf die noch zuckenden Leiber ihrer Artgenossen.

Der Pottwal näherte sich schnell der Oberfläche. Es wurde immer heller und heller.

Plötzlich zerteilten sich die Fluten, und mit zwei mächtigen Schwanzschlägen schnellte der Pottwal wie eine riesige schwarze Kerze mit fast zwei Dritteln seiner Körperlänge über die Meeresoberfläche empor.

Für einen kurzen Augenblick zeigte sich Pawliks Kopf über den Wellen, tauchte aber gleich wieder unter. Doch dieser kurze Moment genügte Pawlik, um einen Blick auf den Ozean zu werfen: Hier und dort stießen einige Wasserfontänen in die Höhe – ein untrügliches Zeichen für die Anwesenheit von Walen. Zwei bemannte Boote schaukelten auf den Wellen, und ein kleiner Dampfer näherte sich der Stelle, wo der Pottwal aufgetaucht war.

Der lag fast unbeweglich auf der Oberfläche und stieß in dicken Strahlen zerstäubtes Wasser und Dampf aus. Nicht nach oben, wie alle anderen Wale, sondern nach vorn und seitlich. Anscheinend war er sehr ermüdet und wollte nun ausruhen. Pawliks Taucherhelm ragte etwas aus dem Wasser hervor, und mit klopfendem Herzen drehte der Junge den Kopf zur Seite und schaute hinter sich.

Der Dampfer kam langsam näher. Pawlik erkannte an seinem Bug eine Harpunenkanone.

Hier, an der Oberfläche, konnte der Junge endlich Umschau halten, um das Rätsel seines Rittes auf dem Pottwal zu lösen. Plötzlich schrie er vor Verwunderung auf. Jetzt wurde ihm klar, was ihn so am Körper des Pottwals festhielt. Eine abgebrochene Harpune, die in der Seite des Tieres steckte, war zufällig durch den Ring geschlüpft, an dem die Scheide seines verlorenen Buschmessers hing. Der Harpunenstiel hatte sich so fest in den Ring geklemmt, dass Pawlik am Körper des Pottwals wie angenagelt war. Ebenfalls erst jetzt bemerkte er, dass der Deckel des Steuergerätes vom Gürtel herabhing und die Knöpfe und Hebel freilagen. Wahrscheinlich hatte er noch im Innern der Karavelle in seiner Erregung den Deckel versehentlich geöffnet. Pawlik klappte gedankenlos den Deckel zu und widmete seine ganze Aufmerksamkeit den Vorgängen auf dem Ozean. Er sah, dass der Dampfer sich dem Pottwal langsam näherte und neben der Bugkanone Menschen hantierten; offenbar wollten sie eine Harpune abschießen.

Pawliks Atem stockte …

Gleich würde der Schuss krachen und den Pottwal treffen.

Ihn, Pawlik, würde man an Bord nehmen … Woher kommst du, Junge? Er wollte ja nicht, dass der Pottwal ihn an die Oberfläche brachte. – Was für einen herrlichen Taucheranzug du hast! – Man würde ihm den Taucheranzug fortnehmen. Pawlik, das war Verrat! Das war schändlich! Was würde später der Kapitän sagen. – Und die anderen auch. – Aber was sollte er tun? Der Pottwal war ermattet, er schlief. Er würde nichts von der ihm drohenden Gefahr bemerken. Sollte er versuchen, sich von ihm zu lösen? Aber was sollte er in der Meerestiefe ohne Licht, ohne Waffen und ohne Funkgerät machen? Er würde umkommen! Dann lieber mit dem Pottwal gemeinsam. Nur nicht den Taucheranzug preisgeben.

In einem verzweifelten Entschluss schlug Pawlik mit der Faust auf die Harpune, an der er hing.

Der Pottwal zuckte zusammen; er wirbelte den Schwanz hoch in die Luft und ließ ihn mit solcher Wucht flach aufs Wasser niedersausen, dass man vermeinte, eine Artilleriesalve zu hören.

Vor Schmerz schoss das riesige Tier, den Kopf voran, zusammen mit Pawlik in die Tiefe. Benommen und einer Ohnmacht nahe hing der Junge zusammengekauert an der Seite des Wales.

Die letzte Hoffnung, gerettet zu werden, war entschwunden. Er selbst hatte auf seine Rettung verzichtet. Wohin jagte jetzt der gereizte Pottwal? Wie lange noch konnte Pawlik diese wilde Jagd aushalten? Wie lange würde die Atmungsluft im Behälter des Taucheranzuges reichen? Und die Lebensmittelration?

Er fühlte plötzlich Hunger. Vor dem Verlassen des U-Bootes hatte er gut gefrühstückt. Seitdem waren aber bestimmt schon acht Stunden verflossen. Seine Thermosflasche war mit Kakao gefüllt, aber man musste damit haushalten. Jetzt wollte er nur drei oder vier Schluck trinken.

Der Pottwal schwamm in geringer Tiefe. Er hatte sich noch nicht beruhigt und bewegte heftig die Schwanzflosse. Es war ziemlich hell. In einer Tiefe von hundert oder hundertundzwanzig Metern herrschte am Tage im Sargassomeer ein smaragdgrünes Dämmerlicht.

Als Pawlik auf den Knopf für die Thermosflasche drückte, stutzte er plötzlich. Welch unverzeihliche Dummheit! Er hatte doch an die Pionier gefunkt, sein Funkgerät aber war auf die Welle des Zoologen, Skworeschnjas und Marats eingestellt. Nur mit ihnen hatte er am gesunkenen spanischen Schiff gesprochen! Wie konnte er das nur vergessen haben? Er hatte später das U-Boot angerufen, ohne sein eigenes Gerät auf die Welle der Pionier einzustellen!

Mit zitternden Händen befühlte Pawlik das Steuergerät. Das Funkhebelchen war nicht an seinem Platze. Pawlik krümmte sich zusammen und versuchte, das Gerät genauer zu betrachten. Aber die Helligkeit im Wasser trog: In diesem Dämmerlicht der Tiefe verschwamm alles vor den Augen.

Wo kann nur das Hebelchen stecken?, dachte er. Ist es vielleicht abgebrochen? Aber wie? Ach, der Krake …! Natürlich, er muss es gewesen sein.

Pawlik strich mit seinem metallenen Finger vorsichtig über die leere Stelle zwischen dem Hebel für die Schraube und dem Knopf für die Stirnlaterne. Plötzlich klopfte sein Herz ungestüm. Der Stiel, an dem der Knopf saß, war verbogen, und der Knopf selbst hatte sich dadurch zwischen die Positionen Einschalten und Ausschalten verschoben. Vielleicht brannte deswegen die Stirnlaterne nicht? Pawlik begann vorsichtig den Knopf zurückzubiegen. Dann schob er ihn mit noch größerer Vorsicht durch die Führungsspalte auf Einschalten.

Ein greller Lichtstrahl erhellte die Tiefe! Die Stirnlaterne brannte! Pawlik schrie vor Freude laut auf!

Der erschreckte Pottwal warf sich zur Seite, aber Pawlik bemerkte das gar nicht.

Wie herrlich das Licht war! Wie leicht und froh es ihm ums Herz wurde! Licht konnte nur strahlen, wenn Strom da war. Auch Strom für die Schraube! Strom für das Funkgerät! Hurra! Hurra!

Pawlik lachte vor Freude, verstummte aber gleich wieder; sein Gesicht wurde ernst und besorgt.

Das Funkgerät wird wahrscheinlich nicht arbeiten, da das Einrückhebelchen nicht da ist. Man müsste es mit der Wasserschraube versuchen. Aber wohin schwimmen, selbst wenn sie arbeiten sollte? – Nun, das könnte man sich noch später überlegen. Zuerst die Schraube.

Pawlik versuchte, das Hebelchen zur Steuerung der Schraube auf Kleine Geschwindigkeit zu stellen. Es saß fest. Pawlik drückte kräftiger. Nun ließ es sich, ohne einzuschnappen, schieben. Mit der Reservelaterne, die an einer Schnur hing, leuchtete der Junge auf das Befehlsgerät.

Er sah, dass der Schalter des Funkapparates verbogen war und den Hebel für die Schraube hochgezerrt hatte, wodurch sich dieser, ohne einzuschnappen, leicht hin- und herschieben ließ.

Nach einigen Minuten vorsichtiger und geduldiger Arbeit standen beide Hebelchen wieder richtig an ihrem Platz.

Pawlik wollte zuerst das Funkgerät kontrollieren – wagte es aber nicht. Jetzt, da sich alles entschied, fürchtete er sich vor dieser letzten Prüfung. Schließlich stellte er mit klopfendem Herzen den Funkapparat ein.

»Hier spricht die Pionier! Pawlik! Antworte, Pawlik!«

Alles drehte sich vor Pawliks Augen. Er wollte etwas sagen, laut rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Tränen schossen ihm aus den Augen. Und nur leise, unartikulierte Laute kamen aus seinem geöffneten Mund.

»Antworte, Pawlik! Antworte! Hier spricht die Pionier

»Ich bin es, Pawlik! Ich bin es! Rettet mich! … Rettet mich!«

Über sein Gesicht rannen jetzt Tränen der Freude.

»Ich bin es, Viktor Abramowitsch! Ich sitze am Pottwal fest! Er jagt mit mir durch den Ozean! Wo sind Sie? Retten Sie mich!«

Das U-Boot entfloh den dunklen Meerestiefen, eine neblige, sich schnell auflösende Spur hinterlassend. Lautlos und leicht glitt es dahin.

Pawlik hörte die Stimme des Kapitäns.

»Pawlik! Die Jagd nach dem Pottwal kann sehr lange dauern. Um dich von ihm zu befreien, muss man ihn töten. Könntest du das?«

Pawlik antwortete zögernd: »Das könnte ich schon, aber er tut mir leid …«

»Leider geht es nicht anders, Pawlik«, sagte der Kapitän. »Wir können doch nicht auf ihn mit der Ultraschallkanone schießen.

Pawlik hörte Marats aufgeregte Stimme.

»Dürfte ich einen Vorschlag machen, Genosse Kommandeur?«

»Sprechen Sie, Marat, sprechen Sie nur.«

»Um den Pottwal wäre es wirklich schade. Soll er sich seines Lebens freuen, und Pawlik befehlen Sie, die Schraube mit voller Geschwindigkeit anzulassen – in Schwimmrichtung des Wals. Die Schraube wird Pawlik von der Harpune losreißen, und er wird sich vor der Schwanzflosse leicht in Sicherheit bringen können.«

»Hast du es gehört, Pawlik, was Marat vorgeschlagen hat?«

»Jawohl, Genosse Kommandeur! Marats Vorschlag ist gut. Ich führe ihn sofort aus.«

Pawlik schob das Hebelchen für den Schraubenantrieb mit einem Ruck ganz nach links, auf Volle Geschwindigkeit.

Von dem plötzlichen, heftigen Stoß drehte sich alles vor Pawliks Augen. Dann sah er den in die Tiefe hinabschießenden riesigen Schatten des Pottwals und hinter sich das U-Boot, das, gleich einem Berg mit zahlreichen längsseitigen Auskehlungen, langsam näher kam. Von der Bootswand klappte eine kleine Plattform zurück, und die Metalltüren schoben sich auseinander. Pawlik schaltete auf Kleine Geschwindigkeit und schlüpfte mit eingezogenem Kopf durch die hell erleuchtete breite Öffnung.

Fortsetzung folgt …