Aus Armand’s Frontierleben – Band 1- Kapitel 2
Fredéric Armand Strubberg
Aus Armand’s Frontierleben
Band 1
Carl Rümpler, Hannover, 1868
Zweites Kapitel
Der Tod der Indianerin
Kaum graute der Morgen, erhob sich Kionata leise, blickte einige Augenblicke mit gefalteten Händen auf ihre beiden noch schlafenden Lieblinge nieder und ging dann hinaus vor die Höhle zu dem Feuerplatz.
Sie entfachte schnell das Feuer, warf einige Holzstücke darauf und zog die Biberschwänze aus der Asche hervor. Mithilfe des Messers, das sie in ihrem Gürtel trug, schabte sie die hart gebackene Rinde von den Schwänzen ab, schnitt diese in Stücke und legte sie in einen flachen, mit einem Deckel versehenen eisernen Topf. Sie stellte den Topf bei das Feuer, damit das sehr fette Fleisch warm bleiben sollte. Dann kochte sie in einem kupfernen Kessel Kaffee. Sie hatte ihn gerade vom Feuer genommen, als Davis mit Leonide an der Hand zu ihr trat. Sie umarmten und küssten sie, um sie zu begrüßen.
Es war ein reizender Morgen. Erfrischend und stärkend wehte noch die Kühle der Nacht über die Erde, während die Sterne schon verblichen waren und das zarte Rot am östlichen Himmel das Nahen des Tages verkündete.
Am noch blassen, hohen, durchsichtigen Äther war keine Wolke zu sehen, und auf den Gräsern und Pflanzen, die zwischen dem. Gestein hervorstanden, lag der Tau in schweren, glänzenden Perlen.
Davis holte tief Luft, als fühle er, wie die Morgenfrische ihn mit Lebenskraft durchströmt.
»Es ist doch eine wundervolle Luft in diesen Bergen!«, sagte er, die Brust wölbend, und ließ seinen Blick um die Höhen der Gebirge schweifen.
»Das ist der große Geist, der uns erfrischt und labt, weil er sich über uns freut. In den Ansiedlungen sind die Morgen nicht so schön«, versetzte Kionata mit verzagter Stimme, während sie eine Büffelhaut vor dem Feuer ausbreitete.
Weil die Ansiedlungen in der Ebene liegen und die Luft dort niemals so rein und frei von Dunst ist wie in den hohen, kahlen Gebirgen«, versetzte Davis mit einem verweisenden Blick auf die Indianerin. Übrigens ist die Luft auch am Fuße der Berge prächtig. Wenn wir dort ebenso früh unser Haus verlassen wie hier unsere Höhle, werden wir uns ebenso belebt und heiter fühlen.«
Er hatte sich auf die Büffelhaut niedergelassen und beeilte sich, sein Frühstück zu verzehren, während Leonide es sich nicht nehmen ließ, ihn dabei zu bedienen.
Kionata wollte nun zu dem unweit angebundenen Pferd gehen, um es in das Gras zu führen. Doch Davis rief sie zurück und sagte: »Ich will Tom, so nannten sie das Tier, mit mir nehmen, um sämtliche Fallen hierherzubringen, denn ich habe sie gestern Abend zum letzten Mal gestellt. Die wenigen Biber, die dort drüben noch leben, mögen die beinahe ausgefangene Kolonie wieder bevölkern und meinem Nachfolger reiche Beute geben.«
Darauf holte Kionata Sattel und Zeug aus der Höhle, legte sie dem Pferd auf und trug dann auch die Büchse und Kugeltasche für Davis herbei. Noch hatte die Sonne keinen Blick über die Berge getan, als Davis von der Indianerin und von Leonide zärtlichen Abschied nahm, das Pferd bestieg und auf dem Pfad davonritt, auf dem er am vergangenen Abend gekommen war.
Kionata holte nun eine große Zahl von Stöcken herbei, deren blutige Färbung zeigte, dass sie schon lange Zeit in Gebrauch gewesen waren. Er begann damit, die Biberhäute, welche Davis am Abend mitgebracht hatte, auszuspannen und so gegen das Gestein aufzustellen, dass sie während des Tages von der Sonne bescheint und getrocknet wurden.
Es ging ihr sehr schnell von der Hand, doch schaute sie während der Arbeit wiederholt nach dem östlichen Himmel, dessen Rot mit jedem Augenblick prächtiger wurde.
Plötzlich warf sie die Haut, an der sie arbeitete, von sich, ergriff Leonides Hand und sagte: »Der große Geist naht, mein Kind!«
Beide sanken auf ihre Knie nieder, erhoben ihre gefalteten Hände nach Osten und beteten inbrünstig zu dem großen Geist, dessen Erscheinen sie in der Sonne erwarteten. Da erglühte es über dem fernen Gebirgssaum, wie ein Funke stieg es darüber auf. Blitzend schnell schossen die ersten Strahlen über die Erde und die Sonne stieg in ihrer vollen Majestät empor.
»O großer Geist, sei gnädig und barmherzig mit mir und meinem Kind. Vergib mir, dass ich ihm einen weißen Vater gab. Behüte es, damit es sein Herz nicht von dir abwendet und dir nimmer treulos wird.« Leonide ist Indianerin und wird es bleiben. Das Blut ihrer Mutter soll das letzte Blut ihres Vaters aus ihren Adern verdrängen, damit der Gott der Weißen keinen Anteil mehr an ihr hat und du sie lieben und beschützen kannst.
Ach, vergib mir auch, wenn ich dem Vater meines Kindes in das Land deines Feindes, des Gottes der Weißen, folge. Ich werde mich in deiner Erde begraben lassen.
So flehte die Indianerin lange Zeit ihren Gott in der aufsteigenden Sonne an. Leonide sah mit tränenfeuchten Augen zu dem blitzenden Gestirn auf. Ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet und ihre gefalteten Hände zitterten auf ihrer Brust.
Schon hatten sich die Strahlen der Sonne über Berg und Tal ausgebreitet, als Kionata sich erhob, ihr noch vor ihr kniendes Kind mit ihren Armen umschlang und es stürmisch an ihr Herz drückte.
»Nein, Leonide, du kannst unserem Gott nie und nimmer untreu werden. Gelobe es jetzt in seiner Gegenwart, dass du sein Kind bleiben willst und dass sein Blitz dich töten soll, wenn du dich einem anderen Gott hingibst.«
»Ja, ja, liebe Mutter, ich gelobe es«, stammelte Leonide schluchzend und hing sich weinend an deren Nacken.
»Der große Geist hat es gehört, Leonide. Vergiss deinen Schwur nie einen Augenblick«, sagte die Indianerin feierlich und tief bewegt. Sie erhob sich, ihr Kind fest an ihr Herz pressend, und richtete ihren schwärmerischen Blick zur Sonne, als wolle sie das Gelöbnis ihrer Tochter noch bestätigen.
Dann küsste sie die Tränen aus Leonides Augen und sagte: »Du bist mein liebes, süßes Kind. Nun lass uns aber schnell die Häute aufstellen, damit sie, wenn der Vater zurückkehrt, schön trocken sind. Du weißt, das macht ihm Freude.«
Beide gingen nun rasch an die Arbeit, und bald standen die Biberfelle, mit der Fleischseite der Sonne zugekehrt, an der Felswand.
Es war um die Mittagszeit, als Kionata und ihre Tochter im Eingang der Höhle saßen. Dort trafen die senkrechten Strahlen der Sonne sie nicht, und sie waren emsig damit beschäftigt, Kleidungsstücke aus Hirschleder zu fertigen. Da plötzlich warf Leonide ihre Arbeit hin, sprang davon und zeigte nach dem Berg gegenüber. »Dort kommt der Vater!«, rief sie.
Hoch oben auf dem Bergrücken schritt Davis seinem Pferd voran, den Abhang hinunter, an dem der Büffelpfad ins Tal führte.
Flüchtig wie eine Antilope hatte Leonide schon die Bergwand erreicht und eilte an derselben hinauf, während Davis den steilen Weg herabschritt. Jauchzend warf sie sich ihm wenige Minuten später in die Arme.
Es wohnte eine so überwältigende Liebe und Hingebung in der kleinen Halbindianerin, dass in solchen Augenblicken der Freude ihr ganzes Sein von wonniger Aufregung ergriffen wurde, ihre großen, dunklen Augen strahlten Seligkeit, ihre süße Stimme jubelte und ihr ganzer Körper geriet in Bewegung.
»Du lieber Engel, ich freue mich genauso sehr wie du, dass wir wieder beisammen sind. Bald, so Gott will, werden wir uns gar nicht mehr voneinander entfernen«, sagte der glückliche Vater zu dem reizenden Kind, während sie Hand in Hand auf dem Pfad hinabschritten. Das Pferd, schwer mit eisernen Fallen und einigen Biberhäuten beladen, folgte ihnen vorsichtig.
»Wie ich es mir dachte, so ist es gewesen«, sagte Davis, als er vor der Höhle anlangte. Kionata nahm ihm Büchse und Kugeltasche ab und hieß ihn willkommen. »Ich habe nur drei Biber gefangen und in zwei Fallen abgebissene Biberpfoten vorgefunden. Der Fang ist nun zu Ende, und wir wollen sogleich ans Werk gehen und unsere Vorratskammer vermauern. Das ist ja mit so wenig Arbeit getan.«
Dann wandte er sich den an der Felswand aufgestellten Häuten zu, trommelte mit den Fingern auf einigen von ihnen und bemerkte mit zufriedenem Ton: »Die sind ja schon so trocken, dass wir sie gleich verpacken können. Die drei Stück, die ich mitgebracht habe, wollen wir zurückbehalten. Wir können sie auf unserer Reise benutzen.«
»Willst du nicht erst etwas essen, ehe wir die Vorräte einlagern?«, fragte Kionata, während sie die vielen Fallen vom Pferd warf und demselben Sattel und Zeug abnahm.
»Nach getaner Arbeit ist es gut, sich auszuruhen«, antwortete Davis vergnügt. »Binde Tom schnell in das Gras, und dann wollen wir gleich die Häute zusammenpacken.«
Sofort begann er, die Stöcke von den trockenen Fellen abzunehmen. Er faltete diese zusammen, legte sie aufeinander und bald kam Kionata mit langen Lederstreifen. Mit diesen wurden die Häute zusammen geschnürt und in einen Ballen gebunden.
Dann ging Davis in die Höhle bis in deren fernste Tiefe, wo sie sich zwischen dem Gestein erhob und wie in einen Schornstein auslief, dessen Öffnung hinauf auf die Felsschicht über der Höhle führte. Er stieg durch diese enge Öffnung und erschien auf der Felswand über dem Eingang der Höhle. Von dort ließ er ein Lederseil herunter. Kionata band das Ende des Seils an den Ballen mit Fellen und Davis zog ihn an der steilen Wand zu sich empor. Die Indianerin eilte nun mit Leonid gleichfalls durch die Öffnung hinauf und folgte Davis, der den Ballen trug, auf dem schräg ansteigenden Gestein einige vierzig Schritte weiter zurück bis zu einer hoch emporstrebenden Steinwand. In dieser befand sich eine schmale Spalte, die zu einer zweiten, sehr geräumigen Höhle führte.
Diese hatte Davis zu seiner Vorratskammer gewählt und darin alle in dieser Gegend gesammelten Häute in Ballen verpackt gelagert. Es führte kein anderer Weg hierher als der durch die enge, hintere Öffnung der unteren Höhle, denn die Felswand, in der sich diese befand, war sehr steil und einige vierzig Fuß hoch.
Nachdem der letzte Ballen mit Fellen in die Vorratskammer geschafft worden war, brachte Davis auch noch sämtliche Fallen hinein. Nun trugen ihm die Indianerin und Leonide loses Gestein zu, womit er den schmalen Eingang ausmauerte.
Nach einer Stunde war die Arbeit vollbracht, denn der Eingang wurde nur geschlossen, um Wind und Wetter von dem inneren Raum abzuhalten.
Nachdem Davis mit seinen beiden Lieben wieder in die untere Höhle hinabgestiegen war, begannen sie die viel wichtigere Arbeit. Diese bestand darin, den engen Ausgang derselben, der nach oben führte, zu vermauern. Es war jedoch keine schwierige Aufgabe, da die Öffnung nur groß genug war, um einen Menschen durchzulassen. In der Höhle lag außerdem sehr viel loses Gestein, sodass der Hang bald geschlossen war und so viel Geröll und Erde davor geworfen wurde, dass niemand gedacht hätte, dass sich dort ein Ausgang befunden hatte.
Die Sonne stand schon niedrig, als das Werk vollendet war und Davis ins Freie trat. Kionata folgte ihm und legte ihren Arm um ihn. Mit liebevoller Innigkeit sagte sie: »Du musst recht müde sein, Alfred. Ruhe dich nun aus, ich will schnell das Essen für dich bereiten.«
Doch Davis schaute nach der Sonne und entgegnete dann mit heiterem, freudigem Ton: »Ich fühle mich durchaus nicht müde, beste Kionata, und will, während du das Essen bereitest, noch einen Gang ins Tal hinuntermachen, um zu versuchen, ob ich einen Hirsch oder eine Antilope erlegen kann. Mit dem herrlichen Biberfleisch ist es nun zu Ende und wir müssen doch etwas Wildbret für die Reise trocknen.«
Dabei zog er die Indianerin an sein Herz, küsste sie, als wolle er ihr seinen Dank ausdrücken für die Hilfe und den Beistand, die sie ihm während der Jahre harter Arbeit angedeihen hatte lassen, und holte dann rasch seine Büchse, Kugeltasche und den Hut aus der Höhle.
Nochmals küsste er Kionata, liebkoste Leonide noch einige Augenblicke und eilte dann mit flüchtigen Schritten dem Bach zu und durch das hoch begraste Tal hinunter.
Die Indianerin entzündete nun das Feuer, stellte eine eiserne Pfanne auf die Kohlen, warf getrocknetes Fleisch und Fett hinein und überließ Leonide die Aufsicht.
Sie selbst ging in die Höhle und kam mit einer großen, mit gemahlenem Kaffee gefüllten Blase zurück, um Davisons Lieblingstrank zu bereiten.
»Es ist der Rest unseres Kaffeevorrats«, sagte sie, während sie die Blase öffnete.
»Nun, bald werden wir wieder welchen kaufen können«, versetzte Leonide, während sie mit ihrem Messer die Fleischstücke in der Pfanne hin- und herschob. »Wir kommen ja nun bald in die Ansiedlungen.«
Die Indianerin holte tief und schwer Atem, dann sagte sie, sich neben ihrem Kinde niederlassend, mit feierlichem Ton: »Vergiss nie deinen Schwur, den du an diesem Morgen dem großen Geist geleistet hast, Leonide. So barmherzig und liebevoll er gegen seine Kinder auch ist, so furchtbar sind seine Strafen, wenn sie ihm untreu werden. Du weißt es ja, du hast es ja gesehen, wenn er den Sturmgott von den Schneebergen im Norden herabgesandt hat und dieser Eisstücke über die Erde geworfen, Bäume mit ihren Wurzeln ausgerissen und Felsstücke von den Kuppen der Berge in die Täler geschleudert hat. Dann ist ein rotes Kind dem großen Geist untreu geworden und er sendet den Sturm, den Donner und den Blitz, um es zu zerschmettern. Und dich hat er besonders lieb, weil er fürchtet, dass dein weißes Blut dich ihm untreu machen könnte. Sieh hin zu der Sonne, wie freundlich schaut der große Geist aus ihr auf uns herab.«
Leonide sagte nichts, rührte aber immer schneller in der Pfanne, während ihre Mutter den Kaffeekessel auf die Kohlen setzte, dann aufstand und mit den Worten »Ich gehe zum Eingang der Höhle« hinausging.
»Ich will schnell zum Bach hinuntergehen und Wasser holen. Gib acht, dass das Fleisch nicht verbrennt.«
Bald kam die Indianerin mit zwei Blecheimern in den Händen zurück. Um ihre Schultern hing ein Köcher mit Pfeilen und ein Bogen. Als sie an Leonide vorbeigehen wollte, sah diese sie mit einem lieblichen Lächeln an. Rasch stellte Kionata die Eimer hin, neigte sich zu dem Kind nieder, ergriff sein Köpfchen mit beiden Händen und küsste ihm Stirn und Mund. Mit überwogender Zärtlichkeit sagte sie: »O, du mein einziges Glück, mein einziger Trost, was würde ich für dich wohl nicht tun!«
Darauf ergriff sie schnell die Eimer wieder und eilte auf dem Pfad zwischen den Felsstücken davon. Als sie das Letzte derselben erreicht hatte und in das Gras trat, blieb sie stehen und schaute ins Tal hinunter, ob sie ihren Geliebten entdecken würde, doch sie konnte ihn nicht sehen. Dann eilte sie durch das Gras zum Bach, füllte die Eimer und trat schnell den Rückweg an. Kaum hatte sie vierzig Schritte zurückgelegt, vernahm sie ein Geräusch hinter sich, blickte sich um und sah drei Indianer, die aus den Büschen an der anderen Seite des Baches durch das Wasser sprangen und auf sie zuliefen.
Mit dem ersten Blick, den sie auf sie warfen, stutzten alle drei, und der Vorderste, sie erkennend, rief mit wilder, frohlockender Stimme: »Kionata, bist du es, du Hündin, die mit dem Feind deines Volkes davongelaufen ist? Nun haben wir deine weiße Brut – nun soll sie sterben!«
Im selben Augenblick stürzten alle drei Männer auf die Indianerin zu. Diese aber flog wie ein gescheuchtes Reh vor ihnen hin, sprang hinter das erste Felsstück, das sie erreichte, und verschwand dahinter. Sie hatte im Laufen Bogen und Pfeile in die Hand genommen, streckte ihre rechte Hand seitwärts hinter dem Stein hervor und schrie den Indianern entgegen: »Zurück, zurück, oder es kostet euch das Leben!«
Diese hörten jedoch nicht auf ihre Drohung und rannten auf sie zu. Da schwirrte Kionatas Pfeil von ihrem Bogen und durchbohrte die Brust des Vordersten der Indianer, der zu Boden stürzte. Im nächsten Augenblick flog ihr zweiter Pfeil dem nächsten Indianer durch den Leib. Gleichzeitig aber vergrub sich das gefiederte Geschoß des letzten Mannes in Kionatas Seite. Sie riss es heraus und sank an dem Felsstück zusammen.
Da hatte der Mann sie erreicht und wollte mit triumphierendem Blick an ihr vorbeistürmen. Kionata aber schoss empor wie eine Tigerin, der man ihr Junges rauben will, erreichte den Indianer mit wenigen Sprüngen und stieß ihm das Messer ins Herz, sodass er ohne zucken tot zu Boden stürzte.
Dann sank sie selbst bei dem Toten nieder. Nacht legte sich über ihren Blick und ihre Sinne wirbelten. Nur der Gedanke an Leonide stand fest vor ihrer Seele. Wieder und wieder versuchte sie, sich zu erheben, bis es ihr endlich gelang, sich an einem der Steinblöcke aufzurichten. Sie wollte rufen, doch ihre Stimme versagte, sie fühlte den Tod nahen. Noch einmal musste sie ihr Kind sehen. Sie raffte alle Kräfte zusammen, presste ihre Hand fest auf die blutende Wunde und wankte von Stein zu Stein, bis sie das letzte Felsstück vor der Höhle erreichte.
Leonide sah sie kommen und rief ihr mit lieblicher Stimme zu: »Liebe, beste Mutter, das Fleisch ist genug gebraten.«
Im nächsten Augenblick sah sie jedoch Kionata mit gesenktem Haupt daher wanken. Zu Tode erschrocken sprang sie ihm entgegen und schrie: »Mutter, Mutter, was ist dir?« Dabei schlang sie ihre Arme um sie und blickte weinend und jammernd in ihre totfahlen Züge.
Kionata hatte keine Stimme. Sie taumelte bis in die Höhle und sank dort auf ihrem Lager zusammen, während ihr Kind sie unter herzzerreißenden Schreien mit Küssen und Tränen bedeckte.
Lange Zeit lag die Indianerin regungslos mit geschlossenen Augen da. Plötzlich schreckte sie auf, erhob sich mit Leonides Hilfe auf ihren Arm, sah dieser mit nochmals aufflammendem Blick in die Augen und sagte mit matter Stimme: »Der große Geist will mich nicht von sich lassen. Er will meine Seele zu meinen Vätern tragen.«
Hierauf ließ sie ihr Antlitz auf ihre Brust sinken und stützte sich gegen Leonide, um nicht wieder umzufallen. Nach einer Weile aber ermannte sie sich abermals, deutete in immer häufigeren Unterbrechungen und mit zunehmender Erschöpfung an, was geschehen war und auf welche Weise sie verwundet worden war, und stöhnte zuletzt noch mit schwacher Stimme: »Bleib deinem Schwur treu, damit deine Seele dereinst zu meiner komme, die ohne dich nie Ruhe finden würde.«
Leonide hatte keine Worte mehr. Sie hing verzweifelt am Nacken ihrer Mutter, jammerte laut und wandte all ihre Kräfte auf, um sie nicht wieder sinken zu lassen.
Plötzlich wurden Schritte hörbar. Im Sturmlauf kam Davis zwischen den Felsen hervorgeschossen und erreichte mit wildem Entsetzen die Seinen.
»Kionata! Um Gottes willen, Kionata!«, rief er verzweifelt aus, warf sich bei ihr nieder und schloss sie in seine Arme.
Die Indianerin aber hob ihren sterbenden Blick zu ihm auf und sagte die kaum noch hörbaren, abgebrochenen Worte: »Der große Geist … Leonide … Indianerin! Dann senkte sich ihr Haupt auf ihre Brust, ihre Arme fielen machtlos an ihr nieder und Davis hielt sie wie eine Leiche an seinem Herzen.
Fester und immer fester umfing sie der Mann in rasender Verzweiflung. Er bedeckte ihre bleichen, leblosen Lippen mit seinen Küssen. Selbst der Jammer und die lauten Klagen seines Kindes vermochten nicht, seine wirren Sinne zu ordnen und ihm das Geschehene klar zu denken. Doch die Lippen der treuen Lebensgefährtin wurden kalt. Der letzte Schein des Tages zeigte ihm das gebrochene Auge der Geliebten. Das Bild des Todes, das er im Arm hielt, drängte sich seinen Sinnen immer deutlicher auf. Er ließ Kionata auf das Lager sinken, hielt seinen Blick auf ihre noch im Tod schönen Züge geheftet und ein Strom von Tränen entquoll seinen Augen.
»Mein Kind, meine Leonide!«, waren die ersten Worte, die wieder über seine Lippen kamen. Mit verzweifelter Angst im Gesicht, als fürchte er, dass man ihm noch das letzte Lebensglück rauben könne, schloss er die Kleine an sein Herz.
Nur wenige Minuten reichten Davis hin, um sich zu sammeln und seine Lage zu überblicken. Es stand außer Frage, dass die Freunde der drei getöteten Indianer sie vermissen und suchen würden und dass sie an ihm und Leonide blutige Rache nehmen würden. Darum war keine Zeit zu verlieren und er musste schleunigst fliehen. Doch vorher musste er noch eine heilige Pflicht erfüllen: Er musste die irdischen Überreste der Dahingeschiedenen der Erde übergeben.
Ohne sich einen Augenblick zu gönnen, suchte er zwischen dem Gestein einen Platz für eine Ruhestätte, grub mit seinem Jagdmesser und seinen Händen ein Grab, bettete Kionata unter Tränen in die kühle Erde und rollte schwere Steine auf das Grab.
Dann sattelte er sein Pferd, schwang sich auf dessen Rücken und hob Leonide zu sich hinauf. Kaum hatte der Mond sein helles Licht über die Erde ausgebreitet, eilte Davis mit seinem Kind im Arm dem rauschenden Bach folgend aus dem Tal.
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