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Das Treffen

Das Schneetreiben wurde immer dichter. Berta und Kurt Siebrecht stapften mit den Füßen auf und klopften sich den Schnee von den Jacken. Schon die paar Meter vom Parkplatz hoch zu der einsam gelegenen Skihütte hatten gereicht, sie gänzlich mit der pulvrigen, weißen Masse zu bedecken. Sie betraten den kleinen Windfang, der nur durch eine Schiebetür von dem großen Wohnraum abgetrennt war. Der Durchgang war offen. Im Kamin am anderen Ende des Zimmers brannte bereits ein gemütliches Feuer. Aus der angrenzenden Küche drangen das Klappern von Besteck und das Klirren von Gläsern. Carolin, Bertas Schwester, war also schon hier. Die beiden Neuankömmlinge zogen ihre schweren Jacken, die Stiefel und die Handschuhe aus, um die Garderobe damit zu bestücken.

»Carolin«, rief Kurt. »Wir sind hier.«

Kurt war ein untersetzter Mann mittlerer Größe. Seine feisten Wangen waren von der Kälte gerötet, in seinem grauen Haupthaar und seinem gleichfarbenen Schnurrbart hingen noch Schneekristalle. Seine blauen Augen tränten und seine Lippen waren trocken und spröde. Berta war einen halben Kopf größer als ihr Mann, schlank und hatte die gleiche atemberaubende Figur wie ihre Schwester. Ansonsten sah sie Carolin überhaupt nicht ähnlich. Berta war hellblond, Carolin brünett. Berta hatte eine kleine Stupsnase, graue Augen und schmale Lippen, Carolins Nase war lang und gebogen, ihre Augen grün und ihre Lippen voll und geschwungen. Heute war Carolins Gesicht jedoch blass und wirkte wächsern.

Sie lächelte, als sie aus der Küche in das Zimmer trat.

»Hallo, ihr beiden«, begrüßte Carolin ihre Schwester und ihren Schwager.

Berta gab einen Laut von sich, der ihren Unmut zum Ausdruck bringen sollte.

»Was soll das, Schwesterherz? Warum mussten wir uns ausgerechnet hier treffen? Nach all der Zeit«, sagte sie in aggressivem Tonfall.

»Es ist noch nicht mal ein Jahr her«, antwortete Carolin leise. »Natürlich, damit wir dieses Kapitel ein für alle Mal abschließen können«, fügte sie lauter hinzu.

»Aber warum hier? Wir hätten die notariellen Beglaubigungen auch in der Stadt unterzeichnen können.« Bertas Stimme klang schrill vor Aufregung.

»Schatz, komm wieder runter«, brummte Kurt.

»Weil hier alles angefangen hat«, flüsterte Carolin.

»Das ist total verrückt. Makaber und perfide«, keifte Berta.

»Nun setzt euch doch erst mal. Ich habe Glühwein gemacht«, versuchte Carolin ihre Schwester zu beruhigen.

Kurt hatte einen Arm um Berta gelegt, um sie zu den Sesseln zu führen. Sie jedoch schüttelte ihn ab und fuhr sich hektisch durch die Haare. Trotzdem ließ sie sich in einen Sessel fallen.

»Glühwein.« Sie kicherte. »Wie passend. Damals war es auch Glühwein … Ich möchte keinen.«

Kurt verdrehte die Augen. »Hör auf, Berta. Lass uns vernünftig miteinander reden.«

Er setzte sich ebenfalls. »Wir haben die Papiere mitgebracht, Carolin. Du kannst sie in aller Ruhe lesen und dann unterzeichnen«, sagte er nach einer Weile.

Carolin zog eine Augenbraue hoch, blickte ihren Schwager an und nickte dann. »Selbstverständlich. Wir hatten doch schon alles abgesprochen.«

»Ich habe dich nie erreicht. Wo warst du denn die ganze Woche?«, fragte Berta übergangslos. »Ich hatte viel zu tun«, antwortete ihre Schwester. Berta warf Kurt einen vielsagenden Blick zu, als Carolin sich umdrehte und in die Küche ging.

»Es gibt Kuchen«, rief sie aus dem anderen Raum. Dann kam sie auch schon zurück. Auf einen großen Teller balancierte sie einen Marmorkuchen und ein langes Küchenmesser. Sie stellte den Teller zu den Tassen auf dem Tisch ab.

»Ich fühle mich hier einfach nicht wohl«, quengelte Berta.

Carolin hob die Augenbrauen. »Warum? Weil das letzte Mal Robert mit hier war?«

Das letzte Mal, als sie diese Skihütte besuchten, waren sie zu viert. Robert, Carolins Mann, war ebenfalls mitgekommen. Er war der Besitzer der Firma, in der Kurt als Verkaufsleiter und Berta als Marketingassistentin arbeiteten. Er war derjenige, der alle Fäden in der Hand und seine Angestellten immer schön unten hielt. Er war derjenige, der seiner Frau Carolin jeden Wunsch von den Lippen ablas, sie aber trotzdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit anderen Frauen betrog. Er war derjenige, der für die Abhängigkeit seiner Begleiter nur ein geringschätziges Grinsen übrig hatte. Er war derjenige, der von diesem Kurzurlaub nicht mehr nach Hause zurückkehrte.

Berta hatte Carolin Stunde um Stunde bekniet, sie solle sich endlich von Robert trennen. Sie solle sich die Anteile an der Firma auszahlen lassen, dann hätten sie und Kurt in Roberts Firma gekündigt. Danach hätten sie gemeinsam etwas Neues aufbauen können. Aber Carolin schaffte den Absprung nie. Bis zu dem Zeitpunkt, als Robert sie auf der Weihnachtsfeier der Firma einfach stehen ließ und mit seiner neuen Sekretärin verschwand. Erst am Abend des ersten Feiertages kam er nach Hause und lachte auch noch, als er Carolins verheultes Gesicht sah. Carolin ließ sich nichts anmerken und machte schon nach kurzer Zeit wieder gute Miene zum bösen Spiel. Doch nun schmiedeten sie und Berta Pläne, für die sich auch Kurt sofort begeistern ließ. Sie mieteten diese Hütte und wollten dort Silvester verbringen. Sie flößten Robert möglichst viel Alkohol ein. Schließlich vergifteten sie ihn und warfen ihn in eine Gletscherspalte. Seine Leiche wurde nie gefunden. Sämtliche Suchaktionen waren erfolglos. Einstimmig gaben sie an, dass Robert Heim die Hütte am Neujahrsmorgen verließ, um Ski zu fahren und sie sich bis zum Abend verständlicherweise keine Sorgen gemacht hatten. Erst als die Dunkelheit hereingebrochen war, fuhr Kurt ins Tal hinab, wo der Mobilfunk wieder funktionierte und alarmierte die Polizei.

Jetzt, elf Monate später, waren alle Formalitäten und Erbschaftsangelegenheiten abgewickelt und die Firma gehörte Carolin. Geschäftsleiter wurde Kurt und Prokuristin seine Frau Berta.

»Nun wollen wir mal Nägel mit Köpfen machen«, sagte Kurt unvermittelt und legte eine Smith & Wesson Kaliber 38 auf den Tisch. »Wo sind deine Unterlagen, Carolin?«

»Ich habe sie alle dabei, einen Moment«, antwortete Carolin mit einem unsicheren Seitenblick auf die Pistole. Nach kurzer Zeit kam sie mit einem dicken Ordner zurück und setzte sich in einen Sessel. Keiner hatte bisher von dem Glühwein getrunken oder von dem Kuchen gegessen. Carolin schenkte sich eine Tasse ein und trank in kleinen Schlucken von dem heißen Getränk.

»Was soll die Waffe?«, fragte Carolin an Berta gewandt.

Ihre Schwester strich sich das Haar aus der Stirn und zuckte mit den Schultern.

»Nur zur Sicherheit«, murmelte sie dann.

Carolin lächelte verkrampft. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee.

Warum hatte Kurt eine Pistole mitgebracht? Ahnte er etwas oder war das nur dafür gedacht, falls sie sich weigern sollte, zu unterschreiben. Wollte er ihr etwa drohen? Dann würde er aber sein blaues Wunder erleben.

Carolin war schon vor einer Woche zu der einsamen Skihütte gefahren. Sie wollte den Ort des Unheils noch ein letztes Mal sehen, um endgültig mit dieser Sache abschließen zu können. Es kam ihr so vor, als ob ihr Seelenheil davon abhing. Sie konnte gar nicht anders. Hier hatte sie jedoch eine Überraschung erlebt, die ihr gesamtes Dasein erschüttert und verändert hatte. Jemand hatte sie erwartet in der eiskalten Düsternis der Berghütte. Jemand, der sie überzeugt hat, dass sie auf der falschen Seite stand. Deswegen hatte sie diesen Ort für eine neuerliche Zusammenkunft ausgewählt.

In diesem Augenblick fuhr ein kalter Windstoß in die Hütte und ein dumpfer Laut erklang, als die Außentür geschlossen wurde. Niemand hatte bemerkt, dass sie vorher geöffnet worden war. Berta und Kurt drehten sich erschrocken herum. Die Gestalt, die den Wohnraum betrat, war über und über mit glitzernden Schnee- und Eiskristallen bedeckt. Das Gesicht war bleich. Die Augen wirkten blind. Eine weiße Schicht überzog die Augäpfel. Bei jedem Schritt knirschten die Dielen, als ob sie gefroren wären. Die Gestalt trug nur eine Hose und einen Pullover. Berta stieß einen leisen, quietschenden Schrei aus, der in ein Wimmern überging. Kurt stand der Mund offen. Carolin war mitsamt ihrem Sessel um einen halben Meter zurückgerückt, ihre Tasse mit Glühwein fiel polternd zu Boden. Die Gestalt blieb stehen und hob wie zum Gruß die rechte Hand.

»Robert«, hauchte Kurt. »Was, zum Teufel …«

»Ich hole mir nur mein Eigentum zurück«, erklang es von der Gestalt. Die Stimme klang hohl und fremdartig.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Kurt packte die Pistole und sprang auf. Entsichern und Abdrücken waren eine einzige fließende Bewegung. Überlaut krachte der Schuss in der Stille der Hütte. Der Neuankömmling taumelte zurück. Kurt feuerte noch dreimal. Dann kippte Roberts Körper nach hinten um. Carolin sprang nach vorne und schmetterte ihre Handkante kurz und hart auf Kurts Handgelenk. Die Smith & Wesson fiel polternd zu Boden. Während Kurt mit schmerzverzerrtem Gesicht fassungslos Carolin anstarrte, griff sich Berta das Küchenmesser und sprang kreischend über den Tisch. Carolin konnte zwar noch den Arm heben, aber trotzdem drang ihr die Klinge fast bis zum Heft in die Brust. Lautlos kippte auch sie hintenüber. Berta taumelte zurück und fiel über den Tisch. Kurt hielt sich noch immer den schmerzenden Arm.

»Lass uns so schnell wie möglich abhauen«, keuchte er.

Berta rappelte sich wieder hoch. »Die Papiere … Was …?«

»Niemand haut hier einfach ab«, erscholl die Grabesstimme. Robert stand wieder im Raum, als ob nichts gewesen wäre. Von seinem Pullover stiegen kleine Rauchfähnchen auf, genau dort, wo die Kugeln eingeschlagen hatten.

Wie von Fäden gezogen, schnellte plötzlich auch Carolin wieder hoch. Das Messer stak noch immer zwischen ihren Brüsten. Ihr hübsches Gesicht war zu einer Grimasse verzogen.

»Nein, diesmal haut niemand ab«, stieß sie hervor.

Berta fing zu schreien an.

Copyright © 2008 by Helmut Marischka